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Aber führt der Weg den Wandrer
An den Ort, den ich besinge, Kann er nicht dem Bangen wehren, Daß es ihm das Herz durchdringe. |
Lenau |
Der Weg nach Kossenblatt führt über Fürstenwalde, dessen freundlich erleuchtete Passagierstube wir bei Dunkelwerden erreichten.
Passagierstuben sind ein selten trügender Barometer für das Leben ihrer Stadt, und es hat eine Bedeutung, ob »Schwerins Tod« oder ein altes Postreglement über dem Sofa hängt. Die Fürstenwalder Passagierstube zeigte noch auf »schön Wetter«, und das Anheimelnde, was ihr überhaupt eigen war, wuchs im Hinblick auf eine Gruppe von älteren Männern, die, ein Glas Bier vor sich, am Sofatische Platz genommen hatten.
Es waren ihrer drei, zwei Bürger und der Wirt. Der letztere bestritt wie billig die Kosten der Unterhaltung und bemerkte mit freundlicher Würde: »Sie glauben nicht, was alles vorkommt, meine Herren. Bahnhof ist Bahnhof, und Post ist Post, aber die Menschen tuen immer, als ob Bahnhof und Post all ein und dasselbe wäre. Schreibt mir vorgestern ein Mann aus Dresden, er habe seinen Überzieher hier liegenlassen, ›über einer Stuhllehne‹, schreibt er. Ich lache und sage zu Spilleke, der jetzt die Post fährt: ›Spilleke‹, sag ich, ›wenn Sie rauskommen, fragen Sie doch auf 'm Bahnhof.‹ Er fragt auch, und am Abend ist der Überzieher hier. Wo war er gewesen? Über einer Stuhllehne, alles ganz richtig, meine Herrn, aber auf 'm Bahnhof. Und so geht es immer.«
Die beiden Zuhörer antworteten durch ein Gemurmel, das halb ihre Übereinstimmung mit dem Sprecher, halb ihre Mißbilligung des Dresdners ausdrücken sollte. Ich aber, um auch meinesteils jede Gemeinschaft mit dem letzteren abzulehnen, fuhr mit einer Art Ostentation in den neben mir liegenden Überzieher, empfahl mich sehr artig und stieg in den bereits draußen stehenden Postwagen, der mich noch drei Meilen weiter, in das Land Beeskow-Storkow hinein führen sollte.
Gegen Mitternacht war ich in dem Städtchen Beeskow und schlief hier in einem alten Hause, dessen Hinterwand von einem Stück Stadtmauer gebildet wurde. Zugleich erfuhr ich en passant, daß dies Haus ein Ursulinerinnenkloster gewesen sei und dann und wann von nicht Ruhe habenden Äbtissinnen und Nonnen besucht werde. Auch der übliche »unterirdische Gang« wurde mir nicht erlassen. Ich war aber zu müde, um dadurch besonders gestört zu werden, und schlief, bis die Sonne ins Zimmer schien. Eine Stunde später schlenderte ich durch die Stadt.
Beeskow hat zwei Sehenswürdigkeiten: das Amt und die Kirche.
Das Amt, auf einer Spree-Insel unmittelbar vor der Stadt gelegen, war in alter Zeit ein Schloß, dann ein »bischöfliches Haus«, das die Bischöfe von Lebus zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts erwarben und gelegentlich auch bewohnten. Viele der noch jetzt vorhandenen alten Mauern reichen bis in das fünfzehnte Jahrhundert zurück, wo das alte Schloß ausbrannte. Dies erwies sich 1828, als wegen Baufälligkeit das dritte Stockwerk abgetragen wurde. An vielen Stellen fand man doppeltes Mauerwerk. Das innere zeigte die Bischofsmütze, während das dahinter gelegene, ältere Mauerwerk mit Moos und Asche bedeckt war. Es waren Überreste des alten Schlosses. In den untern Stockwerken steckt noch einzelnes davon.
