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Der alte Graf Zieten auf Wustrau

»... Der alte Graf Zieten auf Wustrau war der Sohn des berühmten General von Zieten, und ein größerer Abstand als der zwischen seinem gefeierten und beinah ehrwürdigen Namen und seiner persönlichen Erscheinung war nicht denkbar. Friedrich der Große hatte ihn 1765 über die Taufe gehalten, und davon blieb ihm zeitlebens ein hohes Selbstgefühl, auch das Gefühl, sich was erlauben zu dürfen. Als Anfang der dreißiger Jahre Prinz Wilhelm (der spätere Kaiser) zur Inspektion nach Ruppin kam, war natürlich auch Landrat von Zieten zur Begrüßung da, neben ihm ein Wustrauer Bauer, der beim Erscheinen des Prinzen den Gruß vergaß oder vielleicht auch nicht grüßen wollte. Zieten schlug ihm sofort die Mütze vom Kopf. Schon als Täufling empfing er das Fähnrichspatent und war später ein übermütiger Lieutenant, enthielt sich aber aller heldischen Taten, die an seinen Vater hätten erinnern können.

Eins ist ihm unbedingt zu lassen: er war, von Übernahme des Guts an, ein guter Landwirt und ein noch besserer Financier. Man darf vielleicht sagen, ›ein zu guter‹. Als er das Gut übernahm, standen Schulden darauf, die den alten Zieten, den Vater, während seiner letzten Lebensjahre stark gedrückt hatten. Der Sohn wußte sehr bald Wandel zu schaffen, die Schulden wurden abgezahlt und das Gut erhob sich zum Range eines Mustergutes, dessen Wert mit jedem Jahre stieg und, wie schon hier bemerkt sein mag, beim Tode des alten Grafen (1854) den zehnfachen Wert haben mochte wie siebzig Jahre früher bei Übernahme des Gutes. Seine, des alten Grafen, besondere Liebe war der Park, und durch das, was er hier tat (auch das Barocke mit eingeschlossen), hat er sich in hohem Maße den Dank der Ruppiner, der Stadt wie der Grafschaft, verdient. Ganz der Sohn einer in der Oberschicht der Gesellschaft das Christentum mehr oder weniger verspottenden Zeit, gab er diesem spöttischen Zuge, der ihn sein ganzes Lebelang beherrschte, beständigen Ausdruck und beging Dinge, die man heutzutage mit Achselzucken begleiten oder doch mindestens als Geschmacklosigkeiten bezeichnen würde. Damals freute man sich daran und hatte, weil es als ›Esprit‹ galt, sogar Respekt davor. An die Tür einer Art Kapelle war ein Totenkopf und an die Bretterwand eines benachbarten Pavillons ein Christuskopf gemalt, zwischen Kapellchen und Pavillon aber lag ein Kirchhof mit Kreuzen und Gedächtnistafeln und allerhand Inschriften darauf. All das war aber bloß Ornament, Park- und Gartenausschmückung, um auf die Besucher eine bestimmte sentimentale Wirkung auszuüben, denn unter den Kreuzen lag nichts oder – Schlimmeres als nichts. Ein ›falscher Kirchhof‹ also, was übrigens niemanden verdroß oder in seinem religiösen Gefühl verletzte. Man nahm das alles nicht ernst und der Philister, der bewundernd oder schmunzelnd an diese Gräber herantrat, war gerade so spottsüchtig und ungläubig wie der Landrat von Zieten selbst. Dieser wußte das auch und kannte nichts Lieberes und Schöneres – und dies war eine wirklich erquickliche Seite an ihm, die mit vielem aussöhnen konnte –, als seinen Wustrauer Park mit seinen prächtigen alten Bäumen, seinen Lagerplätzen und seinen zur Fahrt auf den See bereitliegenden Booten und Gondeln von seinen lieben Ruppinern besucht zu sehn. Ich mache mich keiner Übertreibung schuldig, wenn ich sage, daß zuzeiten bis zu fünfzig Familien in dem Park anzutreffen waren. Denn es gab nichts in der Nähe, was mit Wustrau wetteifern konnte. Sogar Fremde kamen. Und je mehr ihrer kamen, desto glänzender war des Alten Laune. Er erschien dann plötzlich, vom Schloß her, in blauem Rock und hellblauen Pantalons, einen Stern auf der Brust und verlangte nichts als einen Gruß, den er mit großer Freundlichkeit erwiderte. Niemand fuhr besser dabei als sein Gärtner, der den Namen Geduldig führte und dem er eine Art Schankgerechtigkeit, nämlich das Recht einer Milch- und Kaffeewirtschaft verliehen hatte. Besonders Liebespaare liebten Wustrau sehr, und viele Verlobungen sind in den verschwiegenen Gängen am See hin geschlossen worden.

