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8. Michel Protzen
Deutsch und verständlich! Euer Exzellenz schalten und walten
im Lande! Das ist meine Stube! – Halten zu Gnaden.
Schiller

Aus meiner frühesten Jugend entsinn ich mich seiner. Er war damals erst ein Vierziger, hieß aber schon der »alte Protzen«. Aufrecht stand er in der großen Rundtür seines Gasthofes und sah die Straße hinunter wie König Polykrates:

Dies alles ist mir untertänig;
Gestehe, daß ich glücklich bin.

Er trug einen Rock von altdeutschem Schnitt mit ungeheuren Knöpfen und einem Kamm auf dem Scheitel. In den Nacken hinein fielen ihm die weißen Locken, und sein mächtiger Kopf, der durch die Pockennarben eher gewann als verlor, erinnerte an das Kurfürstenbild auf der Langen Brücke. Michel hieß er und Michel war er, der deutsche Michel in optima forma. Wie jeder Landesteil in einer bestimmten und dann typisch werdenden Figur kulminiert, so die Grafschaft Ruppin in Michel Protzen. Denn er war ein Antochthone dieser Grafschaft und stammte mit derselben Wahrscheinlichkeit aus Dorf Protzen, wie die Zietens aus Dorf Zieten oder die Schadows aus Dorf Schadow stammen.

Ein deutscher Bürger, wenn er diesen Namen verdienen soll, muß dreierlei haben: einen Besitz und ein Recht und ein Freiheitsgefühl, das aus Besitz und Recht ihm fließt.

So war es im Mittelalter, in den Reichs- und Hansastädten.

Aber als das Königreich Preußen ins Dasein sprang, stand es in deutschen Landen überall ziemlich schlecht mit dieser Dreiheit. Hier fehlte Besitz, dort Recht, und das Gefühl der Freiheit konnte nicht aufkommen. Nirgends aber lagen die Dinge kümmerlicher als in der Mark, weil nirgends die Besitzverhältnisse kümmerlicher lagen. Besitz schafft nicht notwendig Freiheit (Despotien sind despotisch auch dem Reichtum gegenüber), aber der umgekehrte Satz ist richtig: keine Freiheit ohne Besitz. Und zehn Morgen Sandland sind kein Besitz. Der Ackerbürger des vorigen Jahrhunderts war ein ärmlicher, in die Stadt verschlagener Bauersmann, der, unmittelbar unter den Druckapparat des absoluten, überallhin eingreifenden Staates gestellt, sich nicht einmal der Täuschung einer Freiheit hingeben konnte, die für den zerstreut im Sande wohnenden und der Contrôle mehr entrückten Landbewohner gelegentlich noch vorhanden war.

So war die Regel.

Aber nach der Lehre vom Gegensatz hat nicht nur jede Regel ihre Ausnahme, sondern die Ausnahme gestaltet sich gelegentlich auch um so extremer, je extremer die Regel ist. Inmitten der häßlichsten Menschen findet man wunderbare Schönheiten, Askese blüht in Zeiten sittlichen Verfalls, und in Epochen der Unfreiheit und bürgerlichen Verkommenheit sprießen die Beispiele höchster Bürgertugend auf. An der Entfaltung jedes Übermuts gehindert, gedeiht in solchen Ausnahmefällen der echteste Mut, die Selbstsucht wird gehindert, ins Kraut zu schießen, und so wächst sich denn ein die Keime des Idealen in sich tragendes Einzelindividuum, unter dem allgemeinen Walten der Unfreiheit und recht eigentlich infolge dieser Unfreiheit, in einen Idealzustand der Freiheit hinein.

So glücklich lagen nun die Dinge bei Michel Protzen nicht. Er war nichts weniger als eine Idealgestalt, am wenigsten nach der Seite der Freiheit hin. Durchaus herrisch von Natur, wurzelte das Stück Bürgertum, das er vertrat, nicht in geklärten Anschauungen oder in dem Enthusiasmus eines frei fühlenden und nur das Große und Allgemeine im Auge habenden Herzens, sondern in dem Eigensinn und Eigennutz eines festen und sich selbst zum Mittelpunkte setzenden Egoisten. Er erinnerte durchaus an jene deutsch-mittelalterlichen Tage, wo man die Freiheit nicht um der Freiheit, sondern um seiner selbst willen liebte. Alles in Selbstsucht getaucht, aber anziehend und fesselnd wie jedes, was aus Natur und Leidenschaft emporwächst. Dieser Gruppe von Gestalten gehörte Michel Protzen zu. Nichts von Idee und Prinzip, desto mehr von Charakter.

