Felix Dahn
Julian der Abtrünnige
Felix Dahn

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Einunddreißigstes Kapitel

Ich wagte endlich, zweifelnd den Kopf zu schütteln.

»Jawohl, die Not«, wiederholte er feierlich. »Mag sein, daß hin und wieder jene Wagelust ein Häuflein von jungen Kriegern, eine Gefolgschaft zu einer Raubfahrt verführt; das ist ein Nichts. Damit erobert man nicht römische Provinzen und wirft nicht eure Weltmacht über Rhein und Donau zurück. Nein, Cäsar Julian, sind es doch von den Kimbern an bis auf unsere Tage wirklich ganze Völker, mit Weibern und Kindern, mit Greisen und Kranken, mit Unfreien und Herden und allem Hausrat auf den rinderbespannten Wagen, die, immer und immer wieder, den von euch aufgezwungenen Vertrag brechend, an und über eure Grenzen fluten: In das seit Jahrhunderten sichere, jedesmal vorauszusehende Verderben. Wähnst du wirklich, nachdem ungezählte Millionen von uns auf den Schlachtfeldern gefallen, auch Weiber und Kinder als Sklaven von euch fortgeschleppt, andere in euern Arenen verblutet oder als Colonen über alle euere Provinzen verstreut worden sind –, glaubst du wirklich, fast Jahr für Jahr wirft bloße Abenteuerlust diese Hunderttausende – auch von Wehrunfähigen! – immer wieder an eure Grenzen, mit der sichersten Aussicht, zu zerschellen, zu versprühen wie die brandende Welle am Fels? Nein, das kann nur die einzige Macht der Welt: die Notwendigkeit!«

Ich war sehr ernst geworden, und Jovian suchte meinen Blick mit einem Seufzer. »Aber – welche Notwendigkeit, welche Not?« brachte ich hervor, tief ergriffen von des Mannes Erregung und von dem neuen Einblick in diese Bewegungen. »Hungersnot. Wohl ist das Land weit, das wir bewohnen, und solange die Ahnen als Weidehirten es durchzogen, nährte es die ganze Volkszahl. Wir mußten aber seßhaft werden, seßhaft, nicht wie früher, nur im Vorüberziehen, den Acker bestellen, von der ehernen Mauer eurer Legionen festgehalten an Rhein und Donau. Und nun geschah eine ganz gewaltige Mehrung des Volkes, seit zu dem Ertrag von Viehzucht und Jagd die Kornfrucht trat.«

Besorgt sprach Jovian: »Du hast recht; unsere Feldherrn, unsere Schriftsteller staunen, wie nach den blutigsten Verlusten aus euren Wäldern immer und immer wieder neue Tausende hervorquellen.« – »Unheimlich, grauenerregend ist solche Unerschöpflichkeit«, rief ich, nicht ohne leise Furcht. »Woher diese unglaubliche Fruchtbarkeit?«

»Sie ist die Folge der Keuschheit unseres Volkes. Spät, mit dreißig Jahren etwa, berührt der Jüngling zuerst ein Weib: sein Eheweib! Daher ist sie unerschöpflich, die keusch gesparte Jugendkraft. Bei euch hat schon Augustus Geldbelohnungen für Eheschließungen und für Zeugung ehelicher Kinder ausgesetzt. Ich fürchte«, spottete er, »ein Kind, das gezeugt wird, aus Berechnung jener Vermögensvorteile – ich fürchte, das empfängt kein Heldenmark.«

