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Tag für Tag wandelte nun der junge Mönch stundenlang allein mit Lysias, dem er von dem Abt besonders zur Ausbildung überwiesen war, in dem stillen Klostergarten, stundenlang vertieft in ernste Gespräche.
Julian ermüdete niemals zu fragen. Sein leuchtendes, schwärmerisches Auge hing ganz an den Lippen des Lehrers, und dieser ermüdete nicht, zu antworten. Freilich, seine Antworten genügten oft wenig dem scharfen, an Dialektik sich freuenden Geiste des Schülers. Es schien, als ob der so weit überlegne, reife Mann gar oft den Frager nur in den Vorhof der Weisheit dringen lasse, die letzten Aufschlüsse noch zurückhalte. Dadurch geriet der Jüngling in einen Zustand rastlosen, nagenden, bohrenden Zweifels. Immer leidenschaftlicher ward sein Drang nach Erkenntnis entfacht; hätte Lysias es auf solche Steigerung angelegt, und zugleich darauf, den Grübler immer fester an den kargen Belehrer zu knüpfen, er hätte es nicht schlauer angehen können.
Als Julian nach einigen Tagen ihm verstohlen die Schriften Platons und Plotins zurückgab, glühten die bleichen Wangen, seine magere Hand zitterte. »Dank! Heißen Dank! Aber mehr. Mehr! Alles!« flüsterte er. – »Du fieberst, mein Sohn!« sprach Lysias, die Rollen sorgfältig unter seinem Gewande verbergend. »Dein Auge glänzt, deine Schläfen brennen, doch deine Finger sind eiskalt. Wie hast du geschlafen?«
»Gar nicht. All diese Nächte nicht! Immer, immer las ich's noch mal. Ich weiß nun gar viel davon auswendig. Wieviel leichter, gieriger erfaßt mein Geist diese Wunder, diese Offenbarungen als die Offenbarung des heiligen Apostels Johannes. Wie wüst ist diese, wie . . .! Aber sprich endlich, Meister! Gar vieles in diesen Lehren – und oft gerade, was mich am glühendsten begeistert – widerstreitet der Lehre der Kirche. Ach ich flehe dich an – ich ringe so hart! Was – was ist Wahrheit?« – »So fragten auch andere schon.« – »Ja, Pontius Pilatus, der Mörder des Herrn!« rief Julian mit Grauen. »Aber doch . . .! Weiche mir nicht länger aus. Ich verzweifle in diesem Hin- und Herschwanken zwischen den Lehren der Kirche und den Gedanken im Timäos oder den Geheimnissen Plotins. Aber ach! Ich weiß ja gar nicht, wohin! Ich wage mich nicht weiter hinaus auf das offne Meer der Gedanken! Ich kann, ich will nicht den Anker lichten, den ich ein Jahrzehnt lang so tief in den Felsgrund der heiligen Kirche versenkt. Nur die Kirche hat die Wahrheit und das Heil. Ich kann nicht, ich werde niemals von ihr lassen.« Er seufzte. Er stöhnte. Er sah schwärmerisch gen Himmel.
Lysias ließ lange den bohrenden Blick auf ihm ruhen.
»So? Nun, es begreift sich. Die Zucht war lang, scharf und unausgesetzt. Die werdende Seele des Kindes schon ward planmäßig umsponnen. Es ist vielleicht besser so! Vielleicht irrte ich, denn die Sterne irren nicht! Ich war zu rasch! O mein Sohn, die Weltanschauung des Menschen ist gar nicht bloß das Ergebnis seiner Gedanken, noch mehr der Erleuchtung durch die Himmlischen und durch die eignen Erlebnisse. Und du – du hast noch nichts erlebt.« – »Ich dächte doch!« erwiderte erschaudernd der Jüngling. »Allerdings, deines Hauses Ausmordung, das Todesurteil über drei Kinder, verhängt durch den frommen Imperator. Es ist ziemlich viel. Aber doch, scheint es, noch nicht genug! Wie lehrt die Kirche? ›An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.‹ Constantius ist nun zwar schon eine Giftfrucht sondergleichen . . .« – »Aber er ist nur Laie«, warf Julianus ein.
