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Wohl hab ich euer Grüßen,
Ihr Ahnen mein, gehört; Eure Reihe soll ich schließen, Wohl mir, ich bin es wert. |
Mit Tramnitz haben wir unsre Wanderungen an »Rhin und Dosse« beendet und kehren nunmehr auf die große Straße zurück, um mit Hülfe derselben das Ruppiner Plateau von West nach Ost oder von der Prignitz bis zur Uckermark hin zu durchschneiden. Die Dörfer und Städte, denen wir auf dieser Querlinie begegnen werden, sind Ganzer, Gottberg, Kränzlin, Lindow und Gransee.
Zunächst Ganzer, ehemaliger Besitz der Familie Wahlen-Jürgaß, etwa zwei Meilen westlich von dem Zietenschen Wustrau.
Beide Familien, die Zieten und die Jürgaß, waren recht eigentlich ruppinsche Geschlechter, seßhafte Leute, die, durch die Jahrhunderte hin, schlicht gelebt und treu gedient und den Boden ihrer Väter in Ehren gehalten hatten. Hans Zieten zu Wildberg, wie schon in unsrem Wustrau-Kapitel hervorgehoben, war Geschworner Rat des letzten Grafen zu Ruppin und begleitete diesen auf den Wormser Reichstag, um dieselbe Zeit aber saßen auch schon die Jürgaß auf Ganzer und werden 1525 urkundlich genannt. Von da ab gehen die Zieten auf Wustrau und die Jürgaß zu Ganzer in Leid und Freud mit- und nebeneinander, um schließlich auch, wie ein altes Paar, gemeinschaftlich in den Tod zu gehen. Nur um anzudeuten, wie vielfach beide Familien versippt und verschwägert waren, stehe hier das Folgende. Die Mutter des berühmten alten Zieten war Ilsabe Katharina von Jürgaß aus dem Hause Ganzer (geboren 1666), und die erste Frau des alten Zieten war wiederum eine Jürgaß (Leopoldine Judith, geboren 1703). Aus dieser Ehe, zwischen Hans von Zieten und Judith von Jürgaß, ward eine Tochter geboren, Fräulein Johanna von Zieten, die sich mit Karl von Jürgaß vermählte, der seinerseits wieder ein Sohn Joachims von Jürgaß aus seiner Ehe mit Luise von Zieten war.
Man wird an diesem einen Beispiel erkennen, daß die Verwandtschaft oft fünf- und sechsfach und in ihren verschiedenen Graden gar nicht mehr zu verfolgen war. Es waren nur noch zwei Familien dem Namen nach, während längst dasselbe Blut in den Adern hüben und drüben floß.
Ganzer selbst ist ein noch übriggebliebenes Musterstück aus jener Zeit her, wo die Dörfer im Ruppinschen, oder doch viele von ihnen, nicht aus einem Rittergute, sondern aus zwei, vier und selbst sechs Edelhöfen bestanden, die dann freilich sehr viel mehr einem Bauernhof als einem Rittergute glichen. Auch Ganzer gehörte seinerzeit vier Familien, und zwar den von Jürgaß, von Rohr, von Kröcher und von Wuthenow, aus welcher Vierteilung später eine Zweiteilung ward, indem der ganze Grundbesitz, durch Kauf oder Tausch oder Erbschaft, an die Rohr und die Jürgaß überging. Das war ohngefähr zu Anfang des vorigen Jahrhunderts, und diesen Charakter eines zweigeteilten Besitzes hat sich das Dorf in einer so markanten und zugleich so malerischen Weise gewahrt, wie mir kein zweites Beispiel in der Grafschaft bekannt geworden ist.
Wir halten vor dem Dorfeingang und schwanken, ob wir unser Fuhrwerk nach links oder rechts hin lenken sollen, denn scharf einander gegenüber erblicken wir zwei Krugwirtschaften, jede mit dem üblichen Vorbau, jede mit einer Anzahl Stehkrippen und jede mit einem Wirt in der Tür. Wir entscheiden uns endlich für links und sind infolge dieser Wahl, ohne Wissen und Wollen, auf der Rohrschen Seite gelandet.
