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4. Der Gesundbrunnen

Hier an der Bergeshalde
Verstummet ganz der Wind –
Die Zweige hängen nieder.
Th. Storm

»Der Freienwalder Gesundbrunnen liegt eine kleine Viertelmeile von der Stadt gen Süden hin, in einem von ziemlich hohen Bergen eingeschlossenen, anmutigen Tal; die Berge sind mit Eichen, Buchen, Fichten, auch niedrigem Baum- und Strauchwerk bewachsen und haben viele gute Kräuter.« So schrieb Thomas Philipp von der Hagen, dem wir die erste Beschreibung Freienwaldes verdanken, vor etwa hundert Jahren, und wir wüßten nicht, was wir an dieser Darstellung zu ändern hätten.

Aber wenn nicht das Brunnental selbst, so hat doch der Weg hinaus seinen Charakter verändert. Was damals eine »Allee« war, ist jetzt eine städtische »Straße« geworden, und hinter den schönen Lindenbäumen, die nach wie vor den Weg einfassen, erheben sich, des Schlosses und Schloßgartens zu geschweigen, allerhand Villen, Hôtels und Gärten, aus denen hervor im Mai die weißen Blüten und im September die roten Äpfel lachen. Der ganze Weg zum Brunnen hinaus der einen oder andern unserer Tiergartenstraßen nicht unähnlich!

Dieselben Hügelreihen, die den Weg zum Brunnen bilden, bilden schließlich auch das Brunnental selbst, das nichts anderes ist als eine etwas erweiterte Talschlucht, ein Kessel, zu dem sich der Weg verhält wie eine schmale Straße zu einem breiten Platz, auf den sie mündet.

Es ist ein Septembernachmittag. An Linden und Sommerhäusern, zuletzt an der reizend gelegenen Pappenmühle vorbei, über deren stillen Teich die Schwäne ziehn, haben wir unsern Gang von der Stadt aus gemacht und unser Ziel: den Gesundbrunnen, erreicht. Die Saison ist schon vorüber; aber die Quellen sprudeln weiter, und die Nachmittagssonne steht ruhig über dem Tal und wärmt mit ihren Strahlen die schon herbstesfrische Luft. Ein Kellner, der die traurige Verpflichtung hat, seine Zeit hier abzuwarten, bis die de facto bereits beendigte Saison auch de jure geschlossen sein wird, begrüßt uns, wie der Gefangene den Schmetterling begrüßt, der an seinem Fenster vorüberfliegt. Wir erschienen ihm wie Boten aus dem Lande seiner Sehnsucht. Jedenfalls ließ seine Willfährigkeit nichts zu wünschen übrig, und gemeinschaftlich anfassend, ward an der sonnigsten Stelle des Gartens ein Kaffeeplatz ohne Zwang und Mühe arrangiert. Die Zusammensetzung geschah aus den üblichen Requisiten: einem weißgestrichenen Tisch mit einem Riß in der Mitte und einem Stuhl mit bereits schräg gedrückter Lehne.

Der Kaffee kam, die Sonne labte uns, alles war frisch und erquicklich; nur eines ging wie ein Schatten über das heitre Bild: der Kellner stand wie angewurzelt an unserem Tisch. Ich hätt ihn wegschicken können, aber auch das erschien mir untunlich. Es war ersichtlich, er sehnte sich nach dem süßen Laut menschlicher Stimme, einer Stimme, die ihn vergewissern konnte: »Kroll lebt noch, und das Odeum ist kein leerer Wahn.« Ich ließ ihn also stehen und führte eine jener Unterhaltungen, die man im Lauf der Jahre, ohne Wissen und Wollen, führen lernt und die, einen gewissen öden Mittelkurs innehaltend, dem Angeredeten das Recht gönnen, weiterzusprechen, aber zugleich durchklingen lassen: er täte besser, auf dieses Recht zu verzichten. Dieser Verzicht trat auch endlich ein, und ich war allein.

