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Kleine Städte aufzufinden,
Städte, die in wenig Jahren Werden ganz und gar verschwinden, Treibt's mich, über Land zu fahren;... Sind sie auch nicht schön geblieben, Schön ist immer, was wir lieben. |
G. Hesekiel |
Von Neustadt a. D. bis Wusterhausen a. D. ist nur ein Schritt. »Il n'y a qu'un pas.« Die mißliebigen Anklänge, die vielleicht für alles, was Wusterhausen heißt, in diesem Zitate liegen, sind nicht ernsthaft gemeint und können es nicht sein, da das gegenseitige Verhältnis in einem anderen berühmten Dichterworte längst seinen mustergiltigen Ausdruck gefunden hat. »Rosenkranz und Güldenstern und Güldenstern und Rosenkranz.« In der Tat, sie sind Zwillinge, Dosse-Brüder und einander so ähnlich wie die Kiebitzeier, die sich, am Fluß hin, in dem Röhricht ihrer beiderseitigen Feldmarken vorfinden. Aber da kommt mir freilich eine neue Sorge. »Wie ähnlich Sie Ihrem Herrn Bruder sehn!« Wer zu solcher Versicherung greift, darf beinah immer überzeugt sein, sich auf einen Schlag zwei Feinde gemacht zu haben.
Auch Wusterhausen besteht aus einer Haupt- und einer Nebenstraße, die hier aber keinen einfachen Haken ( ), sondern etwa eine Form wie diese bilden. Da, wo beide Straßen sich treffen, erweitern sie sich, ganz wie in Neustadt, zu einem platzartigen Mittelpunkte, der, neben einer Anzahl gleichgiltiger Häuser, auch die steinerne Historie Wusterhausens, die Kirche, trägt. Seine geschriebene Historie ging in verschiedenen Rathausbränden unter. Was trotzdem übriggeblieben ist, ist schnell erzählt. Im zwölften und dreizehnten Jahrhundert gehörte Wusterhausen den Plothos, deren Burg vor dem Kyritzer Tore stand. Noch zu Ende des vorigen Jahrhunderts waren die Ruinen derselben erkennbar; jetzt nur noch der »Burgwall«. Außer diesem Überbleibsel erinnert nichts weiter als das Stadtwappen an diese frühste historische Zeit: die Plothosche Lilie, durch den märkischen Adler halbiert. Schon Mitte des dreizehnten Jahrhunderts ging Wusterhausen an die Markgrafen über, ward also Immediatstadt und blieb es. Um 1360 trat es plötzlich in Beziehungen zur Hansa, und wie stark auch die Zweifel sein mögen, die sich speziell an diese Tradition knüpfen, so entzückt es doch meine Phantasie, mir Wusterhausen zu denken, wie es mit einem Sechzehntel Anteil am Bug eines Orlogschiffes steht und dem König Waldemar samt dem ganzen Norden Gesetze vorschreibt. Fünfzig Jahre später sehen wir unsere Dosse-Stadt abermals an der Grenze hoher Politik: »Die Wusterhäusener verbinden sich nächtlicherweile mit den Quitzows gegen die Bredows«, aber auch diese Großtat zerrinnt in Nebel, wie der vorerwähnte Anteil am Hansasieg. »Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.« Und dieser Nebelstreif wird immer dichter und dunkler und verdunkelt sich endlich zu völliger Nacht, aus der es nur dann und wann aufleuchtet, wenn das mit Regelmäßigkeit wiederkehrende Feuer die Stadt in Asche legt. 1758 brannte »durch unvorsichtiges Tabakrauchen eines Bürgers« das Rathaus nieder. Aus der ganzen Reihe dieser Verheerungen blieben nur zwei bauliche Denkmäler übrig, die noch imstande sind, uns von dem alten Wusterhausen zu erzählen: die Peter-Pauls-Kirche inmitten der Stadt und das Heilige-Geist-Hospital am Wildberger Tore. Beiden wenden wir uns in nachstehendem zu.