Er galt für geizig, und fast darf man sagen, seine Taten auf diesem Gebiet übertrafen noch seinen Ruf. Es wäre lohnend, hier Details zu geben, aber das Beste davon entzieht sich der Möglichkeit der Mitteilung, und nur das eine, vergleichsweise Harmlose mag hier eine Stelle finden, daß er, bei kleinen Diners, die gelegentlich stattfanden, persönlich mithalf und, mit einer im Laufe der Zeit gewonnenen Übung, aus ein paar Heringen ein paar Dutzend Sardellen herauszuschneiden wußte. Wahrscheinlich erfunden, aber erfundene Geschichten der Art sind geradesogut wie die wirklichen; zwischen den echten und unechten friderizianischen Anekdoten ist kein Unterschied.

Bis in sein hohes Alter hinauf war er Landrat. Er hatte den Kreis gut verwaltet und viele Chausseen angelegt. Unter andrem half er auch dadurch, daß er bei Hofe, wo er namentlich bei Friedrich Wilhelm IV. als ›Original‹ sehr angesehen war, allerlei durchzusetzen wußte, was einem Manne von gleichgiltigerem Namen mutmaßlich nicht geglückt wäre. Mit ebendiesem Ansehen bei Hofe hing es auch zusammen, daß er, schon 1840 gegraft, 1851, unter ganz besonders auszeichnenden Förmlichkeiten, zur Enthüllungsfeier des Friedrich-Denkmals nach Berlin geladen wurde. Hochbeglückt durch diese Gunstbezeugungen kam er nach Wustrau zurück. Aber dieselben letzten Lebensjahre, die soviel Auszeichnendes für ihn brachten, brachten ihm auch Kränkungen aller Art, Ärgernisse, die um so ärgerlicher waren, als sie von Personen seiner nächsten Umgebung ausgingen. An der Spitze dieser plötzlich auf dem Plan erschienenen Feinde stand sein ehemaliger Secretair C. A. Frost, der, solang er noch in gräflichen Diensten war, nie mehr als 120 Taler Gehalt bezogen und jedes beim Grafen eingereichte Gesuch um Gehaltsverbesserung abschlägig beantwortet gesehen hatte. Hinsichtlich der Charaktere war eine gewisse Verwandtschaft zwischen Herr und Diener, und was dem letzteren bei Beginn seiner Laufbahn an Verschlagenheit gefehlt haben mochte, das wußt er bald einzubringen. Von Natur klüger als sein Herr und mit einem entschiedenen Talent für bureaukratische Schreibereien ausgerüstet, wußt er sich bald derartig zur Seele der landrätlichen Verwaltung zu machen, daß er nicht ganz unrecht hatte, die seinem Herrn reichlich zufallenden Anerkennungen sich gutzuschreiben. Aber noch war die Zeit nicht da, dies Konto zu begleichen. Diese Zeit kam erst, als die Verhältnisse ihn zwangen, sich nach aufbessernden Mitteln zur Durchbringung seiner immer zahlreicher werdenden Familie umzusehen. Die Gelegenheit zu dieser Aufbesserung war bald gefunden, und zwar sonderbarerweise (wenn auch nur mittelbar) durch den alten Landrat selbst. Dieser, dem finanziellen Zuge der damaligen, in die vierziger Jahre fallenden ersten Gründerperiode folgend, fing an, große Strecken seines ›Wustrauer Luchs‹ an Torf-Ausbeutungsgesellschaften zu verkaufen, und in eine dieser Gesellschaften trat Frost selber ein, mit Genehmigung seines Herrn, der auf die Weise hoffen mochte, den ewigen Gesuchen um Gehaltsverbesserung ein für allemal enthoben zu werden. Ja, der sonst so Geizige ging weiter und schoß seinem Secretair aus freien Stücken 1000 Taler vor, um demselben Gelegenheit zu geben, mit Hülfe dieser Einzahlung als ›Aktionär‹ in die Torf-Exploitierungsgesellschaft eintreten zu können. Zieten gratulierte sich zu einem Meistercoup. Aber es kam anders, als er erwartet hatte, total anders. Secretair Frost, der sich, bei seiner genauen Kenntnis aller einschläglichen Verhältnisse, sehr bald den Torfaktionären unentbehrlich zu machen wußte, stieg ebenso rasch an Ansehen, Macht und Vermögen und benutzte nunmehr seine finanziell glänzend gewordene Stellung, um, im Interesse der ›Gesellschaft‹, der er jetzt zugehörte, Forderungen zu stellen. Als der alte Landrat auf diese Forderungen nicht eingehen wollte, dagegen von den ihm vorgestreckten ›1000 Talern‹ sprach, warf ihm der über Nacht mächtig Gewordene die ganze Summe vor die Füße und suchte den Widerstand, den der Alte nach wie vor seinen Plänen entgegensetzte, dadurch zu brechen, daß er mit einem Briefe drohte, den er an den König Friedrich Wilhelm IV. schreiben wolle. Schließlich schrieb er diesen Brief auch wirklich und entwarf darin ein Charakterbild des Alten, der zeit seines Lebens nichts als eine Mischung von Engherzigkeit, Habsucht und Unfähigkeit gewesen sei, stets nur verstanden habe, andre für sich arbeiten zu lassen und sich mit fremden Federn zu schmücken. Was in den letzten Jahrzehnten im Kreise geschehen sei, sei durch die landrätlichen Secretaire geschehen, speziell durch ihn und sein Aushalten im Dienst, was nichts Leichtes gewesen sei, denn seine Vorgänger hätten sich, bei der Unerträglichkeit des ihnen auferlegten Lebens, das Leben genommen. So Frosts Eingabe. Sehr geschadet kann sie dem von ihm Verklagten aber nicht haben, denn es brachen grade jetzt die vorerwähnten Zeiten an, die dem Alten Auszeichnungen über Auszeichnungen brachten. Indessen, sowenig unempfindlich der Alte gegen solche königlichen Gnaden war, ging die heimische Fehde doch nicht spurlos an ihm vorüber, und es würde sich von einer Verkürzung seines Lebens durch ebendieselbe sprechen lassen, wenn er nicht, trotz alledem, sein Leben bis auf sechsundachtzig Jahre gebracht hätte. Am 29. Juni 1854 starb er nach längerem Krankenlager.«

