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Das Niederschreiben einer für den Turmknopf bestimmten Urkunde Ob das ursprüngliche, von A. Gentz selbst herrührende Manuskript wirklich in den Turmknopf hineingelegt worden ist, weiß ich nicht. Was mir für diese meine Arbeit vorgelegen hat, war eine beglaubigte Abschrift. , deren Vor- und Nachwort ich am Schluß des vorigen Kapitels bereits mitteilte, war es, was A. Gentz, nach vorläufigem Abschluß seiner Gentzroder Bautätigkeit, einen Winter lang beschäftigte. Wie mir nicht zweifelhaft ist, zu seiner besonderen Befriedigung. Und eine solche Befriedigung zu fühlen, dazu war er, nicht nur aus menschlicher Schwachheit (er wollte den Ruppinern etwas anhängen), sondern auch ästhetisch und künstlerisch angesehen, vollkommen berechtigt. Ja, was er da niedergeschrieben hat, zum Teil in einem brillanten Stil, ist durchaus eine literarische Tat, und das bekannte, für die fachmäßige Schriftstellerwelt freilich nicht allzu schmeichelhafte Wort: »Ein Schriftsteller kann jeder sein, der was zu sagen hat«, empfängt aus diesen Alexander Gentzschen Aufzeichnungen eine neue Bestätigung. Eine literarische Tat, so sagte ich. Aber damit ist die Sache noch keineswegs erschöpft; der eigentliche Wert dieser Urkunde liegt in ihrer lokalhistorischen Bedeutung. Es wird darin ein kleines märkisches Städtebild aus der Mitte des Jahrhunderts gegeben, ein Bild, wie's bis dahin nicht da war und auch auf lange hin mutmaßlich nicht wiederkommen wird. Eingelebtsein in alle Verhältnisse, scharfe Beobachtung und große Klugheit vereinigten sich hier mit angeborner schriftstellerischer Begabung und ließen ein Werk entstehen, das nun für alle die, die dermaleinst märkische Kulturhistorie schreiben wollen, und ebenso für die märkische Novellistik der Zukunft unschätzbar erscheint. Ein Mikrokosmus, wie er nicht schöner gedacht werden kann.
Der ursprüngliche Zweck der Urkunde, »wie Gentzrode ward und wuchs«, wird nie ganz aus dem Auge verloren, aber, wie sein eignes, vorzitiertes Schlußwort es auch ausspricht, überall finden wir Exkurse, denen sich Portraitierungen gesellen, eine ganze Galerie von kleinstädtischen Charakterköpfen.
Und nun geb ich dem Verfasser selber das Wort, nur hier und da, beßren Verständnisses halber, eine kurze Bemerkung einfügend.
»... Ich war nun also Mitglied des Magistratskollegiums, und damit scheint mir der Zeitpunkt da, mich über diese Körperschaft oder doch wenigstens die Hervorragendsten darin auszusprechen. Eh ich aber den einzelnen mich zuwende, muß ich noch meiner Einführung als solcher gedenken. Ich meinerseits war im Frack erschienen und unterwarf mich eben der herkömmlichen Begrüßungsanrede von seiten des Bürgermeisters, als ein älteres Mitglied den Sprechenden ohne weiteres unterbrach, um ihn darauf aufmerksam zu machen, ›daß zwei Kollegen ohne Frack erschienen seien, was gegen die Étiquette verstoße und zuvörderst gerügt werden müsse‹. Nun erst, nach erteilter Reprimande, konnte der Sprecher in seiner Anrede fortfahren.