»Wohl! Du sollst die Früchte an den Priestern kennenlernen. Erleben sollst du nun die Erkenntnis, dann erst wieder weiter forschen, denken, Schlüsse ziehen.« – »Aber, du selbst«, rief Julian gequält, »du bist ja auch ein Priester der Kirche . . .?« – »Ein Priester bin ich, ich sagte es schon. Jedoch es gibt der Götter viele – wenigstens«, verbesserte er rasch, »nach dem Glauben der Menschen! Und es gibt Grade der Erkenntnis viele – wie der Weihen.«
»O Lysias! Glaubst du, daß es irgendeine Weisheit gibt, welche . . .? Ich rede nicht von der Erkenntnis der Welt; diese genügt mir nicht, wie sie die Väter lehren! Ich kann nicht an den verhängnisreichen Apfelbiß im Paradiese glauben. Äpfel sind, so scheint's, ein Obst des Unheils (ist das nicht ein hübscher Witz?). Denk an die Troer und Achäer, an Eris und Paris. Aber gibt es irgendeine Lehre, die mehr die Tugend ihrer Bekenner fördert als die Selbstverleugnungslehre unserer heiligen Kirche? Sie entzückt mich, diese begeisternde Pflichtenlehre, diese Abtötung des Fleisches, wie sie Abt Konon übt, und diese Demut, dieser Verzicht auf alle Macht und Herrschaft selbst der höchsten Bischöfe. Nie will ich anders von den Pflichten denken als die Kirche lehrt: die Flucht aus der Welt, die Verachtung der Welt, die demütige Selbstverleugnung.«
»Das also sind sie, die beiden ›Früchte‹, die dir den größten Wert zu haben scheinen? Die Hauptbeweise für die Göttlichkeit der Kirchenlehre: die Fleischabtötung und die herrschaftverachtende Demut?«
»Gewiß, mein Meister! Die Selbstverleugnung! Die Vernichtung der fleischlichen Begier und die Vernichtung der Herrschgier. O wie hat jüngst der Abt Konon den jungen Theodoretos, den schönen kraftstrotzenden Griechen, geißeln lassen, weil der den Kopf umwandte, um dem üppigen vollbrüstigen Fischermädchen nachzugucken, wie es am Fasttag die Fische aus der Stadt dem Kloster gebracht hatte! Er selbst, der hohe Abt, schwang die Geißel, daß das Blut des nackten Knaben in Strömen auf den Estrich schoß. Welch heiliger Eifer! Als wär es ihm Wollust, so glühte er. Und wie kasteiet er sich selbst! Nie einen Tropfen Wein bringt er über die heiligen Lippen. Und dann: welche Demut sogar der höchsten Priester! Hast du vergessen, was neulich aus dem Briefe des Papstes Liberius verlesen ward? Wie der, dem schon nahezu alle Bischöfe eine Art von Ehrenvorrang einräumen, als dem Nachfolger Sankt Peters selbst, wie sich der Papst vor dem Imperator Constantius auf das Antlitz warf, am Eingang der Peterskirche, wie er sich ›den Knecht der Knechte Gottes‹ nannte, ›des Imperators niedrigsten Sklaven‹, wie dem Imperator allein alles Erdreich und auch die Kirche zu gehorchen habe? Und doch weiß ja der heilige Vater, daß er von Sankt Petrus den Schlüssel des Himmelreichs überkommen hat, zu binden und zu lösen für die Erde und für den Himmel. Wahrlich, eine Lehre, die solche Tugenden erzieht, ist göttlich! Was wollen dagegen Platon und Plotin! Haben sie die Heiden vor der Sünde bewahrt?«
»Gut, mein Sohn, an ihren Früchten, das heißt an ihren Priestern sollst du die Kirche erkennen. Und zwar nicht nur vom Hörensagen und nicht aus Briefen. Es wird allmählich Zeit, daß du den Blick aus diesen Klostermauern hinaus in die Welt schweifen läßt; in die Welt, wie sie ist, nicht wie sie dir geschildert wird. Noch die Pfingsttage sollst du hier erleben. Dann werde ich den hochehrwürdigen Abt bitten, daß er dich mir als Begleiter mitgibt auf eine Amtsreise. Freue dich, Julian! Du sollst die Welt sehen. Du sollst Gut und Bös unterscheiden lernen.«
Julian erschrak heftig. »O Meister! So sprach die Schlange.«
»Gewiß! Hat sie gelogen? Nur wer das Böse kennengelernt hat, kennt auch das Gute.«