Die Liebfrauenkirche, der wir uns jetzt zuwenden, existierte schon drei Jahrhunderte lang, als die Lebuser Bischöfe von Lebus und Fürstenwalde herüberkamen, und hat dann die geistlichen Herrn um ebenso lange Zeit überlebt. Es ist eine der schönsten Kirchen in der Mark, und der Efeu, der sich bis in die Spitzbogen emporrankt, scheint zu wissen, was er an ihr hat. Der massive Turm geht in seinem zweiten Stockwerk sehr gefällig aus dem Viereck ins Achteck über, und eine pyramidenförmige Spitze schließt den ganzen Bau gefällig ab.
Eine zweiundachtzigjährige Küstersfrau führte mich, und Großes und Kleines, Andacht und Stadtklatsch flossen gleichen Tones über ihre Lippen. Sie zeigte mir den Gekreuzigten und den einen Schächer, die beide »wegen Unschönheit« in einen Seitenraum geschafft worden waren, und erklärte mir die Grabsteine vorm Altar. Der eine war hellbraun und sehr abgetreten. »Das ist unser Pfefferkuchenmann«, sagte sie ruhig, und wirklich, das alte Ratsherrnbild konnte nicht treffender bezeichnet werden. Danach stiegen wir in einen Keller, drin dieselbe Küstersfrau während der Franzosenzeit ein tiefes Loch gegraben und die Kirchengüter versteckt hatte. »Wir fanden beim Graben nichts als Knochen und Schädel.« Sie sagte nicht »Knochen und Schädel von heimlich Verscharrten«, aber sie dacht es. Es gehört das mit zur Volkspoesie.
Dann kletterten wir wieder aufwärts, eine hohe schmale Treppe hinauf, und befanden uns auf einer Empore, die man zu einer Art Kunstkammer umgeschaffen hatte. Allerhand Raritäten waren hier ausgestellt. Aber es war doch schon der Übergang von der Kunstkammer zur Rumpelkammer. Unter andern entdeckt ich ein Luther-Portrait, dessen kurze Geschichte mich freilich mehr interessierte als das Bild selbst. Reisende Schauspieler, deren »erster Liebhaber« es gemalt hatte, hatten es auf Groschenlose ausgespielt, und der Gewinner war es durch »Schenkung« an die Kirche wieder losgeworden. Daneben hingen die lebensgroßen Bildnisse dreier Brüder, die vor längerer oder kürzerer Zeit in Stadt und Kirche geglänzt hatten. Das Ratsherrnbild trug folgende Inschrift:
Der Bürger Dankbarkeit und der Zuhörer Pflicht
Hat uns drei Treueren dies Denkbild aufgericht'. Dort jenes graue Paar stirbt in der Kirche Würde, Mich macht das Rathaus alt und schwerer Zeiten Bürde. Was jene bei der Kirch den Seelen Guts gebracht, Das nahm ich bei der Stadt, nach Menschen Treu, in acht. Urteilt uns nach dem Ambt in dem geführten Leben, So wird ein gutes Lob man uns im Tode geben. |
Von Beeskow nach Kossenblatt sind noch anderthalb Meilen. Ein leichter Wagen nahm mich auf, und in brennender Sonnenhitze macht ich den Weg. Die Landschaft war geradezu trostlos, und jedes kommende Dorf erschien noch ärmer als das voraufgegangene. Mahlender Sand und Kiefernheide, dazwischen Brach- und Fruchtfelder, die letzteren so kümmerlich, daß ich meinte die Halme zählen zu können.
