Felix Dahn
Julian der Abtrünnige
Felix Dahn

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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Nur kurze Zeit vorher waren Mutter und Tochter nach so vieljähriger Trennung einander wiedergegeben worden, und kaum hatte sich ihre stürmische Erregung in zärtlichen, ängstlichen Fragen, in Tränen des Schmerzes und der Rührung ausgedrückt, als sie aufgefordert wurden, sich aus der Villa in den Palast, zu dem Sohn, dem Bruder zu begeben, dem neuen Cäsar und verlobten Schwager des Imperators.

Auf ihre staunenden Fragen über den Zusammenhang all dieser sich überstürzenden Dinge – den Untergang des Gallus hatten sie schon in ihren Verbannungen erfahren –, wußten die Eunuchen, die sie einluden, die Sänfte zu besteigen, keinen Bescheid zu geben; sie waren auf Raten und Vermutungen angewiesen.

»Mein geliebter Knabe! Ach nein, nicht mehr Knabe«, sprach die Mutter. »Er war stets unter den Söhnen mein Liebling – ich kann's nicht leugnen –, Gallus war so unbändig. Julian hing an mir mit so zärtlicher Liebe! Wie er wohl aussehen mag? Er war gar klein und schmächtig für sein Alter.«

»O nein! Er ist gewiß groß und stark und männlich geworden«, rief das schöne junge Mädchen. Die Schwester schmückten die günstigsten Dinge an Julians Erscheinung: das dunkle Lockenhaar, die Augen, der feine Mund; und sie war frei von den unvorteilhaften: der spitzen Nase, dem spitzen Kinn, den tiefen Augenhöhlen und den vorstehenden Knochen der allzuhagern Wangen. »O wie liebte auch ich ihn! Dachte ich an ihn in all der Zeit, sah ich ihn stets als schönen jungen Helden. Du wirst es sehen, Mutter, er muß der stattlich Schönste von allen sein. O, wie sehne ich mich, an seinem Herzen zu ruhen! Die Sänfte hält. O Mutter, Mutter, laß mich vorauseilen. Ich kann die Sehnsucht nicht mehr zügeln.«

Sie stieß die Türe der Sänfte auf, flog die Stufen zu dem Palasteingang hinan, schlug den schwerfaltigen Vorhang zurück, eilte atemlos in den taghell erleuchteten Raum, ließ, ohne ein Wort, die Blicke über die Anwesenden gleiten und rief nun jauchzend: »Julian! Mein Bruder! Geliebter, herrlicher Bruder!« Und mit ausgebreiteten Armen eilte sie auf den etwas weiter stehenden schönen Jüngling zu, der errötend zurückwich.

»Guten Geschmack hast du, Schwesterlein«, lachte Julian, sie auffangend. »Aber du mußt dich schon mit mir begnügen, der da ist mein Freund Jovian.«

Das Mädchen verstummte vor Scham und lieblicher Verwirrung, Helena kam ihr zu Hilfe: »Die neue Schwester aber, hoff ich, kennst du noch, die Mitgefangne«, lächelte sie und umarmte Juliana.

»Jedoch die Mutter? Wo bleibt die Mutter?« rief Julian und flog auf den Eingangsvorhang zu.

Plötzlich blieb er wie gebannt stehen, mit großen Augen starrte er vor sich hin, die Arme in stummem Staunen erhebend. Denn wunderbar in der Tat war der Anblick dieser Frau. Hochaufgerichtet, ihren Sohn überragend, blieb die Matrone, von der Stirn bis zu den Knöcheln in ein dunkelgraues Trauergewand gehüllt, dicht am Eingang stehen. Das edle Antlitz war zu beiden Seiten umflutet von einem breitwallenden Strome silberweißen Haares, das aus der enganliegenden Mantelkapuze vorn auf ihre Brust niederquoll.

Das Wunderbarste aber an der wunderbaren Erscheinung waren die großen dunkelbraunen Augen, die in bläulichem Weiß schwimmend, mit ihrem unbestimmten Blick nicht an irgendeinem Erdending zu haften, in das Unendliche, in das Unirdische, das Jenseitige suchend, zu schauen schienen.

So, die Rechte auf einen hohen schwarzen Stab gestützt, blieb die hehre Gestalt unbeweglich stehen und fragte mit tiefer, nur leise zitternder Stimme: »Wo ist Julian, wo ist mein lieber Sohn?« – »Mutter!« rief der aus tiefstem Grund der Seele und sank ehrfürchtig vor ihr nieder, ihre Knie umfassend. Feierliches Schweigen waltete nun in dem weiten Saal.