Etwa eine Woche später war das Begräbnis, und mit einer Gentzschen Schilderung desselben möcht ich diese Graf-Zieten-Skizze schließen.

»An Beteiligung war kein Mangel, ja, es waren mehr Personen zugegen, als eigentlich Anspruch darauf hatten. Zunächst fehlte kein Edelmann und Rittergutsbesitzer aus dem ganzen Ruppiner Kreise; das war selbstverständlich. Aber auch das Bürgertum, das ›Volk‹, machte sich auf den Weg, und die nach Wustrau führende große Straße war schon in aller Frühe von schwarzgekleideten Trauergästen belebt. Wer keinen Wagen hatte, ging zu Fuß, und so sah ich Ruppiner Damen aus den oberen Ständen, die nur zur Befriedigung ihrer Neugier die kleine Fußreise (fünfviertel Meilen) machten. Endlich erschien auch die Ruppiner Schützengilde mit Epauletts und Tressen und goldgesticktem Kragen. Jeder sah aus wie ein Major. Überhaupt war, wenn ich von den angeschimmelten Kasimirhosen einiger Landstandsmitglieder absehe, kein Mangel an glänzenden Uniformen, besonders an Husarenuniformen, unter denen eine von altertümlichem Schnitt (wahrscheinlich aus der Zeit unmittelbar vor 1806) am meisten Bewunderung fand. Es war ein alter weißköpfiger von Bredow, der sie trug.

Alles versammelte sich zunächst vor dem Schloß und hatte, bei der besonders starken Hitze, die herrschte, durchaus kein Verlangen, in das Schloß hinein und in die Nähe des Toten zu kommen. Aber endlich war es nicht länger hinauszuschieben, und da standen wir nun – auch die ›Honoratioren‹ hatten Zutritt – am Sarge, zu dessen Häupten die von Tassaerts Meisterhand herrührende Portraitbüste seines Vaters, des alten, berühmten Zieten, aufragte. Daneben stand der Prediger und hob seinen Sermon an, und wer nicht wußte, daß es der Sohn sei, der hätte glauben müssen, es sei der Vater. Der Sohn aber, wenn er hätte sprechen können, hätte mit seiner scharfen Stimme gerufen: ›Du lügst‹, denn wie schwach es mit des alten Grafen Tugenden auch stehn mochte, von einer Sünde war er frei, von der der Heuchelei. Ganz ein Kind des vorigen Jahrhunderts, in dessen Aufklärungsjahrzehnte seine Jugend fiel, war er voll Haß gegen die Kirche und voll Spott gegen ihre Diener. Das letzte der ganzen Szene war ein Akt des Heroismus: die Wustrauer Bauern nämlich, ohne sich mit der vom Mittelalter überkommenen Zitrone bewehrt zu haben, traten heran, luden den Sarg auf ihre Schultern und trugen ihn bis zu der Begräbnisstätte, die der Alte sich sorglich vorher bereitet hatte.