Aber der reizlose Weg wurde mir durch eine Begegnung wert. Etwa eine halbe Meile vor Kossenblatt bemerkt ich einen Knaben, der auf einem Feldstein am Wege saß und augenscheinlich sehr ermüdet war. Er mochte zwölf Jahr alt sein. Ich ließ halten, und es entspann sich folgendes Gespräch zwischen ihm und mir:
»Willst du mit?«
»Wo wüllen Se denn hen?«
»Nach Kossenblatt.«
»Da will ick ooch hen.«
Und nun stieg er auf und setzte sich auf den Rand des Wagens. Mich beschäftigte der kleine Vorfall, weil er mir so recht wieder jene mißtrauensvolle Vorsicht zeigte, die den märkischen Stamm zum Guten und Schlechten hin so sehr charakterisiert. Er beantwortete meine Frage durch eine Gegenfrage, und erst als ich diese meinerseits zu seiner Zufriedenheit erledigt hatte, nahm er an, was ihm freundlich geboten war.
In Kossenblatt angekommen, ließ ich an einer Stelle halten, wo die Sehenswürdigkeiten des Dorfes: das Herrenhaus (jetzt Amtshaus), das Barfus-Schloß und die Kirche, dicht beisammenliegen.
Kossenblatt war immer ein reicher und ausgedehnter Besitz. In sumpfiger Niederung gelegen (Cossinbloth heißt »Krummensumpf«), unterschied es sich in alter Zeit schon vorteilhaft von den Sanddörfern der Höhe, aber erst von 1581 ab hat es eine Geschichte. Diese teilte sich seitdem in drei Epochen: in eine Oppensche, eine Barfussche und eine königliche Zeit.
Über die Oppensche Zeit gehen wir schnell hinweg. 1581 kam der brandenburgische Oberkammerherr, Georg von Oppen, in Besitz von Kossenblatt, bei dessen Familie es durch drei Generationen hin blieb. Bis 1699. Vom »Schloß« existierte damals noch keine Spur, vielmehr bewohnten die Oppen das »alte Herrenhaus«, dessen Kellergewölbe bis diesen Augenblick vorhanden sind und eine Art Sehenswürdigkeit des im übrigen völlig modernen Amtshauses bilden. Die hohen, rundbogigen Kellergewölbe sind aus mittelgroßen, unbehauenen Feldsteinen aufgeführt, und Sachverständige pflegen hervorzuheben, daß die Baumeister damals einen andern, rascher fest werdenden Mörtel benutzt oder die Gewölbe jahrelang gestützt haben müssen. All dies geht bis in die Oppensche Zeit zurück, vielleicht noch weiter. Wir lassen aber diese Rundbogenfundamente, samt einer Anzahl alter, ebenfalls der Vorgeschichte Kossenblatts angehöriger Bilder, und wenden uns nunmehr seiner eigentlichen historischen Zeit zu, die mit Feldmarschall von Barfus beginnt.
Im Jahr 1699 kaufte Hans Albrecht von Barfus, wie bereits in dem Kapitel »Prädikow« erzählt, die Herrschaft Kossenblatt und zahlte dafür die für die damalige Zeit ziemlich beträchtliche Summe von 32 000 Talern und 100 Dukaten Schlüsselgeld. Das Oppensche Herrenhaus, das er vorfand, genügte ihm nicht, und er ging das Jahr darauf (1700) an die Aufführung eines Schlosses. Er starb aber drüber hin und hat die Räume desselben nie bewohnt.