Ich hatte einen prächtigen Platz inne, der Zufall war mir günstig gewesen, und dem sogenannten Kapellenberg, der das Tal schließt, den Rücken zukehrend, überblickte ich die ganze Anlage des Brunnens: den Park, die Gartenpartien, die Baulichkeiten. Diese Baulichkeiten, neuerer Anfügungen zu geschweigen, gehören drei verschiedenen Regierungszeiten an und werden danach genannt. Man unterscheidet bis diesen Tag einen kurfürstlichen, einen altköniglichen und einen neuköniglichen Flügel. An Schönheit lassen alle drei gleichviel zu wünschen übrig; die »Kolonnade« jedoch, die sich, unserer ehemaligen Stechbahn nicht unähnlich, unter diesen Flügeln hinzieht, gibt, neben manchem andern, dem Ganzen einen aparten und zugleich gemütlichen Charakter und veranschaulicht uns auf einen Blick die Geschichte der verschiedenen Epochen des Bades überhaupt.

Diese Geschichte ist in kurzem die folgende.

Wann zuerst des Bades Erwähnung geschieht, ist nicht mit voller Gewißheit festzustellen. Leonhart Thurneysser, der bekannte Alchimist, schrieb zwar schon um 1572: »Zwischen Freienwalde und Neustadt, am Gebirge, ist ein Flüßlein, das führt Rubinlein mit sich, gar klein, aber schön an Farbe« – es bleibt indessen zweifelhaft, ob unter diesem Flüßlein das Quellgewässer des Freienwalder Gesundbrunnens zu verstehen ist. Wenigstens fehlen jetzt die »Rubinlein«, die kleinen wie die großen.

Es scheint, daß man in alten Zeiten die Quelle einfach in die Talschlucht ausströmen und ihren Weg sich suchen ließ. Nur bei den armen Leuten der Nachbarschaft genoß der »Brunnen« schon damals eines gewissen Ansehns, und man trank ihn als ein bewährtes Mittel gegen hartnäckige Fieber. Was dabei wirksam war, ist schwer zu sagen. Auch Augenkranke kamen. Sie legten von dem braunen Ockerschlamm auf das Auge und sahen nach kurzer Zeit wieder klarer und besser. Schwerlich war es der braune Eisenschlamm als solcher, der so vorteilhaft wirkte, vielmehr die anhaftende Flüssigkeit, die Eisenvitriol enthielt. Gehört doch der Zinkvitriol (eine Art Geschwisterkind des obengenannten Eisensalzes) bis diese Stunde noch zu den bevorzugten Mitteln der Augenheilkunde.

Jedenfalls war der Ruf und Ruhm des Freienwalder Quells allerlokalster Natur, bis 1684 die Kunde nach Berlin und bis in das kurfürstliche Schloß drang, daß in Freienwalde ein »mineralisches Wasser« entdeckt worden sei. Einige mit Fieber und Lähmung Behaftete seien gesund geworden. Der Kurfürst, bereits in seinen alten Tagen und von der Gicht schwer geplagt, schöpfte Hoffnung, daß ihm vielleicht das eigne Land gewähren möchte, was ihm so viele fremde Heilquellen bis dahin versagt hatten, und er schickte seinen Kammerdiener und Chemikus, den als Entdecker des Phosphors berühmt gewordenen Kunckel, nach Freienwalde, um sich von der mineralischen Kraft des neu entdeckten Quells zu überzeugen. Der Bericht lautete günstig, und noch im selben Jahre trafen der Kurfürst und seine Gemahlin als erste Brunnengäste im Bade zu Freienwalde ein.

Nun brachen glänzende Tage an. Der Ruf von der Heilkraft des Brunnens verbreitete sich bis in ferne Gegenden, und im nächsten Jahre, 1685, fanden sich 1500 Gäste in Freienwalde zusammen. Freilich waren es nicht samt und sonders Brunnengäste. »Der Kurfürst, der auch in diesem Jahre zur Kur erschienen war, ließ zehn Wispel Getreide verbacken und die Brote samt einer Geldbeisteuer wöchentlich zweimal verteilen« – woraus genugsam zu ersehen ist, daß die kurfürstliche Gegenwart allerhand armes Volk herbeigelockt hatte, nur um von der Mildtätigkeit des Fürsten Nutzen zu ziehen. 1686 wurde das erste und älteste »Brunnenhaus« gebaut, dasselbe, das unter dem Namen der »kurfürstliche Flügel« bis diesen Tag existiert. Dazu kamen allerhand Vorkehrungen und Einrichtungen: zwei Betstunden täglich, zwei Jahrmärkte die Woche; eine Brunnenkapelle und ein Brunnenkoch. Was diesen letzteren angeht, so hatte er die Verpflichtung, für anderthalb Silbergroschen ein »gutes Mittagbrot« zu liefern. Freilich nur für die Armen. Der Kurfürst tat in allem, was er konnte. Das nächste Jahr machte er seinen letzten Besuch.