»Ihr habt aber doch Raum vom Rhein bis an die Mündungen des Ister!«

»Wohl: Allein Wald und Sumpf, die fast alles Land rechts vom Rhein bedecken, gewähren der unaufhörlich wachsenden Menge nicht Nahrung, und wir haben weder Kenntnisse noch Geduld, noch Gerät, all das Ödland in Bauland zu verwandeln; so ist's Landnot, die Brotnot, die uns treibt. ›Land, Land, Land, um es zu bebauen!‹ schreien wir seit den Tagen der Kimbern und der Teutonen – vierhundert Jahre lang! – euch zu. ›Dafür wollen wir kämpfen gegen all eure Feinde.‹ Und eure Antwort? ›Eure Brüder, die Teutonen‹, höhnte Marius den Kimbern zu, ›haben schon soviel Land als sie brauchen: ein Grab.‹ Und selbst ein Tacitus sagt achselzuckend: ›Die Erde gehört nun einmal dem Römervolk: seht zu, wo ihr bleibt.‹ Gut denn; wir werden zusehn!« knirschte er grimmig. »Darum, ich wiederhole, gibt es mit euch keinen Frieden, solang solche Hybris euch erfüllt. Darum müssen wir notwendig, wie Welle auf Welle an das Ufer rauscht, über alle aufgezwungenen Verträge hinweg, immer wieder in euere Provinzen brechen, bis wir untergegangen sind oder ihr uns soviel Land einräumt als wir brauchen. Deshalb, o Cäsar, die Rätsel, die du immer nicht lösen konntest; deshalb bebauen Alemannen und Franken die Äcker in Gallien. Nicht ausplündern wollen, besitzen und besiedeln müssen wir's. Deshalb setzen wir uns nicht in die Städte (in denen ihr auch uns, wie in Mausefallen, fangen würdet, wie weiland die Gallier). Denn in den Städten können wir nicht Korn bauen, um davon zu leben; deshalb fandest du uns nicht siedeln in Köln, Straßburg, Zabern. Nicht Räuber – Einwanderer sind wir. Nicht freiwillig, notgedrungen kommen wir zu euch, wie der Schiffbrüchige, den die Welle ans Gestade wirft.«

Er schwieg nun. In großen Schritten durchmaß er das Zelt, die gewaltige Bewegung niederkämpfend. Er glühte im Innern, aber außen blieb er fest und ruhig wie Felsgestein.

Ich staunte ihn sprachlos an, diesen fränkischen Königssohn. »Und der Ausgang?« fragte Jovian, sehr ernst blickend. »Ist unberechenbar«, erwiderte Serapio. »Viel, sehr viel spricht für euren Sieg: am lautesten unsere Fehler. Solang der batavische Gaukönig lieber dem Römer sich unterwirft als dem batavischen Stammgenossen, solang der Chatte Mainz lieber dem Cäsar gönnt als dem Alemannen, so lange wird es gehen, nun . . . wie es bei Straßburg ging! Aber« – er richtete sich hoch auf – »es kann auch anders kommen. Und deshalb, nur deshalb allein leb ich noch, o Freund Julian. Ich lebe von der Hoffnung für mein Volk: die Franken. Die andern gehen mich – noch – nichts an. Stürbe diese Hoffnung in meiner Brust, ich würde es nicht überleben.

Sieh, als ich, in der Genesung begriffen unter deiner gütevollen Pflege – die Christen sogar müßten dich loben für diese Feindesliebe –, allmählich dein ganzes hohes Geisteswesen erkannte, auch deine Staatsmannskunst bewundern lernte, wie ich an jenem heißen Augusttag – zu meinem Schaden – deine Feldherrnschaft erprobt hatte, da kam mir einmal – aber es war noch im Wundfieber – der Gedanke: Stirb, Merowech, da drüben hängt ja dein Schwert: stirb. Dieser Cäsar ist zu groß; an ihm muß dein Volk scheitern.«

Ich horchte hoch auf – (das weißt du, o Lysias, von dem Lobbegierigen: Lob aus dem Munde dieses Feindes). – Aber er fuhr fort: »Jedoch bald kam die Klarheit. ›Nein‹, sagte ich mir, ›kein einzelner – und sei er noch so geistbegabt – kann den Ausschlag geben in dem weltgeschichtlichen Ringen zweier Völker.‹ Wer ist stärker, frischer, zukunftsreicher? Rom oder das blonde Volk törichter Helden da drüben in den dunklen Wäldern?

