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Wie kaum erst hervorgehoben zu werden braucht, bedeutete für einen so hervorragend an Weltbewegung gewöhnten Mann wie W. Gentz ein »Sich-Stabilisieren« nicht zugleich auch ein »Stillsitzen« in Berlin; im Gegenteil, die Reisepassion blieb, und er gab ihr jederzeit willig nach. So war er denn, der früheren, im Jahre 1850 auf 1851 unternommenen ägyptischen Reise zu geschweigen, noch dreimal in Ägypten, und zwar 1864 auf 1865, 1868 auf 1869 und 1871. Desgleichen ging er 1871 auf 1872 nach Palästina, um Studien zu seinem großen Bilde »Einzug des Kronprinzen in Jerusalem« zu machen, und 1873 auf 1874 nach Italien. Im letztgenannten Jahre war er auch auf dem Naturforscher- und Anthropologenkongreß in Stockholm, wohin er sich Anfang August begab, und aus seinen damals an seine Frau gerichteten Briefen möchte ich hier um so lieber Mitteilungen machen, als wir W. Gentz, den Menschen wie den Künstler, immer nur an den Orient geknöpft glauben. Diese Nordlandsbriefe zeigen so recht das Umfassende seiner Beziehungen und Interessen und sind ebenso durch reichen Inhalt wie ganz besonders auch durch eine knappeste Form der Darstellung ausgezeichnet.

Der erste Brief ist noch von heimischem Boden, aus Noer bei Eckernförde, geschrieben.

 

Noer, den 1. August 1874

Es regnet augenblicklich sehr stark. Das gibt mir Zeit zum Schreiben. Dienstag abend elfeinhalb trat ich meine Fahrt hierher an; Mittwoch neuneinhalb morgens war ich in Kiel. Ich ging gleich nach Düsternbrook, mein erstes Seebad zu nehmen. Dort traf ich Kosleck, der die Kieler durch seine Trompetenkonzerte in Aufregung gebracht hat, während er mit seinen Einnahmen weniger zufrieden ist. Für eine Seebadekur scheint sich mir Düsternbrook nicht zu eignen, keine Dünenbildung und das Wasser oft unrein, zumal wenn der Wind das Schmutzwasser vom Hafen hertreibt. Ich selbst traf das Wasser zwar gut und klar, die Buchenwaldung auf der Promenade nach dem Bade prachtvoll, aber auf die Umgebung einer viel größeren Stadt wie Kiel deutend. Das üppige Grün fiel mir auf, das Land war nicht so regenarm gewesen. Land Holstein ist von einer Üppigkeit, die bei uns nicht existiert. Um vier Uhr fuhr ich nach Noer, welches dicht am Eckernförder Busen liegt; man sieht in weiter Ferne Eckernförde liegen, sieht aber auch in weiter Ferne den weiten offenen Horizont des Meeres, was bei Kiel nicht stattfindet. Der Weg nach Noer führt durch die üppigsten Felder und Auen, eingefaßt durch buschige Hecken von Haselnüssen und Brombeeren; überall ragen aus blühenden Gärten die hohen Dächer hervor, auf den Straßen, im fetten Erdreich, weht kein Staub. Noer ist kein Dorf, nur eine Herrschaft von etwa 12 000 Morgen. Das Schloß, 1722 erbaut, ohne architektonischen Schmuck, steht in einem weiten Park. Ich bewohne ein großes Zimmer im ersten Stock, den Meerbusen hinter dichten Baumgruppen überblickend. Des Abends springen Rehe über die Rasenflächen; vor der Veranda, auf welcher der Tee genommen wird, stolzieren ein paar Pfauen, weiße Tauben umschwirren, zur Freude der Kinder, den einfach idyllischen Ort. Die Gräfin ist große Tierliebhaberin, hat zahme Rehe im Hühnerhof und anderes Getier. Auf Menschenumgang muß aber hier verzichtet werden. (Moltke, der augenblicklich in Lübeck, wird in nächster Zeit zum Besuch erwartet.) Der Umgang des Grafen sind seine Bücher, seine Bibliothek, in der er den größten Teil des Tages zubringt; er fühlte sich gestern, da er meinetwegen viel im Freien zugebracht, sehr erquickt; so lange dauernde Luftbäder hatte er lange nicht genommen, wie er mir sagte. In seinem Rock sind offene Hintertaschen für Bücher eingerichtet, die man immer aus denselben herausgucken sieht. Die Gräfin sehnt sich mehr nach Umgang, kultiviert, in Ermangelung desselben, außer der Tierwelt auch die Blumen. Die älteste Tochter, jetzt drei Jahr, ist sehr schwächlich; sie heißt nach der Mutter Carmelita. Die neunmonatliche Tochter Luise, nach der verstorbenen Schwester des Grafen genannt, ist ein pausbäckiges, frisches Kind. Die Einrichtung im Schloß ist einfach, die Möbel teils modern, teils aus dem Anfang des Jahrhunderts stammend. Die Stuckplafonds gehören der Jetztzeit an. An Bildern sind nur Familienportraits da, zwei von Rahl gemalt, den alten Prinzen von Noer, den Vater, darstellend; dann seine Großeltern, der Herzog von Augustenburg, der Anfang des Jahrhunderts Kultusminister war, und die verwitwete Königin von Dänemark, Tante des Grafen. Der Billardsaal grenzt an mein Zimmer; auf dem Billard wird übrigens nicht gespielt, es liegt voller illustrierter großer Werke, meistens Indien betreffend. Das Studium des Grafen bezieht sich, wie Du weißt, hauptsächlich auf Indien und die Sanskritliteratur. Frau Feuerbach, Mutter von Anselm Feuerbach, war eingeladen, hierher zu kommen, konnte aber, wegen Besuch ihres Sohnes aus Wien, diese Einladung nicht annehmen. Lothar Bucher war mal hier. Sonst besteht der Hauptumgang des Grafen aus Engländern, von denen von Zeit zu Zeit jemand herkommt. Der englische Maler Philipp hat ihn auch gemalt. Der Graf war in Karlsbad im Frühjahr; er leidet an Gallensteinen und ist, seit ich ihn zuletzt sah, sehr grau geworden. Auf einer Spazierfahrt durch die zur Herrschaft gehörigen Ortschaften, Wiesen und Wälder sahen wir viel Wild; es ist ein Paradies für Jäger. Das Baden im Meer ist sehr bequem; ein Badekarren steht zu meiner Verfügung; übrigens hat die Sturmflut auch hier große Verwüstungen angerichtet. Gestern hat das Wetter sich aufgeklärt; am Nachmittag fuhren wir pirschen. Heute abend wird mich der Graf nach Kiel zurückfahren lassen, von wo ich um Mitternacht über Korsör nach Kopenhagen gehe. Du sollst, so läßt Dir der Graf sagen, vor allem frisches Brot und ungekochte Milch vermeiden. Was machen die Kinder? Zeichnet Ismael? Hier ist paradiesische Ruhe, die Dir wohl mehr zusagen würde wie mir. Ich will nun mein viertes Bad nehmen; das nächste hoffentlich in Klampenborg.