Und so war er von Jugend auf. Als 1806 ein französischer General im Gasthause seines Vaters wohnte, gab es Anstoß, daß unser damals erst halberwachsener Michel sich weigerte, die französischen Offiziere zu grüßen. Als Strafe ward ihm schließlich zudiktiert, bei Tische hinter dem Stuhle des Generals zu stehen und diesen zu bedienen. Er gehorchte und verharrte in seinem Trotz. Dreißig Jahre später führte derselbe Charakterzug, der darin bestand, keiner Regung seiner Seele, berechtigt oder nicht, je Zaum und Zügel anzulegen, zu einem ähnlichen Zerwürfnis mit dem Ruppiner Offiziercorps, an dessen Spitze gerade damals der durch Tapferkeit, Originalität und Anekdoten gleich berühmte Oberst von Petery stand. Michel Protzen ließ das Zerwürfnis fortbestehen, trotz des materiellen Schadens, der ihm daraus erwuchs.

Er war ebenso populär, wie er derb war, und das will viel sagen. Die bloße Grobheit an sich leistet das nicht, und erst wenn sie sich, wie bei Protzen, entweder mit Humor und Originalität oder aber andererseits mit Mut und Gesinnung paart, erobert sie die Herzen. Mannigfach sind die Anekdoten, die darüber im Schwange gehen. Reilstab, damals auf der Höhe seines Ruhmes, kam nach Ruppin, um seine Schwester zu besuchen. Er erschien zu Fuß und bat in Michel Protzens Gasthaus um ein Zimmer. »Mein Gasthof ist nicht für Leute mit Ränzel und Regenschirm.« Und bei anderer Gelegenheit vor Gericht zitiert und in Gegenwart des Klägers zu zwei Taler Strafe verurteilt, weil er sich an diesem, einem Klempnergesellen, mit einer Ohrfeige vergriffen hatte, applizierte er demselben sofort eine zweite und zahlte vier Taler.

Ein Mann von solchem Gefüge war selbstverständlich nicht nur in aller Mund, er gab auch den Ton an. Wenn über Nacht der erste Schnee gefallen war, stellte er sich am andern Morgen an die Ecke seines Gasthauses und weckte die Stadt durch das weithin schallende Knallen seiner Schlittenpeitsche. Dann dehnte sich der Ruppiner und sagte: »Jetzt ist Schlittenzeit.« Aber noch eh er den seinigen aus der Remise schaffen und die mageren Braunen einspannen konnte, fuhr schon Michel Protzen mit Schneedecken und Schellengeläute durch die breiten Straßen der Stadt an ihm vorüber.

Ganz und gar eine deutsche Figur, in vielem ein Landsknechthauptmann vom Wirbel bis zur Zeh, besaß er auch den tief im germanischen Wesen liegenden Zug zum Hasard. Wie unsre Ururväter spielte er um all und jedes, und nur das Ganze setzte er nicht ein, nicht Freiheit und Leben. Piquet und Whist en deux zählten zu seinen Lieblingsbeschäftigungen, und wenn sein Gegner um den Einsatz verlegen war, ging es, je nach Laune und Zahlungsmöglichkeit, um Klafter Holz und Gänse.

Er war populär, aber nicht eigentlich beliebt. Um beliebt zu sein, dazu war er zu gefürchtet. Niemand war sicher vor ihm, denn sein Mund und seine Hand (wie schon an einem Beispiele gezeigt) waren gleich schlagfertig. Dazu gebrach's ihm an Gebelust, an jener Generosität, auf die hin die Schlagfertigkeit unter Umständen schon etwas sündigen kann. Gelegentlich war er nicht ohne Gutmütigkeit, aber sie glich bloßen Anfällen wie von Gicht oder Podagra. Wie alle Despoten war er launenhaft.

Die letzten Jahre seines Lebens söhnten mit manchem aus. Im März 1848 stand er fest zu König und Gesetz. Er hatte vom Spießbürgertum zu viel gesehen, als daß er sich von der Herrschaft desselben eine »neue Ära« hätte versprechen können. Er lachte und – war gröber denn zuvor.

So kam der Dezember 1855. Eines Morgens lief es durch die Stadt: Michel Protz ist tot. Das halbe Ruppin folgte, und das ganze hat ihm in den Jahren, die seitdem vergangen sind, ein huldigendes Andenken bewahrt. Was verletzte, ist vergessen, was gefiel, ist in dankbarer Erinnerung geblieben. Er erinnert in manchem an Schadow, in anderem an Geist von Beeren; denn auch darin war er deutsch, speziell norddeutsch, daß sein ganzes Wesen mit Schabernack und Till-Eulenspiegelei durchsetzt war.

Das Grabdenkmal, das ihm auf dem »alten Kirchhof« errichtet wurde, gibt die einfachen Daten seiner Geburt und seines Todes.

Ein gutes Portrait von ihm befindet sich in Händen des Kaufmann Kunz.


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