Wie sich denken läßt, war das Kollegium, dem ich von da ab angehörte, von sehr verschiedener Zusammensetzung. Da waren zunächst der Ratszimmermeister Söhnel, Kürschnermeister Emden und Buchbindermeister Siecke – gute, treffliche, wohlwollende Herren, der letztere, vielleicht weil er die Kirchenverwaltung hatte, etwas zu zaghaft. Dann war da der Particulier Loof, eng überhaupt, am engsten aber in Geldsachen, zumal wenn es seinen eignen Beutel anging, in welchem Fall er sich, wo nützlich, noch konservativer erwies als in der Politik. Ein fünfter war Möbelfabrikant König. Er genoß des Vorzugs, die beste Ratsherrnfigur zu haben. Auch Kaufmann und Gutsbesitzer Windaus hätte gelten können, wenn er etwas besser auf dem Posten gewesen wäre. Windaus hatte das Einquartierungswesen, kam aber Mobilmachung oder dergleichen, so zog er sich auf sein Gut Herzberg zurück und überließ das Nötige seinen Deputierten. Particulier Menzel (ehemaliger Apotheker), der mit der Abschätzung zu tun hatte, war erheblich anfechtbarer. Man wußte nie, was eigentlich seine Meinung war, und wäre die Grafschaft Ruppin noch katholisch gewesen, so hätte man glauben müssen, er sei in einem Jesuitenkloster erzogen. Posthalter Hoepfner ersetzte, was er an Tüchtigkeit nicht besaß oder wenigstens nicht zeigen wollte, durch ausdrucksvolle Rede, die, je länger sie dauerte, desto schöner wurde. Vor allem bemerkenswert indes war der stellvertretende Bürgermeister und Auskultator a. D. Mollius, Sohn des im vorigen Jahrhundert in der Ruppiner Geschichte vielgenannten Ratsherrn Mollius. Vor diesem Auskultator a. D., wenn man ihm in der Dämmerung begegnete, konnte man sich fürchten, denn zu eingezognem Kreuz und durchbohrendem Blick trug er das Gesicht bis an die Nasenspitze derartig in ein dickes Halstuch gewickelt, daß man ihn für Robespierre halten konnte. Bei näherer Bekanntschaft wurde man freilich gewahr, daß dies anscheinende Revolutions- und Schreckgespenst, trotz seiner sechzig Jahre, von sehr kümmerlicher Konstitution war und zu nicht viel mehr als einem zarten Knaben zusammenschrumpfte. So war Mollius. Das Lumen des ganzen Kollegiums aber und zugleich die Geißel desselben war Mühlenbesitzer und Particulier Gustav Schultz, den mein Vater immer nur ›Gustav von Gottes Gnaden‹ nannte. Sein Verstand und seine praktische Befähigung waren gut, aber er hütete sich auch, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, und wer dies Licht dennoch nicht sehen wollte, der war sein Feind. Das Oberhaupt dieser ratsherrlichen Körperschaft war Bürgermeister von Schultz, früher Offizier in dem in Ruppin garnisonierenden Infanterieregiment.
So war der Magistrat. Neben diesem aber gab es auch freiere, natürlich in beständiger Fehde mit- und untereinander lebende Gemeinschaften, die Capulets und Montecchis von Ruppin, von denen jene die Gruppe der Haus-, diese die Gruppe der Ackerbesitzer bildeten. Unter den Capulets der Hausbesitzer (nur dieser einen Gruppe sei hier in Kürze gedacht) ragten zwei hervor: zunächst der Sattlermeister Rosenhagen, ein Greis von über achtzig, der aus verschiedenen Gründen als ein Orakel galt. 1789 war er in Paris gewesen und hatte den Bastillensturm miterlebt, weshalb er – wohl mit sehr fraglichem Recht – der ›Bastillenstürmer‹ hieß. Es paßte dazu, daß seine beiden Söhne sich in Frankreich niedergelassen hatten; er selber trug sich französisch, in der Tracht des vorigen Jahrhunderts. – Neben ihm, auch aus der Gruppe der Hausbesitzer und von ähnlicher Bedeutung wie Rosenhagen, wenn auch nicht voll so wichtig, stand Schmiedemeister Krausnick, der sich auf den Philosophen hin ausspielte. Von ihm hieß es, daß er die sämtlichen Bände des ›Allgemeinen Landrechts‹ besessen habe, was auf seine Mitbürger derartig wirkte, daß seine juristische Befähigung außer Zweifel war.