Der Damm oder Fahrweg macht die Grenze: was links liegt, ist alt-Rohrscher, was rechts liegt, alt-Jürgaßscher Besitz. Jede Seite hat ihr Herrenhaus und ihren Park, und nur die Dorfgasse samt Kirchhof und Kirche bildet das beiden Hälften Gemeinschaftliche.
Wir haben im Krug ein Gespräch angeknüpft und über die beiden alten Herren von Jürgaß, zwei Brüder, die nun seit dreißig Jahren und länger das Zeitliche gesegnet haben, ein wenig zu plaudern gesucht, aber sei's nun, daß unser Wirt, als »Rohrscher«, sich um die Jürgasse drüben nie recht gekümmert hat, oder sei's andererseits, daß all die zwischenliegenden Aussaaten und Ernten ihre Bilder in seiner Erinnerung etwas abgeblaßt haben, gleichviel, seine Mitteilungen beschränken sich darauf, »dat de een en beten streng wör« und »dat de anner et ümmer wedder goodmoaken un 'n Daler gewen deih«. »Awers« – so schloß er – »he gäw en ümmer so, dat de Broder nix merken künn.«
Wir verabschieden uns nun und treten auf die malerische Dorfgasse hinaus. Links vom Wege, von hohen Ulmen und Linden umstellt, schimmern die weißen Wände des alten Rohrschen Herrenhauses (eines weitschichtigen Fachwerkbaus mit schwerfälligen Flügeln und Doppeldach), das halb gemütlich, halb spukhaft dreinblickt, je nach der Stimmung, in der man sich ihm nähert, oder nach der Beleuchtung, die zufällig um die Kronen der alten Ulmen spielt. Dem Rohrschen Herrenhause folgt dann die Kirche samt Schulhaus und Predigerhaus, zwischen denen ein Garten in leiser Schrägung ansteigt. Es summen Bienen drüberhin, und träumerisch die Steige verfolgend, stehen wir plötzlich, statt zwischen Beeten, zwischen Gräbern. Unwissentlich haben wir den Schritt aus Leben in Tod getan.
Die frühgotische Kirche hat einen Schindelturm aus späterer Zeit. Ihr Inneres ist einfach und erhält nur durch die Zweiteilung, der wir sofort auch hier wieder begegnen, einen bestimmten Charakter. Links die Rohrsche, rechts die Jürgaßsche Seite: hier ein paar Rohrsche Galanteriedegen aus der Zeit der Zöpfe, dort ein Jürgaßscher Säbel und Federhut aus der Zeit der Freiheitskriege, hier eine Rohrsche Familiengruft, dort eine Jürgaßsche. Die Jürgaßsche gleicht mehr einer in gleicher Höhe mit dem Kirchenschiffe befindlichen Grabkammer, durch deren Fensterchen man die dahinter aufgeschichteten Särge zählen kann. Anders die Rohrsche Gruft. Über ihrer Eingangstür erhebt sich eine vortreffliche Marmorbüste (vielleicht von Glume), die wohl eine andere Inschrift als die folgende verdient hätte: »Bedaure und verehre, billiger Wandersmann, hier noch die Asche eines Ruhmwürdigen, eines im Leben Gerechten, im Tode Unverzagten, dessen Rat Land und Leuten treulich geraten, aber wider des Todes allgemeinen Einbruch als eines Landrats (das heißt, trotzdem er ein Landrat war) nichts vermochte. Seine Schwachheit und Stärke siegen zugleich. Seine Stärke durch weisen Rat wider die Unsterblichkeit. Darum stößt die Fama durch Posaunen noch seinen Ruhm aus, und die flüchtige Zeit kann seine ruhmwürdigen Taten nicht verbergen noch zernichten. Sein Lorbeerkranz grünt mitten unter Zypressen, und sein Palmbaum trägt Früchte in Apollens Garten, wo Mars ihm von ferne steht und den Zutritt scheuet wie ein Unbekannter. Die Schwachheit siegt durchs Alter und trägt die Krone des Lebens im Glauben davon am Ende.