Wie immer Dein W. G.

 

Nun folgen die von Stockholm datierten Briefe in rascher Reihenfolge, meist von Tag zu Tag.

 

Stockholm, 5. August 1874

In Schweden! Und es sieht just so aus wie bei uns. Die Reise gemacht zu haben ist vor allem interessant darin, zu beobachten, wie wenig Unterschied zwischen hier und bei uns besteht. Als ich mein Zimmer im vierten Stock nach dem Hof, Hotel Rydberg (das erste Hotel hier), bezog, kam eine Krähe ans offene Fenster geflogen, und obgleich ich ihr nichts zu geben hatte, blieb sie sitzen und schalt gewaltig; sie ließ sich fast anfassen. Als ich das Zimmer verließ, packte ich alles vom Tisch, damit nicht im »Spuklande« (Dr. Arnsteins Ausdruck) etwas spukhafterweise verschwinden könne. Schwärme von Raben waren die einzigen Vögel, die ich von Malmö bis Stockholm sah. Als ich, hier angekommen, den Omnibus zum Hotel bestieg, sah ich den Baron Wahlberg, den ich zuletzt in Damaskus getroffen hatte; er erzählte mir in der Eile, daß er, wenn er 20 000 Taler gehabt hätte, den Preußen in Sidon einen schlechten Streich gespielt haben würde; Preußen hat nämlich für diesen Preis die zerstörte Kathedrale in Sidon gekauft, die er hätte kaufen können, das heißt, wenn er gewußt, daß man Friedrich Barbarossa wirklich dort hätte finden können. Nach seiner Behauptung nun wäre er gefunden; und so kann denn Bismarck sein Barbarossa-Drama noch prächtiger und unter direkter Anlehnung in Szene setzen. Meinen Freund Bocklund habe ich in der Akademie getroffen; er ist Direktor derselben geworden, ebenso Direktor des Museums, das übrigens genug des Interessanten bietet. – Es ist schauderhaftes Regenwetter. Da erscheint Stockholm nicht wie Neapel; Du weißt, man nennt es das Neapel wie Kopenhagen das Venedig des Nordens.

Der Graf Noer ließ mich Sonntag abend sehr schnell und bequem an den Kieler Landungsplatz fahren, läßt Dich grüßen und Dich einladen, dort zu baden. Es würde Dir zwar sehr gut, der Stille wegen, gefallen, ich habe ihm aber doch geantwortet, er solle erst uns mit seiner Frau einmal besuchen. In seiner Bibliothek steckt ein kleines Vermögen; er möchte gern, daß ich auf der Rückreise wieder mit herankäme und Virchow mitbrächte. Ich glaube nicht, daß dieser sich dazu bewegen lassen wird, obgleich Virchows Busenfreund, Professor Goldstücker, Sanskritist in London, dort war.