Die Kirche Sankt Petri und Pauli ist ein gotischer Bau aus dem Jahre 1474; so dürfen wir aus einer Zahlenangabe schließen, die sich, links über dem Altar, an der Decke des hohen Chores befindet. Sehr wahrscheinlich, daß lange vor 1474 ein romanischer oder frühgotischer Bau an ebendieser Stelle stand. Wie die Kirche gegenwärtig sich präsentiert, überrascht sie – nach Art aller ähnlichen Bauten, die wir in kleinen märkischen Städten finden – durch ihre vergleichsweise Bedeutung. Es geziemt sich, der Phrase vom »finsteren Mittelalter« gegenüber, dies immer wieder hervorzuheben. Während wir jetzt beispielsweise Berliner Gemeinden von 40 000 Seelen haben, die's nur mühevoll zu einer Kapelle bringen, schufen damals allerkleinste Städte Kirchen wie diese, Kirchen, die uns auch heute noch, aller Verstümmelungen und Beraubungen unerachtet durch ein gewisses Maß von Schönheit und Reichtum imponieren. Kirchen bauen und Kirchen schmücken lag eben in der Zeit, und auch unsre Peter-Pauls-Kirche zu Wusterhausen durfte Nutzen aus der allgemeinen Stimmung ziehen. Freilich, wie schon angedeutet, sind nur Reste früheren Glanzes auf uns gekommen. Statt an zwölf Altären (von denen noch die Namen existieren) wird nur noch an einem gebetet, die Holzskulpturen sind zerstört, die Grabsteine zu Türschwellen geworden; der hohe Turm ist niedergebrannt und eine einfache Ziegelkappe wächst nur wenig über das Kirchendach hinaus. Aber wie kümmerlich diese Rudera sein mögen, sie sind ausreichend, uns erkennen oder ahnen zu lassen, was hier einstens war.
Die Holzskulpturen. An jeder Seite des hohen Chors befinden sich acht eichenholzgeschnitzte Chorstühle, die früher, ganz ersichtlich, ebenso viele kleine Baldachine getragen haben müssen oder aber schmale, dicht aneinandergefügte Holzfelder, deren Gesamtheit einen gotischen Schirm herstellte. Dieser gotische Schirm fehlt jetzt bis auf vier Seitenfelder, die hüben und drüben die Reihe der Chorstühle flankieren, und zwar derart, daß der jedesmal zuoberst und zuunterst Sitzende seinen Kopf seitwärts an ein solches Holzfeld anlehnen kann. Alle vier Holzfelder sind gotisch umrahmt und zeigen in ihrer Mitte bemalte Relieffiguren: 1. eine Maria mit dem Christkinde, 2. einen Bischof, 3. einen Abt und 4. einen Mönch. Ob die Bezeichnung unter 2 und 3 richtig ist, stehe dahin. Der »Bischof«, oder der, den ich dafür halte, trägt ein purpurfarbenes, mit Edelsteinen besetztes Gewand; der »Abt« den Schlüssel. Die Figur des Letztern ist die weitaus beste und erscheint mir nicht ganz ohne Kunstwert. Abt und Mönch interessieren auch dadurch, daß beide große, mit Buchklammern versehene und in ein eigentümliches Futteral gesteckte Meßbücher tragen. Die Lederbekleidung dieses Futterals hört nämlich nach oben zu mit dem Bucheinbande nicht auf, sondern wächst noch einen Fuß hoch über die festen Deckel hinaus. Dadurch ist Gelegenheit gegeben, das schwere, ziemlich unhandliche Meßbuch bequem zu tragen, indem man es reisetaschenartig an diesem Lederüberschuß festhält. Ich habe geglaubt, dies so ausführlich beschreiben zu sollen, weil ich weder hierzulande noch sonstwo einer derartigen Einbandform, die Futteral und Tragbeutel zugleich ist, begegnet bin.