« Einzelne Stellen dieser Grabschrift sind völlig unverständlich. Am bemerkenswertesten ist wohl der Passus, wo Mars, in seines Nichts durchbohrendem Gefühle, Bedenken trägt, dem alten Rohr unter die Augen zu treten. (Alle diese Inschriften, in denen der Lebensberuf des Hingeschiedenen zu allerhand Wortspielen benutzt wird [hier also »Landrat«], haben ihr unerreichtes Vorbild in der berühmten Postmeister-Grabschrift zu Salzwedel. Sie lautet: »Eile nicht Wandersmann! als [wie] auf der Post; auch die geschwindeste Post erfordert Verzug im Posthause. Hier ruhen die Gebeine Herrn Matthias Schulzen, königlich preußischen, fünfundzwanzigjährigen, untertänigst treu gewesenen Postmeisters zu Salzwedel. Er kam allhier 1655 als ein Fremdling an. Durch die heilige Taufe ward er in die Postcharte zum himmlischen Kanaan eingeschrieben. Darauf reisete er in der Lebens-Wallfahrt durch Schulen und Akademien mit löblichem Verzug. Hernach, bei angetretenem Postamte und anderen Berufssorgen, richtete er sich nach dem göttlichen Trostbriefe. Endlich, bei seiner Leibesschwachheit, dem gegebenen Zeichen der ankommenden Todespost, machte er sich fertig. Die Seele reisete den 2. Junius 1711 hinauf ins Paradies, der Leib hernachmalen in dieses Grab. Gedenke, Leser, bei deiner Wallfahrt beständig an die prophetische Todespost, Jesaja 38, 1.«)
Die Jürgaßsche Gruft ist ohne Schmuck und Bild, aber draußen auf dem Kirchhofe, zwischen Blumen und Gräbern, steht ein mächtiges Monument das nicht einem einzelnen Toten, sondern dem ganzen aus diesem Leben geschiedenen Geschlecht errichtet ist. Die beiden letzten Jürgasse, »de strenge un de gode Herr«, wiesen in ihrem Testament eine bedeutende Summe zur Aufführung desselben an, und mit Gewissenhaftigkeit sind die Vollstrecker des Testaments diesem Letzten Willen nachgekommen. Es ist kein eigentliches Grabmal, sondern, wie schon hervorgehoben, ein mehr architektonisch gehaltenes Monument und stellt auf einem hohen Postamente von Sandstein, dem als nächstes ein Eisenwürfel folgt, eine baldachinartige, nach allen vier Seiten hin geöffnete Nische dar, in der, gesenkten Blickes, ein Engel des Friedens steht. Der Eisenwürfel ist mit Inschriften überdeckt. Was im Durchlesen dieser Inschriften am meisten überrascht, ist, daß die beiden letzten Jürgaß einer überaus zahlreichen Familie von acht Brüdern und einer Schwester angehörten, daß aber alle acht Brüder starben, ohne Kinder hinterlassen zu haben. Ein neuer Beweis, wie der Prozeß des Lebens nach frischem Blute verlangt.
Von den Inschriften mögen hier nur die beiden stehen, die, für länger oder kürzer, die Namen der beiden letzten Jürgasse der Nachwelt erhalten werden.
Auf dem Seitenfelde zur Linken lesen wir wie folgt: »Herr Alexander Konstantin Maximilian von Wahlen-Jürgaß, königlich preußischer Generallieutenant von der Kavallerie, Drost zu Stückhausen, Ritter vieler hoher Orden, Erbherr auf Triglitz, geboren den 15. Junius 1758 zu Ganzer, focht von 1778 bis 1816 in allen preußischen Kriegen, wohnte sechsundzwanzig Schlachten und Hauptgefechten bei, ward bei Hainau durch den Schenkel und bei Ligny durch die Brust geschossen. Ein Muster der Tapferkeit und der Herzensgüte, geehrt und geliebt von seinem Könige und von jedermann, starb er zu Ganzer den 8. November 1833.« Obiger Inschrift füg ich hier noch folgende biographische Notizen hinzu: Alexander Georg Ludwig Moritz Konstantin Maximilian von Wahlen-Jürgaß, am 5. Juni (auf dem Monumente steht »am 15.