Die Seereise habe ich vollständig verschlafen; ich kam um zehn Uhr an Bord, Ankunft in Malmö morgens zehneinhalb Uhr. In Kiel sah ich beim Soupieren Frau von Saldern mit ihren Kindern und einem fremden Herrn. Die Fahrt von Malmö bis Stockholm dauerte achtzehn Stunden. Gute Gesellschaft im Coupé. Ein belgischer Gesandter, ein Däne, dann Capellini, der Präsident des Kongresses in Bologna vor zwei Jahren, und noch ein anderer Italiener – alles Kongressisten. Der Name Virchow wirkt hier wie ein Zaubername, selbst bei den Franzosen, die zwar – nachdem sie mich an der Sprache nicht als einen verhaßten Preußen erkannt hatten – in Schreck gerieten, als ich mich als einen solchen deklarierte, nach ihrem Schrecken jedoch mich gleich nach Virchow fragten.

Die Hotels hier und in Kopenhagen sind überfüllt, auch alle Kommissionäre in Anspruch genommen, so daß ich wenig während meines bisherigen kurzen Aufenthaltes im Norden sehen konnte. Wie schön kam mir Kopenhagen vor soundso viel Jahren vor; der Mensch aber ändert sich mit den Zeiten. In der Nähe von Malmö sieht es aus wie bei Lichterfelde, denn viele Wiesen, Massen von Kühen und Pferden weiden auf ihnen; grau bleibt die Landschaft immer. Das ganze Land ist wie besäet mit erratischen Granitblöcken, je größer, je mehr man sich der Hauptstadt nähert. Die vielen Seen erscheinen blauer wie bei uns, Birken fast die durchgängige Vegetation, lila die Farbe der Wiesenblumen. Die Holzhäuser sind ganz rot angestrichen, die Leute sehr artig und honett, die Verpflegung auf den Eisenbahnhöfen idealisch. Man bezahlt eine verhältnismäßig geringe Summe und ißt und trinkt dann kalt oder warm, soviel man will und kann. Das Büffet ist so variiert wie in den feinsten Gesellschaften... Sollte das Wetter hier immer so schlecht bleiben, würde ich nicht bis Schluß des Kongresses aushalten, sondern spätestens am 14. abreisen. Geht die Kur gut vonstatten? Wie geht es den Kindern?

Wie immer Dein W. G.

 

Stockholm, 6. August 1874

In Schweden blühen die Linden spät und spärlich. Ich schicke Dir ein Spezimen, wie es eben hier vorkommt, im Stockholmer Tiergarten gepflückt von wo ich soeben zurückkomme. Man fährt hier viel auf Dampfschiffen, die, omnibusartig, fortwährend herüber- und hinüberfahren, und zwar für einen sehr geringen Preis. Das Wetter ist heute weniger schlecht, obgleich ich den ganzen Spaziergang mit aufgespanntem Regenschirm gemacht habe. Da ich mit Hülfe eines von mir aufgetriebenen Kommissionärs mehr habe sehen können, bin ich heute auch zufriedener gewesen als gestern. Ich war im Schloß, wo sich vorzügliche Gobelins befinden; eine bessere Dekoration als selbst Bilder, wenn sie von solcher Schönheit sind wie hier. Natürlich alle französisch. Danach die Synagoge gesehen; maurisch, sehr originell. Alle hier befindliche Statuen, die Gustav Wasas, Gustav Adolfs, Karls XII. usw. (einige davon von Molin und Byström), sind gut. Das Skandinavische Museum genau betrachtet. Ein Konservator führte verschiedene Kongreßmitglieder, denen ich mich anschloß; das Waffenmuseum, die Kostüme der schwedischen Könige und Königinnen, das Antikencabinet – in allen sehr interessante Sachen. Im »Tiergarten« das Schloß Rosendal gesehen.

Sehr alt ist hier nichts, jedoch finden sich immer Einzelheiten, an denen man lernen kann. Die Vergnügungslokale sind teilweise im Alhambrastil; dasselbe gilt vom Tivoli in Kopenhagen, in dem sich sogar ein sehr schönes chinesisches Theater befindet. Den Vorhang desselben bildet ein chinesischer Pfau, mit ausgebreitetem Schweif. Das Thorwaldsen-Museum, außen bemalt, hat Anklänge ans Altägyptische; der gemalte Fries aber befindet sich unten, parterre, auf schwarzem Grunde. Drinnen auch viel schwarze Farbe. Drei Indianer fuhren auf dem Schiff von Kopenhagen nach Malmö mit uns; sie wurden viel angestaunt. Virchow und Kuhn getroffen. Virchow hatte für mich ein Zimmer im »Kung Karl« bestellt, was ich leider nicht wußte. Tut mir jetzt leid, ihn nicht vorher in Berlin aufgesucht zu haben. Zur feierlichen, auf morgen angesetzten Eröffnung des Kongresses weiße Krawatte gekauft die ich ohnehin nötig hatte, weil uns die Stadt Stockholm morgen abend ein Bankett gibt. Meine Einladung trägt die Nummer 889. Übersicht über Stockholm heute morgen vom höchsten Punkt aus genossen. Zum Seebaden hier keine Gelegenheit. Die Bäder befinden sich im Mälarsee. Ich hoffe, es geht Euch wohl.

Wie immer Dein W. G.

 


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