Gesang und Gebet. Dann aber war alles beflissen – denn jeder sehnte sich nach Imbiß und Stärkung –, vom Kirchhofe wieder nach dem Schlosse zurückzukehren, in dessen mit den Portraits der ehemaligen Offiziere des Zietenschen Husarenregiments geschmücktem großen Saal man mittlerweile Tische gestellt und die Tafel gedeckt hatte, gedeckt mit einem Gefühl für Repräsentation, ja mit einer Opulenz, die diese Räume seit länger als einem halben Jahrhundert nicht mehr gesehen hatten. Dieser Opulenz entsprach denn auch der Bravourangriff auf die Flaschenbatterie, der einige der Jüngeren, bei der eminenten und fortgesetzten Energie des Angriffs, zu erliegen drohten.

Und jetzt war es denn auch, daß von unten her der Ruf in den Saal drang: ›Wir haben auch Hunger‹, ein immer lauter werdender Schrei, der von den vielen Hunderten ausging, die nicht eigentlich zu den Geladenen zählten, inzwischen aber auf dem Rasenplatz vor dem Schloß und besonders auf der Rampe desselben Aufstellung genommen hatten. Es wurden aufrichtig gemeinte Versuche gemacht das von außen her um Brot schreiende Volk zu befriedigen, aber die besten Anstrengungen erlahmten an der Menge derer, die forderten, und so kam es denn, daß, eh es möglich war, es zu hindern (auch fehlte wohl, weil man kein Ärgernis geben wollte, der Wille dazu), die draußen versammelte Menge von der Rampe her in das Schloß einbrach und durch einen feinen Instinkt, vielleicht auch durch die Lokalkenntnis eines einzelnen geleitet, ihren Weg in den über Erwarten leidlich ausgestatteten Weinkeller nahm. Nun war dieser Keller sicherlich nicht die Stätte nennenswerter Château-Weine, das lange Lagern indes, zu dem die wirtschaftlichen Normen des Alten die reichste Gelegenheit geboten hatten, hatte zur Aufbesserung wenigstens das möglichste getan und immerhin etwas Trinkbares hergestellt. Was nicht an Ort und Stelle ausgetrunken wurde, nahm man in Park und Garten mit hinauf, und als die letzte Flasche leer war, begann ein Singen und allgemeines Verlangen nach den Dorfmusikanten, die glücklicherweise nicht kamen und den Begräbnistag des letzten Wustrauer Zieten davor bewahrten, in einem bal champêtre sein Ende zu finden. Endlich erschienen aus der Stadt herbeigerufene Polizeisergeanten und räumten den Park, denselben Park, den der Alte (die beste Tat seines Lebens) mit soviel Liebenswürdigkeit durch zwei Menschenalter hin zur Verfügung des Ruppiner Volks gestellt hatte. Mit Kraftliedern und Zechgelagen war ihm heute der ›Dank des Volkes‹ dafür abgestattet worden.«

 

So der Teil des A. Gentzschen Manuskripts, der sich mit den Personen und Zuständen einer um mehr als dreißig Jahre zurückliegenden Epoche beschäftigt.

Alle, die genannt wurden, sind längst vom Schauplatz abgetreten, vielfach auch schon wieder ihre Kinder. Trotzdem wird es nicht ausbleiben, daß sich einzelne durch gegen den Vater oder Großvater gerichtete Spöttereien unangenehm berührt fühlen. Auch das über den alten Grafen Zieten Gesagte wird einer Beanstandung in einzelnen Gesellschaftskreisen nicht entgehn. Allen aber möcht ich aus einer langen literarischen Erfahrung zurufen dürfen: Wer solche Quellen aus Familienrücksichten absperren will, der steht nicht bloß der historischen Forschung (zu deren vorzüglichsten Objekten auch das Studium des Kleinlebens gehört), sondern vor allem auch sich selbst und den Seinen im Lichte. Das protestantische Volk verlangt keine Heiligen, eher das Gegenteil; es verlangt Menschen Wir lieben nur das Individuelle«, schreibt der in allem recht behaltende Goethe. »Daher« (so fährt er fort) »unsere große Freude an Bekenntnissen, Memoiren, Briefen und Anekdoten abgeschiedener, selbst unbedeutender Menschen.« Und er hätte hinzusetzen können, auch solcher »of a questionable shape«. , und alle seine Lieblingsfiguren: Friedrich Wilhelm I., der große König, Seydlitz, Blücher, Yorck, Wrangel, Prinz Friedrich Karl, Bismarck, sind nach einer bestimmten Seite hin, und oft nach mehr als einer Seite hin, sehr angreifbar gewesen. Der Hinweis auf ihre schwachen Punkte hat aber noch keinem von ihnen geschadet. Gestalten wie Moltke bilden ganz und gar die Ausnahme, weshalb auch die Moltke-Begrüßung vorwiegend eine Moltke-Bewunderung ist und mehr aus dem Kopf als aus dem Herzen stammt.


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