«) 1758 zu Ganzer geboren, ward er auf der école militaire zum Kriege gebildet und trat im Jahre 1775 in das damalige Regiment Gensdarmes, darin er 1803 zum Major avancierte. Im unglücklichen Feldzuge von 1806 von einer Masse feindlicher Reiterei umzingeln griff er den Feind, mit etwa 350 Mann, nichtsdestoweniger an und kämpfte auf einem sehr ungünstigen Terrain gegen die französische Division Beaumont. Obgleich der Major von Jürgaß im nächtlichen Getümmel einen Hieb über den Kopf erhielt, so sammelte er dennoch brave Kameraden, schirmte die Standarte und schlug sich mutig durch. Er stieß später zu dem Corps des Prinzen von Hohenlohe, welches eben im Begriff war, das Gewehr zu strecken. Von Jürgaß entzog sich dieser Schmach und entkam noch einmal glücklich, indem er zu dem Corps des Generals von Biela stieß, mit dem er dann leider doch bei Anklam gefangen wurde. Nach dem Tilsiter Frieden lebte er bei seinem Bruder in Ganzer. Bei der neuen Formation erhielt er 1809 wieder eine Anstellung im brandenburgischen Kürassierregiment, zwei Monate darauf ward er Kommandeur des Brandenburger Dragonerregiments, 1812 aber Obristlieutenant, in welcher Eigenschaft er dem Corps des Generals von Grawert in Kurland zugeteilt wurde. Er befehligte meistenteils die Vorposten, wozu seine ungemeine Tätigkeit und Wachsamkeit ihn vorzüglich eigneten. Im Jahre 1813 kommandierte er als Oberst eine Brigade in dem Corps seines vertrauten Freundes, des damaligen Generals von Blücher. Er focht tapfer bei Großgörschen und Bautzen und erhielt bei Hainau, als er in die feindlichen Vierecke einbrach, einen Schuß in den Schenkel. Später trug er in dem furchtbaren Kampfe bei Möckern zu dem glücklichen Erfolge dieses entscheidenden Tages wesentlich mit bei und wurde dafür zum Generalmajor erhoben. In Frankreich ward er mit der Reservereiterei an die Befehle des Prinzen Wilhelm gewiesen, der den Vortrab des Heeres führte. Bei Lachaussée traf er auf die französische Reiterei vorn Corps des Marschalls Macdonald, warf sie über den Haufen und eroberte eine Standarte, fünf Kanonen und die dazugehörigen Pulverwagen. In der Schlacht von Laon entriß er dem Feinde fünfzehn Kanonen und fünfunddreißig Artilleriewagen. Im Jahre 1815, in der Schlacht von Ligny, leitete der Generalmajor von Jürgaß die Angriffe auf das Dorf St-Amand-la-Haye. In der Nacht erhielt er in dem Getümmel einen Schuß unter der linken Schulter, nahe am Herzen. Er empfing darauf im Jahre 1816 den ehrenvollsten Abschied als Generallieutenant. Von da an lebte er abwechselnd in Berlin und bei seinem Bruder zu Ganzer, woselbst er am 8. November 1833 nach langen, höchst bittern körperlichen Leiden starb. (Dies ist »de gode Herr«.)
Auf dem Seitenfelde zur Rechten begegnen wir einer doppelten Grabschrift, und zwar der des letzten Jürgaß und seiner Gemahlin, der letzten Zieten aus dem Hause Wustrau. Jene lautet: »Franz Karl Wilhelm Rudolf von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz, ward geboren den 14. September 1752 zu Ganzer und verstarb daselbst, im zweiundachtzigsten Jahre, den 26. Juni 1834, als das letzte Glied seiner Familie. Er war der treuste Freund seiner Freunde, und alle, die ihn näher kannten, schätzten ihn hoch.« (Dies ist der ältere Bruder, »de en beten streng wör«.) Die andere Inschrift lautet: »Frau Johanna Christiana Sophie von Wahlen-Jürgaß, geborne von Zieten aus dem Hause Wustrau, ward geboren den 23. Januar 1747 und ehelich verbunden am 23. Oktober 1776 mit Karl von Wahlen-Jürgaß, Erbherr auf Ganzer und Triglitz. Ein Muster weiblicher Tugenden und Größe, entschlief sie sanft den 7. Juni 1829.«