Erst seine Witwe, Eleonore geborene Gräfin von Dönhoff, führte den Schloßbau glücklich hinaus. Sie war eine stolze Frau, und es geht die Sage, daß sie bemüht gewesen sei, ihrem einzigen überlebenden Sohne sein Erbe nach Möglichkeit zu schädigen und zu schmälern. Sie ließ zu diesem Behuf einen holländischen Baumeister kommen, befahl ihm, unterhalb der Keller des Schlosses einen zweiten Keller zu graben und zu wölben, und tat dann alles hinein, was sie an Gold und Kostbarkeiten besaß. Danach gab sie Befehl, die Gruft in ihrer Gegenwart zu schließen, und nahm dem Baumeister einen Eid ab, die Stelle niemandem zu verraten. Voll Zweifel aber, ob er den Eid auch halten werde, zog sie das Sichere vor und ließ ihn auf der Rückreise nach Holland aus dem Wege räumen. Der »Schatz«, so heißt es weiter, war nun glücklich beiseite gebracht, indessen die Bilder und Möbel waren noch da, die ganze Einrichtung eines reichen Schlosses. Auch das mußte fort. Als sie fühlte, daß es mit ihr zum Letzten gehe, befahl sie, den gesamten Hausrat auf den Schloßhof zu tragen, und vergoldete Stühle und Tische, Spiegel und Konsolen, Diwans und Kommoden wurden nun zu einer Pyramide aufgetürmt. In einem Rollstuhle ließ sie sich dann an die Tür des Gartensaales fahren, gab Ordre, zwei Fackeln anzulegen, und starrte lang und befriedigt in die hoch aufschlagende Flamme. Sie fühlte das Feuer mehr, als daß sie es sah, denn die helle Mittagssonne stand über dem Schauspiel. Als alles niedergebrannt war, saß sie tot in ihrem Rollstuhl.
Das war 1728, und ihr einziger Sohn übernahm Kossenblatt. Aber nur acht Jahre blieb es in seinen Händen. 1736 erstand es König Friedrich Wilhelm I. und schlug es zu seiner Herrschaft Königs Wusterhausen. Über die Umstände, die diese Veräußerung begleiteten, sprech ich weiterhin.
Drei Generationen waren seit jenem Tage vergangen, da, während der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, trat wieder ein Barfus in das alte Barfus-Schloß ein. Aber freilich nur als Gast. War es romantischer Herzenszug oder Pietät gegen die Stätte, wo sein Ahnherr gelebt und einen Denkstein seines Ruhms und seines Reichtums hinterlassen hatte, gleichviel, ein Enkel des Feldmarschalls hatte das Ansuchen an König Friedrich Wilhelm IV. gestellt, einen Sommer lang in Schloß Kossenblatt residieren zu dürfen, und diesem Ansuchen war nachgegeben worden.
Ein Wagen hielt vor der Steintreppe, die rostigen Angeln gaben halb widerwillig nach, und der nachgeborene Barfus, selber ein General, stand als Fremdling in dem wüsten und weitschichtigen Schloß seiner Ahnen. Niemand war mit ihm als seine Frau und deren Dienerin. Er bezog ein paar Eckzimmer, und das Nötigste an Hausrat wurde herbeigeschafft. Aber es war nicht möglich, den öden Ort in einen wohnlichen zu verwandeln. Der Regen fuhr durch die morsch gewordenen Fenster, und selbst das heitere Sonnenlicht war eine Pein, denn ungemildert fiel es durch die großen Fenster und sprang heiß und blendend von den kahlen weißen Wänden zurück. Zu dem Bedrückenden der Öde gesellte sich der Mangel an allem, was das Leben an Unterhalt erfordert. Die Stadt war weit, und das Dorf war arm. Die Frauen litten schwer. Nur das romantische Herz des Generals trug alles, was ihm Schloß Kossenblatt an Entbehrungen auferlegte, mit Freudigkeit. Ja, es hob ihn mehr, als daß es ihn niederdrückte. Er war nicht nach Schloß Kossenblatt gekommen, um zu bankettieren; es lag ihm nicht an lustiger Gesellschaft und an lautem Gespräch über den Tisch hin; es lag ihm an stiller Zwiesprach mit denen, die nicht mehr waren. Ihm waren diese weiten Räume nicht öde, und wenn er nachts oder am hellen Mittage sie durchschritt, vernahm er ein Flüstern und stand still, ob er's erlauschen könne. Vergeblich hingen die Blicke seiner Frau an ihm und baten um Rückkehr zu den Menschen.
Endlich kam Hülfe.