Hausbesitzer und Ackerbesitzer waren zwei große Körperschaften außerhalb des Rahmens der eigentlichen Stadt regierung, während eine mit der Stadtforstverwaltung betraute Bürgergruppe, deren nebenherlaufende Zugehörigkeit zu der einen oder andern der großen Körperschaften unerörtert bleiben mag, schon mehr innerhalb des Regierungsrahmens stand. Es waren ihrer zwölf. Vorsitzender war der schon als Magistratsmitglied genannte Kürschnermeister Emden, ein ordentlicher, einsichtsvoller Mann, dem Drechslermeister Krengemann als ›Sachverständiger‹ beigegeben war. Der wußte von Wald und Forst zu reden, daß es eine Freude war, und wenn Gott für den ausgestreuten Kiefernsamen rechtzeitig Regen und Sonnenschein schickte, so bewies sich unser ›Sachverständiger‹ auch als Sachverständiger comme il faut. Blieb aber der liebe Gott aus, ja, wo blieben da Krengemann und seine Fichten! Neben Krengemann lagen dem Schuhmacher Lehmann die vorzunehmenden ›Kulturarbeiten‹ ob, und er unterzog sich dieser Aufgabe mit einer fast ans Krengemannsche grenzenden Wald- und Forstweisheit. Von ähnlicher Bedeutung oder auch von größerer – weil er das Amt eines Kassenrendanten verwaltete – war Schlosser Grunow, ein wohlhabender, kinderloser Mann, bei dem die 800 Taler, die, nach stattgehabter Holzauktion, den jedesmaligen Höhepunkt der Kasse bildeten, wenigstens schloßsicher lagen. Im übrigen war sein Kopf so zäh wie das Eisen, das er schmiedete. Vieler Ehren war er teilhaftig, und als er auch noch Schützenmajor wurde, trug er einen Schnurrbart. Fünfter im Kreise war Kürschnermeister Michaelis, ein Mann von frommem Gemüt, dem, weil er richtig schreiben konnte, die Protokollführung und die höheren Arbeiten zufielen. Nicht auf gleicher Höhe stand Schneidermeister Werner. Er war, wie Sattlermeister Rosenhagen, ›der Bastillenstürmer‹, bis Paris gekommen und von dorther als ›Tailleur für die höheren Stände‹ zurückgekehrt. Er hielt zu dem Satze, ›daß der Rat immer mehr sei als die Tat‹, weshalb er denn auch einem Maurer, der einen hohen Dampfschornstein von innen her aufmauerte, den Rat gab, ›lieber ein Gerüst anzulegen, der Schornstein würde sonst krumm‹. Da Werner einen Puckel hatte, so fiel die Antwort drastisch genug aus. Lohgerber Gienboldt (der siebente) wählte von 48 an immer demokratisch, ohne sich um ›untergeordnete Fragen‹ zu kümmern, und Schuhmacher Eberhardt tat dasselbe, vorausgesetzt, daß er gerade nüchtern genug war, um beim Wahlakt erscheinen zu können. Seiler Heyer und Sattler Schommer waren freundliche Leute, was man vom Böttcher Kisten auch sagen konnte, wenn er nicht gerade seinen groben Tag hatte. Über den zwölften und letzten schweigt des Sängers Höflichkeit. Zu vielen dieser Männer, namentlich aus der Gruppe der in Einzelgestalten von mir nicht skizzierten Ackerbesitzer, trat ich, beim Ankauf der Kahlenberge, in geschäftliche Beziehungen und kann nicht sagen, daß dieselben erfreulicher Art gewesen wären. Ich will einen gewissen Kern von kleiner bürgerlicher Tüchtigkeit, der in der Mehrzahl dieser Männer steckte, gern anerkennen, auch zugeben, daß etliche, wie Söhnel und Emden, die Ebells, Hancks und Hagens, von mehr oder weniger vorzüglichem Charakter waren, die meisten aber waren nicht bloß kleine, sondern meist auch kleinliche Leute, denen der Sinn der Anerkennung für ihnen geleistete Dienste jederzeit fehlte; prosaisch, eng, argwöhnisch, ohne Pietät und Dankbarkeit. Den Obersten von Wulffen, dem sie die herrlichen, immer schöner werdenden Anlagen vor dem Rheinsberger Tore verdanken, ärgerten sie zur Stadt hinaus, und so machten sie's mit jedem, der ihnen Gutes tat und die Stadt und die Grafschaft unter Dransetzung von Kraft und Vermögen zu fördern suchte.« – »Was wird mein Los sein?« setzt A. Gentz ahnungsvoll hinzu.
So das für den Turmknopf bestimmte Manuskript, in dem Alexander Gentz beflissen war, ein Zeit- und Sittenbild seiner Stadt, aber zugleich auch der ganzen Grafschaft zu geben. Von den angesehensten Familien adligen und bürgerlichen Standes, von den Kohlbachs, Scherz, Jacob, von Quast und von Knesebeck wird, meist kurz, in mehr anerkennenden als tadelnden Bemerkungen gesprochen, ausführlich aber wendet er sich einem zu: dem alten Grafen Zieten auf Wustrau. Was ihn zu dieser auf Vorliebe deutenden ausführlichen Behandlung bestimmte, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen und hatte wohl in Verschiedenem seine Veranlassung, unter andern auch darin, daß er in seinem künstlerischen Sinn erkannte: Dieser alte Graf ist ein besonders glücklicher Stoff für die literarische Behandlung. Und darin hat er sich nicht geirrt. Das Bild, das er vom alten Grafen Zieten gibt, von seinem Leben und Sterben, ist das Glanzstück in seinem Manuskript, aus dem ich nun wieder zitiere.