Bilder. Die Wusterhausener Kirche weist auch viele Bilder auf. Einundzwanzig davon bedecken die quadratischen Felder der Empore, die sich an der Nordseite der Kirche hinzieht, und stellen, nach Art der »Stationen«, aber über diese hinausgehend, die Leidensgeschichte Christi dar, vom Abendmahl und dem Gebet am Ölberge bis zur Himmelfahrt und dem Jüngsten Gericht. Diese einundzwanzig Bilder, wenn ich recht gesehen habe, rühren nicht von derselben Hand her, obschon sie derselben Zeit zu entstammen scheinen. Das Jahr 1575, wie aus verschiedenen Inschriften hervorgeht, ist ein großes Restaurationsjahr für die wusterhausensche Kirche gewesen, und in ebendiese Zeit möcht ich auch diese Bilder setzen. Lucas Cranachsche Schule, der wir ja überall in den Marken begegnen. Einige, namentlich die sechs oder acht Blätter, die die eigentliche Leidensgeschichte darstellen, sind außerordentlich gut konserviert, frisch im Kolorit und nicht ganz ohne Wert. – Dagegen sind die dem siebzehnten Jahrhundert entstammenden Pastorenportraits in der Taufkapelle völlig bedeutungslos. Das Altarblatt der Wusterhausener Kirche ist ein Bild aus verhältnismäßig neuerer Zeit (etwa 1770) und rührt von Bernhard Rode her, den man in so vielen unserer märkischen Kirchen, namentlich in der Berliner Marien- und noch besser in der Garnisonkirche, studieren kann. Dies große Wusterhausener Blatt stellt die Begegnung Christi mit Thomas dar, der, nachdem er seine Finger in die Nägelmale gelegt, in die Worte ausbricht: »Mein Herr und mein Gott.« – Bernhard Rode war ein sogenannter Schnellmacher, und die Mängel aller seiner Arbeiten sind evident; in einem aber grenzt er an die wirklichen Meister: er besaß eine völlig selbständige Vortragsweise, so charakteristisch, daß es selbst dem Laien leicht wird, seine Bilder auf zwanzig Schritt als Rodesche Bilder zu erkennen.
Zwei alte Kelche und eine noch viel ältere Patene befinden sich in der Sakristei. Die beiden Kelche sind aus der Renaissancezeit; der größere, minder schöne trägt die Jahreszahl 1609, der etwas kleinere gehört wahrscheinlich dem schon oben genannten Restaurationsjahre 1575 an. Dieser kleinere Kelch, in der damals üblichen Form, ist sehr schön und mit Medaillonportraits reich geschmückt. Die Patene, noch aus der gotischen Zeit, geht mindestens bis auf das Erbauungsjahr der Kirche, 1474, zurück. Christus, von zwei Engeln umschwebt thront als Weltrichter; zur Rechten seines Hauptes ein Kreuz, links ein Schwert; vor dem Munde des Heilands aber berühren sie sich, und zwar so, daß die Spitze des Schwertes die Verlängerung des Kreuzes trifft.
Die kirchlichen Gebäude Wusterhausens, trotzdem es während der Mehrzahl seiner Jahrhunderte keine tausend Einwohner hatte, beschränkten sich nicht auf »Sankt Peter und Paul«. Da war noch die Kapelle von Sankt Stephan und außer dieser das Gertruden-, das Georgen- und das Heilige-Geist-Hospital, von denen jedes wieder ein Kirchlein hatte. Das Heilige-Geist-Hospital, hart am Wildberger Tor, existiert noch. Es bietet dadurch ein besonderes Interesse, daß es früher ein Beguinenhaus (deren es ziemlich viele hierzulande gab) gewesen sein soll.
Die Beguinen, wahrscheinlich von Lambert de Bègues gestiftet und nach ihm benannt, übten eine Tätigkeit, die wir heut in den Diakonissenanstalten wiederfinden. Ihre Tätigkeit umfaßte neben Erziehung der Jugend (namentlich der Waisen) auch Armen- und Krankenpflege, später auch Seelsorge. Die große Liebestätigkeit der Beguinen stellte zuzeiten die Klöster völlig in Schatten, weshalb sie von diesen mit Neid betrachtet und von seiten der Kirche nicht selten in ihrer Tätigkeit behindert wurden. Die Päpste standen verschieden zu ihnen. Unter den Machthabern waren Karl V. und Louis XIV. sehr für sie eingenommen; Joseph II., bei Aufhebung der Klöster, ließ sie fortbestehen. Im allgemeinen ist ihre Tätigkeit dieselbe geblieben; andererseits sind viele Beguinenhöfe aus Liebesanstalten zu Nutz und Frommen anderer in bloße Versorgungsanstalten für ältere Frauen umgewandelt worden. Holland und Belgien waren immer der Hauptschauplatz ihrer Tätigkeit; berühmt bis diesen Tag ist der Beguinenhof in Gent. Einige finden sich in Nordfrankreich; bei uns in Bremen.