Es war Hochsommer, und die Hitze des Tags hatte den General in die Wald- und Wiesengründe geführt, die den Kossenblatter See nach Süden hin umziehen. Es wurde drückend schwül, und um die vierte Stunde brach das Unwetter los. Als die Donner heraufzogen, war es, als rollten schwere Wagen durch alle Säle und Korridore. Einzelne Windstöße fuhren gegen das Schloß, und die entsetzten Frauen hörten jetzt, wie nah und fern und oben und unten ein gespenstisches Klappen von Fenstern und Türen begann. An hundert Stellen zugleich wollte der Böse herein. Das Blitzen wurd immer heftiger, und Herrin und Dienerin flohen aus ihren Zimmern in den langen schmalen Korridor hinaus, der auf den Schloßhof niederblickt. Der Flügel gegenüber stand wie in Nacht. Aber plötzlich war es, als fiel' ein Feuer vom Himmel, und der Schloßhof stand wie in Flammen, und die Dienerin schrie laut auf: »Dort sitzt sie!«... Es war ihr, als habe sie die alte Reichsgräfin gesehen, im Rollstuhl, unter der Balkontür und in die Flammen des Hofes starrend.
Dieser Nachmittag entschied.
Die Gäste verließen Schloß Kossenblatt, und alles war wieder wie zuvor. Spinnen und Ameisen begannen ihre stille Wirtschaft, und niemand anders sprach ein als der Wind im Kamin.
Aber aus der Geschichte unserer Tage haben wir noch einmal um anderthalb Jahrhunderte zurückzugehen in die Tage des letzten Grafen Barfus und in aller Kürze jener dritten Epoche Schloß Kossenblatts zu gedenken: der Zeit Friedrich Wilhelms I.
Im Jahre 1735 kam König Friedrich Wilhelm I. auf einer Jagd von Königs Wusterhausen aus in die Kossenblatter Gegend, sah das schöne Schloß und forderte den Besitzer auf, ihm seine Besitzung zu verkaufen. Als dieser Antrag abgelehnt wurde, wurden nichtsdestoweniger alle Mittel in Bewegung gesetzt sich des ganzen Güterkomplexes zu versichern. Es fand sich auch bald ein Weg, da er sich durchaus finden sollte. Der Verlauf war folgender. Graf Barfus hatte dem Unterhändler des Königs gegenüber von 180 000 Talern gesprochen, nur um loszukommen, in der festen Voraussicht, daß diese hohe Summe nie bewilligt werden würde, worin er auch recht behielt. Vielmehr begnügte sich der König damit, den Grafen wissen zu lassen, daß der Preis seiner Güter, nachdem er überhaupt einmal auf den Verkauf derselben eingegangen sei, nicht länger einseitig durch ihn selbst bestimmt werden könne. Es geböte sich jetzt eine Taxierung. Hiernach kam denn auch im Januar 1736 ein Kauf zustande, ohne daß die belehnten Agnaten befragt worden wären. Der König bewilligte 125 000 Taler, schlug Kossenblatt zur Herrschaft Königs Wusterhausen und überwies es, gleich nach der Übergabe, seinem zweiten Sohne, dem Prinzen August Wilhelm. Ob dieser je dort residiert hat, ist zweifelhaft. Der Prinz bevorzugte das in Nähe seiner Garnison Spandau gelegene Schloß Oranienburg und begnügte sich damit, seinen Namenszug A. W. an dem großen Frontbalkon des ehemaligen Barfusen-Schlosses anbringen zu lassen.