Diese Frau von Jürgaß, zugleich die letzte Zieten aus dem Hause Wustrau, hat uns vorzugsweise nach Ganzer geführt, und voll Erwartung, in dem Dorfe, darin sie so lange lebte, noch ihrem Andenken zu begegnen, treten wir jetzt von dem Kirchhof aus auf den Fahrdamm zurück und setzen unsere Wanderung bis zum alten Jürgaßschen Herrenhause fort. Ein Heckenzaun trennt das Haus von der Gasse, von rechts her lehnen sich Wirtschaftsgebäude, von links her hohe Parkbäume bis dicht an den Giebel und geben ein freundliches Bild, aber doch zugleich auch ein Bild äußerster Schlichtheit, und wären nicht ein paar Edeltannen und die Malven, die, hoch am Stock gezogen, ein Stück englischen Rasen umstellen, man würd eine kleine Pachterswohnung, aber keinen Edelhof hinter diesem Heckenzaune vermuten. Und eine Pachterswohnung ist es auch seit des letzten Jürgaß Tode. Wir treten ein und werden freundlich empfangen. Eine junge Frau kommt unsrer Neugier entgegen, zeigt uns Küch und Keller, auch das Zimmer, wo General Blücher geschlafen In der Nacht vom 25. auf 26. Oktober war Blücher mit seinem Corps, das später, nach tapfrem Widerstand, in Lübeck kapitulieren mußte, hier in Ganzer. , und führt uns endlich in den Park hinaus, auf dessen sonnigem Grün die Schatten der leise bewegten Zweige hin und her tanzen. Wir nehmen Platz unter einer breitblättrigen Platane, wo Tisch und Bank zum Plaudern einladen, und während allerhand Erfrischungen, und darunter, als die willkommenste, Milch und Blaubeeren, auf den Tisch gestellt werden, geselle sich uns eine Anverwandte des Hauses, eine schlanke, nicht mehr junge Dame mit dunklen Augen und feingeformtem Mund. Die Pachtersfrau, die bis dahin die Kosten der Unterhaltung mühsam bestritten, ist augenscheinlich froh über den eintreffenden Sukkurs, und mit einem kurzen »Tante Helene weiß alles« ihren Rückzug antretend, eilt sie wieder ins Haus, um nach dem Rechten zu sehen. Und nun sind wir allein, und »Tante Helene« legt ihren breiten Sommerhut beiseite, entweder weil wir im Schatten sitzen oder vielleicht auch, um die Schönheit ihres schwarzen Haares zu zeigen, und während sie mit dem Band am Hute spielt, beginnen meine Fragen. Aber wir verirren uns immer wieder in unsrem Gespräche, sind bald in Wustrau bei den Zietens, bald in Trieplatz bei den Rohrs, bis sie mir die Hand über den Tisch reicht und mit gewinnender Freundlichkeit zuruft: »Es wird nichts; plaudern wir lieber, wie der Zufall es will. Ich erzähl Ihnen brieflich, was Sie wissen wollen. Und seien Sie sicher, ich halte Wort.«
Und sie hielt Wort, und nach kurzer Zeit schon empfing ich folgenden Brief: »Ich habe sie gut gekannt die Frau von Jürgaß, besser vielleicht als irgendwer. Sie nahm mich zu sich, als ich eine Waise geworden war, und so kam ich aus dem Pfarrhaus ins Herrenhaus hinüber. Meine Mutter hab ich nie gekannt, sie starb bei meiner Geburt; aber hätt ich sie auch gekannt, ich hätt ihre Liebe kaum vermissen können, so gut wie die gnädige Frau gegen mich war! Sie war sehr klein und sehr häßlich, und doch mußte man sich immer wieder fragen, ob sie denn wirklich so häßlich sei. Sie hatte kleine blaue Augen, eine wunderbare Nase und gelbe Löckchen, auf denen eine Turmhaube saß. Es ist wahr, sie sah sehr altfränkisch und beinah komisch aus, und doch lachte niemand über sie, dazu war sie zu gut und zu gescheit. Sie besaß aber auch zwei Schönheiten: perlenweiße Zähne, die sie bis zuletzt behielt, und kleine weiße Hände, die mit Ringen überdeckt waren. Ich fühlte mich immer geehrt, wenn ich eine dieser Hände küssen durfte. Sie litt es aber nur selten.