Ich glaube, wir! So jauchzte mein – selber töricht – Herz frohlockend auf, und ich sprach zu mir: ›Feig wär es, dein Volk aufzugeben, solang es hoffen kann. Der Eid, den der sterbende Claudius Civilis am Hügel seines – meines – großen Ahnherrn Armin seinem Sohne, meinem Namensgenossen, Merowech, abnahm, den wir alle wiederholt haben, von Geschlecht zu Geschlecht; er bindet mich an das Leben, solang mein Volk lebt. Mein Volk, das heißt, der Stolz auf mein Volk hat mich gesund und rein erhalten in der Krankheit und dem Schmutz eurer verpesteten Städte; ich schulde ihm Dank. Und ich liebe sie so heiß, diese einfältigen Helden mit den Riesenleibern und den unberatnen Knabenherzen, die jede Begeisterung fortreißt: bald in den herrlichsten Heldentod, bald in die zweckloseste Dummheit. Ja, viel, viel lieber sind mir meines Volkes Fehler als euere Vorzüge. Mein Volk ist mein alles!‹«

Wieder schwiegen wir beide, tief ergriffen. Nicht ohne Neid sah ich auf den Mann, der das so wahrhaftig von sich sagen konnte! »Mein alles«, dachte ich, »ist mir das Römerreich nicht. O nein! Die Götter, das Wissen von den Göttern, mein Ruhm – (ach ja, gar sehr) – und Helena . . .« Da riß mich's fort. »Freund«, sprach ich nachdrücklich, »hast du nie ein holdes Weib geliebt?«

Er stockte plötzlich in seinem erregten Auf- und Niederwandeln. Er blieb dicht vor mir stehen und kreuzte die Arme über der breiten Brust. Dann begann er: »Man spricht nicht von solchem. Aber, da es zu dem andern gehört, mögt ihr – als die einzigen – es wissen. Ja, vor acht Jahren war's. In Attika. Da blühte eine Jungfrau! Unsagbar schön. So denk ich mir eure Artemis. Auch sie war mir gut, glaub ich. Ihr Vater hätte sie mir nicht verweigert. Ich aber bezwang mein Herz und schwieg – und schied.«

»Warum?« fragte Jovian hastig. Dann errötete er. »Ich will kein Mischgeschlecht erzeugen. Sollen wir Germanen allmählich verrömern wie die Gallier? Die Könige wenigstens der Franken sollen nicht Hälblinge sein. – Es tat sehr weh. Ich trug's für mein Volk. – Genug. Ich kann nicht mehr. Ich muß in die Luft – in die Einsamkeit – unter die Sterne . . .«

Und rasch war er aus dem Zelt verschwunden.

Ich aber fand keinen Schlaf in jener Nacht. Eine ganze Welt neuer Sorgen war mir aufgestiegen bei den Worten des Franken. Ist es so, wie er sagt? Sind diese Germanen mehr als staatsunfähige Räuber? Das wäre dann die Hauptfrage unserer Zukunft. Bah, ich kann's, das heißt, ich will's nicht glauben. Sowenig die alten Götter tot sind, so wenig starb der Beruf Roms zur Weltherrschaft.

Ein einziger begeisterter Mann könnte die gestürzten Götter, könnte die gehemmte Weltherrschaft Roms wiederherstellen. Weh, daß Constantius der Imperator das nicht kann, und daß Julianus, der Cäsar, das nicht darf!

Aber einprägen will ich mir diese Iden des Juni. Und den überwältigenden Eindruck dieses Germanen. Und nie mehr in »griechischer Leichtherzigkeit« die Germanengefahr unterschätzen. – Als Jovian sich verabschiedete, fragte ich ihn: »Würdest du ein geliebtes Weib aus solchen Gründen aufgeben?« Er errötete wieder. Nach einer Weile sprach er fast traurig: »Ich fürchte, nein. Solche Leidenschaft – es ist wie Wahnsinn, aber heiliger – für unser Volk habe ich nicht. Ach, wir sind kein Volk. Wir sind nur ein Reich; aber kaum mehr ein römisches. Dieser sonst so kühle Germane; ich beneide ihn um solche Glut. Mag sie auch Torheit sein und eitle Hoffnung.« O ihr Götter! Hätte ich nur auf ein paar Jahre die Macht in Händen! Ich wollte alles, alles wenden. Ein Mann genügt, auch ein Volk wieder zu schaffen, unter der Gunst der geretteten Götter!

 


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