Unter der Regierung seines Nachfolgers, König Friedrichs I., hielt sich Freienwalde im wesentlichen auf der Höhe seines Ansehens. Die Heilkraft des Brunnens stand noch in so gutem Rufe, daß das Wasser desselben behufs mineralischer Bäder für den König nach Altlandsberg und Niederschönhausen gebracht wurde. 1704 und die zwei folgenden Jahre kam er selbst und bezog 1706 das »Schloß am Brunnen«, das schon in dem vorhergehenden Jahre (1705) von dem berühmten Andreas Schlüter für ihn aufgeführt worden war. Dieses Schloß, wennschon ein bloßer Holzbau, war ein prächtiges, zwei Stock hohes Gebäude, dessen oberster Stock aus vierundsechzig Säulen bestand, auf denen alsdann das Dach ruhte. Eine Schilderung, die ziemlich phantastisch klingt, mit der es aber doch seine Richtigkeit hat. Bekmann, in seiner »Beschreibung der Kurmark Brandenburg«, gibt, Teil I, Seite 595, eine sehr hübsche Abbildung dieses Sommerschlosses, das mit seiner Fülle leichter, graziöser Säulen von äußerst malerischer Wirkung gewesen sein muß. Im obersten Stock war ein Speisesaal. Dies Schlütersche Bauwerk hatte nicht langen Bestand. Regengüsse unterwühlten es schon 1707, so daß der König es rasch verlassen und seine Rückkehr beschleunigen mußte. Ist dieser Bericht zuverlässig, und es liegt kein Grund vor, dies zu bezweifeln, so wirft der hier erzählte Vorgang ein interessantes und mancherlei erklärendes Licht auf die beinahe gleichzeitigen Vorkommnisse in Berlin. 1706 stürzte am Schloß der von Schlüter erbaute Münzturm ein, und von da ab begann die siegreiche Kabale seiner Gegner. Das Verfahren gegen Schlüter ist immer als hart und ungerecht verurteilt worden. Bringt man nun aber andererseits in Anschlag, daß fast unmittelbar darauf, im Sommer 1707, das Münzturm-»Malheur« sich in Freienwalde wiederholte, so erscheint das harte Verfahren gegen Schlüter um vieles verzeihlicher. Die Kabale bleibt verwerflich, aber der König urteilte nach dem Augenschein. (Neue Arbeiten Professor Adlers haben aus den damaligen Berliner Bauakten ohnehin dargetan, daß Schlüter, bei all seiner Größe und Genialität, doch keineswegs schuldlos war und daß er in allem, was konstruktive Kenntnis angeht, hinter seinem ihm sonst in keiner Weise ebenbürtigen Rivalen Eosander von Göthe zurückblieb.) 1722 ward es unbewohnbar gefunden und abgebrochen.

Schon während der letzten Regierungsjahre des ersten Königs hatte das Bad an Ansehen verloren; unter seinem Nachfolger, dem »Soldatenkönig«, sank es mehr und mehr. Ein glückliches Ohngefähr aber wollt es, daß im Jahre 1733 einige von den allerlängsten Potsdamer Grenadieren ihre Gesundheit daselbst wiederfanden, und von diesem Augenblick an war das Bad zu Freienwalde dem Könige bestens empfohlen. Ein neuer Flügel, der altkönigliche, wurde gebaut, die Quellen erhielten eine neue Fassung, und über der bedeutendsten derselben ward ein auf acht Säulen ruhendes, natürlich hölzernes Brunnenhaus errichtet das den stolzen Namen »Tempel« führte. Seine Inschrift aber lautete:

Steh stille, Wanderer, betrachte diese Quellen,
Sie helfen wunderbar in vielen Krankheitsfällen.
Eh du von dannen gehst, gedenk an deine Pflicht,
Sei dankbar gegen Gott, vergiß der Armen nicht.
Hast du dies Haus und Bad bewundernd angeschaut
Und fragst, warum es denn nach Tempelart gebaut –
So wisse, Gott ist ja der Segensquell allein,
Darum muß unser Herz auch hier sein Tempel sein.