 

Endlich sprach die immer noch aus der Maßen schöne Matrone, den Blick der verklärt schimmernden Augen tief in seine Seele senkend: »Ja. Dank sei dem dreieinigen Gott! – Er ist mir rein geblieben; in diesen Augen leuchtet unbefleckter Glanz. Die Sünde der Welt hat ihn mir nie berührt. Lieber wär er mir gestorben. Aber er lebt! Er lebt, Dank sei dem Herrn, der alle seine Wege seinen Engeln befohlen hatte. Über schuppige Häupter der Drachen und über giftige Schlangen ist er gewandelt – unversehrt! Der Herr hat große Wunder an ihm getan. Dir, o Herr, dreieiniger Gott, Gott Vater, Gott Sohn, Gott Heiliger Geist – dir weih ich sein Haupt und sein Leben ganz und gar. Dem Erlöser und seiner Botschaft des Heils, die allein mich vor Verzweiflung, vor Wahnsinn, vor der Verfluchung Gottes und der Welt behütet hat in den Schrecken jener Mordnacht, in der verzehrenden Qual meiner einsamen Sehnsucht! – Christus dem Herrn, in dem allein das Heil ist, weihe ich den Sohn, diesen Sohn von tausend Schmerzen! – Ihr andern aber alle, wer ihr auch seid, ob die Höchsten der Zeitlichkeit und die Weisesten, beugt, ich beschwöre euch, beugt eure Knie in den Staub vor Gott und sprechet mit mir: ›Dank sei dir, Herr Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn! Dank sei dir! Lob und Preis in Ewigkeit, der du durch deiner Güte und Barmherzigkeit und Allmacht Wunder diese Stunde hast herbeigeführt. Lob und Preis sei dir und Anbetung in Ewigkeit. Amen!‹«

Da erhob die Frau, hoch sich reckend, den Stab, auf den sie sich gestützt hatte. Nun zeigte sich, der Griff des schwarzen Schaftes war ein silbernes Kreuz; hell blitzte es, augenblendend, in dem Licht der Fackeln.

Und alle, alle – bis auf einen – sanken bei ihrer Beschwörung in die Knie, die drei Frauen und Johannes zuerst. Der flüsterte vor sich hin: »Das ist eine Heilige auf Erden.« Auch Philippus folgte – zögernd: ›Wahnsinn ist es‹, dachte der, ›aber göttlicher Wahnsinn wie der Sibylle.‹

Nur Julian blieb stehen, er zitterte am ganzen Leibe; scheu wandte er den Blick von der Mutter ab, er wollte entfliehen.

Da sprang Jovianus auf, faßte ihn fest an der Schulter, zog ihn nieder und, selbst wieder auf die Knie sinkend, raunte er ihm zu: »Die Mutter! Julian, um ihrer Seelenruhe willen! Die Mutter!« – »Heucheln? Lügen?« knirschte der. »Schone die Mutter!«

Und er zwang den Widerstrebenden zu sich nieder; die Matrone hatte die Zögerung nicht bemerkt, denn mit verzückten, weit geöffneten Augen hatte sie nach oben geblickt, sprachlos, achtlos ihrer Umgebung. Jetzt legte sie die Hand dem vor ihr knienden Sohn auf das Haupt und schloß feierlich: »Segne ihn, Christus, sein Erlöser und Gott! Ich und mein Haus, wir wollen dir dienen. Leben wir, so leben wir dir, sterben wir, so sterben wir dir, darum wir leben oder sterben, dein sind wir, Jesus Christus. Amen.« Feierliche, weihevolle Stille folgte diesen in höchster Begeisterung gesprochenen Worten.

Aber doch lag ein gewisser dumpfer Druck über allen. Die Matrone hatte so plötzlich, so gewaltig, ja gewaltsam den auf ganz anderes gerichteten Gedanken der drei Frauen und der drei weltlichen Männer eine Richtung aufgezwungen, die dem Augenblicke ferne lag. Julian trat der Schweiß auf die zu Boden gesenkte Stirn.

Der erste, der aufsprang, war Jovianus: »Auf!« rief er und schlug dem Freunde, der, in wehvollem Zwiespalt ringend, vor sich hinstarrte, auf die Schulter. »Hörst du die Tuba draußen schmettern durch die Nacht? Es ist der Sammelruf der Legionen, Cäsar Julian«, rief er. »Sie gibt dem ganzen Heer das Zeichen zur Versammlung morgen früh vor den Toren der Stadt. Als Cäsar wirst du feierlich begrüßt. Dann zur Hochzeit.«

»Jawohl«, fiel Philippus, sich erhebend, ein, »unter guten Sternen; unter Eusebias Augen!«

»Und dann«, schloß Julian, sich kräftig ermannend und hoch aufrichtend, »dann sofort auf nach Gallien; und wehe den Barbaren!«

 


 


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