Außer der hohen Haube trug sie Hackenschuhe mit hohen Absätzen. Mitunter, wenn ich die Turmhaube und die hohen Absätze sah, zwischen denen sich die kleine Frau bewegte, kam sie mir noch kleiner vor, als sie wirklich war. Sie liebte ihren Mann und verehrte ihren Schwager, den alten General, und beide vergalten es ihr und trugen sie auf Händen. Es war ein Leben, wie ich es nie wieder gefunden habe, und ich habe doch viele Menschen und viele Häuser gesehen. In Winterzeit, wenn die Wege verschneit und die Freunde ausgeblieben waren, saßen wir oben im Ecksaal und spielten ›Gesellschaft‹. Frau von Jürgaß nahm dann Platz auf dem Sofa, die doppelarmigen Leuchter wurden angezündet und ich durfte nun neben ihr sitzen auf einem großen, alten Fußkissen, darauf der Alte Fritz gestickt war. War alles vorbereitet, so gab sie mir ein Zeichen oder klingelte; dann mußt ich aufspringen und den General von Jürgaß anmelden. Der alte General trat dann auch wirklich herein oder erhob sich von dem Stuhl, auf dem er bis dahin gesessen, und küßte der Gnädigen die Hand, fragte nach ihrem Befinden und nach ihres Bruders Befinden drüben in Wustrau, und eh zwei Minuten um waren, waren sie im lebhaftesten Gespräch über die alte Zeit. Alle Ereignisse, die sie seit fünfzig Jahren zusammen durchlebt hatten, wurden nun wieder durchgeplaudert wie etwas Neues, Fremdes, wovon man die Mitteilung wie eine Ehre anzusehen und deshalb mit Dank und Teilnahme entgegenzunehmen hat. Dann brachen sie plötzlich ab, lachten herzlich, schüttelten sich die Hände und holten das Dambrett herbei, um Schlagdame oder Toccadille zu spielen. Ich muß Ihnen gestehen, es ängstigte mich damals mitunter, die beiden alten Leute so zeremoniell miteinander verkehren zu sehn, und ich dachte dann wohl, sie wären tot und ihre Gespenster kämen zusammen, um an alter Stelle nach alter Weise zu sprechen. Aber ich habe später in andern Häusern oft denken müssen: ›Ach, wenn doch Mann und Frau hier, oder Schwager und Schwägerin, nur ähnliche Gesellschaftsspiele spielen wollten!‹ Und mir fiel dann immer das Wort ein, das Frau von Jürgaß einmal zu mir gesagt hatte: ›Gute Gewohnheiten wollen geübt sein; sie rosten sonst.‹ Dies zeremonielle Wesen schloß übrigens gesellschaftliche Freiheit nicht aus, ja, bedingte sie vielleicht und ich bewunderte Frau von J. jedesmal, wenn, sie, sobald Besuch von den Gütern oder gar aus der Hauptstadt eintraf, die Honneurs des Hauses machte. Den beiden alten Herren an Witz und Wissen sehr überlegen, hätte sie's leicht gehabt, auf ihre Kosten die geistreiche Wirtin zu machen, aber wenn abends beim Souper die alten Anekdoten von Hainau und Katzbach und Vater Blücher zum wer weiß wievielsten Mal erzählt wurden, hörte sie aufmerksam zu und suchte nur durch eine geschickte Wendung der alten Geschichte eine neue Pointe zu geben. Sie war ganz ihres Vaters Tochter: klein, unansehnlich und unschön, aber fromm und mutig und pflichttreu, und wie ihr Vater gestorben war, so starb auch sie, ruhig, hochbetagt und ohne die Bitterkeit des Todes zu fühlen. Sie schlief sanft hinüber. Einen der Ringe, mit denen ich als Kind spielen durfte, wenn ich neben ihr auf dem gestickten Kissen saß, hat sie mir vermacht, aber es hätte dieses Zeichens nicht bedurft um ihrer immer in Dankbarkeit zu gedenken.«
Am 7. Juni 1829 starb des alten Zieten Tochter, am 29. Juni 1854 starb des alten Zieten Sohn. Ein Feldstein ohne Spruch und Inschrift deckt das Grab des letzten Zieten aus der Linie Wustrau, das Monument aber, das zu Ehren des letzten Jürgaß und seines mit ihm ausgestorbenen Geschlechtes errichtet ist zeigt auf dem schmalen Eisenstreifen, der die vier Pfeiler der Nische trägt den schönen Spruch: »Der Herr hat sie zu einem beßren Leben berufen, wo sie sich der Herrlichkeit unsres Erlösers erfreuen.«