Prinz August Wilhelm verschmähte Kossenblatt, aber der König selbst scheint während seiner letzten Lebensjahre viele Wochen und Monate daselbst zugebracht zu haben. Wenn der Ausdruck gestattet ist: er saß hier seine Gicht ab, und Kossenblatt wurde der Hauptschauplatz jener Kunstübungen, deren Resultate die bekannte Inschrift tragen: »In tormentis pinxit.« Außer um die »Kunst«, der er hier oblag, kümmerte sich König Friedrich Wilhelm I., wenn er in Kossenblatt war, vor allem auch um die Kirche. Zumal um die Predigt. Er war nicht leicht zufriedenzustellen. Ich finde darüber folgendes: »Am 13. Sonntage nach Trinitatis im Jahre 1736 hat der König in der Kirche zu Kossenblatt eine Predigt von dem damaligen Prediger in Wulfersdorf (stellvertretend für den hiesigen, welcher krank gewesen ist) gehört, die seine höchste Unzufriedenheit erregt hat. Und da er nicht lange vorher mit einer in Rheinsberg gehörten Predigt ebenfalls unzufrieden gewesen, so haben diese beiden Prediger nach Berlin kommen und über vorgeschriebene Texte predigen müssen. Auch hat der König einen Cabinetsbefehl erlassen, infolgedessen sämtliche Prediger aus der Altmark, Prignitz, Mittel-, Ucker- und Neumark durch das Konsistorium nach Berlin berufen worden sind, ›um ein Monitorium und Instructorium zu vernehmen‹. Am 23. Sonntage nach Trinitatis (9. November) 1738 ist der König wiederum mit einer Predigt des damaligen hiesigen Predigers unzufrieden gewesen und hat auf einen ihm gemachten Vorschlag den Prediger aus Teupitz kommen lassen. Aber auch dieser hat ihn nicht zufriedenstellen können.«
Nach diesen historischen Vorbemerkungen schicken wir uns zu einem Besuche des Schlosses selber an.
Es wirkt im Näherkommen nicht ungünstig, und erst die Rückseite des Baues zeigt uns seine Schwächen: zu lange Flügel und einen zu schmalen Schloßhof. Ebendiese Rückseite hat auch den Blick auf die Spree und eine kümmerliche dahinter gelegene Baumanlage, die den Namen »Lustgarten« führt. In diesem wurde der König in seinem Rollstuhl auf und ab gefahren, und die zugeschrägte Doppelrampe, die sich bis diesen Tag in Hufeisenform an die Schloßflügel legt, zeigt am deutlichsten, mit welcher Sorglichkeit all und jedes eingerichtet war, um die schlechte Laune des von Gicht und Wassersucht geplagten Königs nicht noch schlechter zu machen.
Wir haben jetzt das Schloß umschritten und treten ein. Der Eindruck, den es in seinem Innern macht, ist der des Stattlichen, aber zugleich der höchsten Trübseligkeit. Es ist ein imposantes Nichts, eine würdevolle Lehre – die Dimensionen eines Schlosses und die Nüchternheit einer Kaserne. Aber erst in den Zimmern der Beletage erreicht die Trübseligkeit ihren höchsten Grad. Hechtgrau gestrichene Türen tragen allerhand Inschriften in gelber Ölfarbe, und den Korridor des linken Flügels hinunterschreitend, lesen wir nach der Analogie von Kasernenstube Nr. 3 oder 4: »Ihro Hoheit Kronprinzessin«, »Ihre Hoheiten Prinzessin Ulrike und Amalie«, »Ihre Königlichen Hoheiten Prinz Heinrich und Ferdinand«, »Oberhofmeisterin«, »Fräuleinskammer« etc. Dazwischen immer »Garderobezimmer«, aber, sooft wir öffnen, alles in dieselbe weiße Tünche getaucht.
Wir kehren nun aus dem ersten Stock in das Erdgeschoß zurück. Hier wohnte der König, und mancherlei erinnert noch an seine Neigungen und seine Tätigkeit. In dem großen Eckzimmer des linken Flügels sind die Wände bis zu beträchtlicher Höhe mit kleinen holländischen Kacheln bekleidet: glasierte Täfelchen mit blauen Figuren darauf. Dies war ersichtlich das Staats- und Empfangszimmer, denn über dem Kamine hängt ein Portrait Ludwigs XIV. in weit nachschleppendem Hermelin. Die Farben des Bildes sind halb abgefallen, aber auch der haftengebliebene Rest ist immer noch das einzige, was in dem ganzen weiten Schloß an Kunst erinnert und an Genius mahnt.