Unser Wusterhauser Beguinenhaus, das bereits um 1307, wenn auch nicht unter dieser Bezeichnung, genannt wird, ist jedenfalls jenen vorerwähnten Beguinenhöfen zuzurechnen, die zu nicht näher anzugebender Zeit aus Liebesanstalten zu bloßen Versorgungsanstalten wurden. Mit anderen Worten: unser Beguinenhaus wurd ein Spittel. Das ist es noch. Es reizte mich, diese wenigstens ehedem halbklösterliche Stiftung kennenzulernen.
Das Gebäude (ein Eckhaus) präsentiert sich an seinen beiden Vorderfronten als ein kümmerlicher Bau aus dem vorigen Jahrhundert; nur etwas mehr nach der Vorstadt hin, auf den ersten Blick ohne rechten Zusammenhang mit den Eck- und Fronthäusern, steht noch ein gotischer Giebel, ziemlich malerisch, mit Glockennische und Storchennest. Erst nachdem man eins der Fronthäuser, gleichviel welches, durchschritten hat, nimmt man wahr, daß man sich innerhalb einer klösterlichen Anlage befindet: ein Hof, nach drei Seiten hin von Häusern umstellt; die vierte Seite, das Quadrat abschließend, eine Kapelle.
Wie die drei Häuser, so ist auch die Kapelle bewohnt die längst aufgehört hat, kirchlichen Verrichtungen zu dienen. Aus Altären wurden Feuerstellen, und statt des Weihrauchs zieht Torfqualm durch die Luft; gespaltenes Holz liegt hoch aufgeschichtet in den Nischen, und wo sonst ein geschnitztes Christusbild zwischen zwei Pfeilern hing, ist jetzt ein Hängeboden gezogen, auf dem Kisten und Kasten, Urväter Hausrat und die letzten Ausläufer alten Trödels stehn. Leitern führen hinauf, halsbrecherisch wie der Hängeboden selbst. Der untere Raum der Kapelle wurde längst zu Wohnungen aufgeschlagen, und auf dem Mittelgange schlurren jetzt die Nachfolgerinnen der Beguinen auf und ab oder klappen mit ihren Pantinen über den Estrich hin. Eine von ihnen machte die Honneurs und zeigte mir draußen auf dem Klosterhof, an einem breiten und weit vorspringenden Pfeiler, sechs Höhlungen, in denen noch, bis vor wenig Jahrzehnten, ebenso viele fest eingemauerte Beguinenschädel sichtbar gewesen seien. Ich bat, indem ich ihr dankte, noch einen Augenblick bleiben zu dürfen, worauf sie sich zurückzog. Sie war unzweifelhaft der esprit fort und die historische Autorität des Spittels.
Ich war nun allein und sah mich mußevoll um. Wunderliches Bild. Der kaum zwanzig Schritt im Quadrat habende Hof war in zwei Teile geteilt, von denen der eine ein Blumengarten, der andre ein Dunghaufen war. An der Grenze zwischen beiden stand ein Apfelbaum und streckte seine Zweige nach links und rechts hin über Gerechte und Ungerechte; von dem links gelegenen Blumengarten her zog Resedaduft nach rechts hinüber und tat, was er konnte; aber er konnte nicht viel. Oben im Nest, am Giebelfelde der Kapelle, begann der Storch zu klappern – ein sonderbarer Genosse hier.
Ich zog mein Notizbuch, um das Bild in wenig Strichen festzuhalten, wobei mein Hauptaugenmerk oben auf das Storchennest und unten auf den Pfeiler mit den sechs Höhlungen gerichtet war.
Und nun war ich fertig. Noch ein Blick auf meine Zeichnung, dann sah ich wieder um mich her. Aber himmlische Mächte, was war inzwischen geschehen?! Aus jedem Fenster sah ein »Beguinengesicht« und grinste mich an, alle von einer Spittel-Ausgesprochenheit, die's ihnen erlaubt hätte, ohne weitere Vorbereitungen in die sechs Höhlungen einzutreten.
Und mit verlegener Herzlichkeit grüßend, wie man's tut, wenn man sich fürchtet, empfahl ich mich und floh die Straße hinab und vor das Wildberger Tor hinaus.