Wie der unbekannte Verfasser diese letzte Zeile hat aufrechthalten wollen, ist schwer einzusehen. Je mehr das Herz ein Tempel, desto weniger nötig wurde dieser Holzbau. Gleichviel indes. Alles ist längst hinüber, die Inschrift mit, und ihre Alexandriner geben keine Rätsel mehr auf.

Auch Friedrich II. fügte ein neues Brunnenhaus, das neukönigliche, den schon vorhandenen Gebäuden hinzu und gab dadurch dem Brunnental, wenn wir von einzelnen feineren Zügen absehen, den Charakter, den es noch jetzt besitzt. Eine besondere Teilnahme scheint der große König dem Bade nicht geschenkt zu haben. An Schönheit der Natur bot ihm die Umgegend Potsdams kaum Geringeres, und was die Heilkraft des Brunnens angeht, so war es verzeihlich, wenn er den Skeptizismus, der ihn auf allen Gebieten auszeichnete, auch auf den »flüchtigen Schwefel- und Brunnengeist«, den »spiritus sulphuris volatilis«, der Freienwalder Heilquelle übertrug. Es war übrigens die Zeit gekommen, wo Private das Bad in ihre schützende Obhut nahmen, besonders Herr Wegely aus Berlin, der unter mannigfach anderem auch Freibäder für die Armen stiftete und deshalb ebenfalls in einer Inschrift verherrlicht wurde. Der Schluß derselben:

Was für die Armen hier Herr Wegely getan,
Zeigt dieses Brunnenhaus der fernsten Nachwelt an,

erhebt einen Anspruch, dem sich das Brunnenhaus seit längerer Zeit nicht mehr zu unterziehen vermag, da es wie der »Tempel« inzwischen vom Schauplatz abgetreten ist.

An die Stelle dieser Werke der Architektur ist inzwischen aber, und zwar als Brunnenhüterin, ein Werk der Skulptur getreten: eine Najade mit einem Ruderstück in der Rechten, die lässig hingestreckt über dem Heilquell ruht, während aus der Urne neben ihr ein Wasserstrahl niederfließt. Soweit alles gut. Aber eine sonderbare Ökonomie hat darauf gedrungen, daß das Wasser nicht frei in ein Bassin oder eine Rinne strömt, sondern in ein untergestelltes Gefäß, das zwischen Blumenvase und Topf nur notdürftig die Mitte hält. Der Effekt ist überaus komisch, und man begreift den pausbackigen Amorin durchaus, der, über die Brust der Najade hinweg, lächelnd in den Topf und auf das fließende Wasser blickt. Das Ganze vielleicht ein Unikum heiterer Naivetät und während es, in Form und Gegenstand, die Antike zu kopieren meint, erinnert es doch, dem Geiste nach, der es schuf, an den Humor des Mittelalters, am meisten vielleicht an die bekannte kleine Brunnenfigur in Brüssel.

Der Reiz aller dieser Werke der Skulptur und Architektur ist nicht groß, und wenn es doch einen Zauber hat, in dieses Brunnental einzukehren, so muß es ein anderes sein, was uns an dieser Stelle erquickt und labt. Und ich glaube zu wissen, was es ist. Es ist das Gefühl eines vollen Geschützt- und Geborgenseins, die Stille dieses Tales, vor allem seine Herbstesstille.

Gewiß, daß es hier auch schön ist, wenn die Saison auf ihrer Höhe steht, die Brunnenmusik ihre Märsche spielt, die Toiletten rauschen und die jungen Paare kichern – aber die schönste Zeit bleibt doch immer die, wo der Herbst hier einzieht, wo die letzte Sommerrose hinüber ist und selbst die Malve hinblaßt, um der Aster das Feld zu räumen.

Und ein solcher Herbstestag ist heute. Hoch in der Luft, über die Berge hin, zieht der Wind, und mitunter ist es, als kläng er bis ins Tal hernieder. Aber wir hören nur den Streit hoch oben, die Luft unten steht unbewegt. Die Vögel singen nicht mehr oder sind schon fort, nur noch das Sonnenlicht hüpft in den Zweigen. Die Tannenäpfel fallen nieder auf den Kiesweg des Parks, aber nicht losgelöst von der Schüttelhand des Windes, nur losgelöst von Alter und eigner Schwere. Die Quellen rauschen, die Sommerfäden ziehen, Bilder kommen und gehen. Dem Ohre klingt es wie leise Musik.

Von wannen kommt sie? Ist es die Luft, die klingt, oder ist es das eigene Herz?


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