In demselben Staats- und Empfangszimmer befindet sich noch ein Dutzend anderer Portraits: die in tormentis gemalten Bilder des Königs selbst. Das Mildeste, was man von ihnen sagen kann, ist: sie verleugnen die Stunde ihres Ursprungs nicht. Freilich haben auch sie ihre Verehrer gefunden. Einige unbedingte Friedrich-Wilhelm-Bewunderer haben die ganze Frage auf das Gebiet der Energie gespielt und von diesem Standpunkt aus mit einem gewissen Rechte gesagt: »So malte ein Mann, der nicht malen konnte. Und so malte er unter Schmerzen und – jeden Tag ein Bild.«
Vor diesem Raisonnement verneigt sich die Kritik.
Alle diese Bilder des Königs rühren aus den Jahren 1736, 1737 und 1738 her. Es sind sämtlich Portraits (Bruststücke), und zwar einundvierzig an der Zahl, von denen sich zweiunddreißig in den Zimmern, neun aber im Korridor befinden. Alle in Rahmen von geheiztem Eichenholz. So häßlich die Bilder sind und so unfähig, ein künstlerisches Wohlgefallen zu wecken, so wecken sie doch immerhin ein gewisses künstlerisches Interesse. Der Hang zum Charakteristischen ist unverkennbar. In dem einen Zimmer hängen zum Beispiel zwei seiner Judenköpfe nebeneinander. Man sieht deutlich, daß ihm der erste Kopf nicht jüdisch genug erschienen war und daß er sich zum zweitenmal an die Arbeit machte, um den nationalen Typus entschiedener herauszuarbeiten. Einmal ist ihm sogar ein hübscher Kopf geglückt: die Frau seines Ersten Kammerdieners. Hübsch cum grano salis.
Außer den Bildern des Königs, die neuerdings, wenn ich nicht irre, nach Königs Wusterhausen hinübergeschafft worden sind, bewahrt Schloß Kossenblatt auch die Staffelei, worauf die Bilder gemalt wurden. Daneben einen Eichentisch und um den Tisch herum eine Anzahl schwerer Holzstühle nach Art unserer jetzigen Gartensessel. Alles solid und primitiv.
Wir durchschnitten endlich auch den Rest des Erdgeschosses und fanden seine Räume, wie wir die des ersten Stockes gefunden hatten: groß, öde, weiß. Dazu hohe Fenster und hohe Kamine. Sie hatten bloß ein charakteristisches Zeichen, und dieses Zeichen mehrte nur unser Grauen. In jedem Zimmer lag ein toter Vogel, in manchem zwei, auch drei. In Sturmnächten hatten sie Schutz gesucht in den Rauchfängen, und immer tiefer nach unten steigend, waren sie zuletzt wie in eine Vogelfalle hineingeraten.
Und hier vergebens einen Ausweg suchend, hin und her flatternd in dem weiten Gefängnis, waren sie verhungert.
Spät am Abend mahlte sich unser Fuhrwerk wieder durch den Sand zurück. Es war kühl geworden, und der Sternenhimmel gab auch dieser Öde einen poetischen Schimmer. Ich sah hinauf und freute mich des Glanzes. Aber in die heitern Bilder, die ich wachzurufen trachtete, drängte sich immer wieder das Bild von Schloß Kossenblatt hinein. Die weißen Wände starrten mich an, ich hörte das gespenstische Türenklappen, und in dem letzten Zimmer des linken Flügels flog ein Vögelchen hin und her und stieß mit dem Kopf an die Scheiben. Sein Zirpen klang wie Hülferuf.
Und inmitten dieses Hülferufes wechselte das Bild, und das Schloß stand in Flammen, und unsichtbare Hände trugen es ab und warfen es in das Feuer.