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XCII

Das Grand Hôtel du Monde et d'Orléans, gegenüber dem Stationsgebäude an einer Ecke des Bahnhofsplatzes gelegen, in dem der französischen Hotelarchitektur eignen, ebenso grandiosen wie soliden Stil erbaut, trotz seines klingenden Namens nur eine bescheidene Unterkunft mit vierzig oder fünfzig Zimmern, – dort war es, wo der junge Mann eintrat und im Büro zwei Frauen bei einer angeregten Unterhaltung antraf. Zu seinem Erstaunen sprach man gerade fließend Englisch, und zwar dies:

»But yes, madame, I assure you, you need have no – – kalms? – – kalms??« Die jüngere, größere von den zwei Frauen sah die ältere mit fragend hochgerückten Augenbrauen an. »Kalms, Comtesse, je ne comprend pas kalms. Qu'est-ce que ça veut dire?«

»Mais non, chérie«, antwortete die ältere Frau geduldig. »Pas kalms – – qualms – – qualms –« Absichtlich langsam sprach sie das Wort mehrere Male vor, bis die andre Frau, die es nachsprach, die richtige Lautung traf, worauf dann die kleine, ältere Frau mit dem winzigen, schmalen Köpfchen vogelhaft nickte und zufriedengestellt erklärte:

»Oui! Oui! Bon! C'est ça! Qualms.«

»Mais ça veut dire?« fragte die Jüngere wie jemand, der vor einem Rätsel steht.

»Ça veut dire, chérie – you need have no qualms –« Der Sperling von einem Persönchen erwog die übersetzerische Frage mit Bedacht. »– Vous n'avez pas besoin de perturbation – n'est-ce pas?« rief sie eifrig triumphant aus.

»Ah-h!« machte die Jüngere mit einer Miene großer Erleuchtung. »Oui! Je comprends ... I assure you, madame, you need have no qualms about the plumbing arrangements.«

»Bon! Bon!« Die kleine Frau nickte zustimmend. Dann brachte sie eine nachträgliche Verbesserung: » Plumbing, chérie, plumbing«, sagte sie liebenswürdig.

Die Jüngere brachte nun den ganzen Satz: – Aber ja, gnädige Frau, Sie können versichert sein, Sie brauchen sich wegen der Installationseinrichtung keine Gedanken zu machen, Sie werden alles durchaus modern finden. –: »– you will find everyt'ing t'oroughly modairne – –«

» Thoroughly«, verbesserte die Ältere. Absichtlich langsam sagte sie: » Thoroughly.« Sie lehnte sich nach vorn, die Zunge anschaulich zwischen die falschen Zähne gesteckt und machte vor, wie das englische Th gelautet wird: »– th – th – th –«

»Thoroughly«, sagte die jüngere Frau. Sie brachte das Wort offenbar nur mit Schwierigkeit heraus und wiederholte: »– thoroughly modairne –«

» Modern, dear! Modern!« verbesserte das vogelhafte Frauchen wieder absichtlich langsam, dann aber, schnell und entschieden den Kopf schüttelnd, verbesserte es sich scharf: »Mais non! Ça va! Ça va bien!« Sie nickte heftig, »Laissez modairne! C'est mieux comme ça pour les Américains! Ils aiment ça! Un peu d'accent – n'est-ce pas? –« meinte sie schlau, »– pour les Américains.«

Die zwei Frauen nickten einander weise und wissend zu, und ihre Gesichter waren komisch beredt von einer seltsamen, Ausdruckseinheit gewordnen Mischung aus Geiz, harter, heftiger Gerissenheit und provinzialer Naivität, – drei Eigenschaften, die unerläßlich zum Weltbild des Franzosen gehören.

Nun blickte die jüngere Frau auf, sah den jungen Mann, der vorm Schalter im Büro stand, und fragte kalt:

»Monsieur – –?«

Die jüngere Frau war etwa achtundzwanzig Jahre, aber ihr kaltes, dunkles Gesicht – es war hager und gelblich, durch eine große, starke Nase mächtig zwiegeteilt – hatte das unabschätzbare Alter, das vom Frost des Mißtrauens und der Zähigkeit des Geizes kommt. Es war so, als wäre sie gleich bei der Geburt in den Färberbottich getaucht worden, in dem das herbe und bittre Gebräu der Menschenschlechtigkeit brodelt, als hätte sie die säuerliche Zehr des Argwohns und der Lebensklugheit an den Mutterbrüsten getrunken, als hätte ihr hartes Herz, hätten ihre kalten, dunklen Augen keinerlei Jungsein gekannt, nie um Unschuld gewußt und wären nie von romantischen Traumbildern geblendet worden – oder, einfacher vielleicht, so, als wäre diese Person vollauf bewehrt gegen die Welt aus der Wiege gesprungen, gewandt in all den grimmigen Künsten der Selbstsucht und wohl wissend, wie man seinen Vorteil erkennt und wahrt, die ersten paar Sous im verschwitzten Handteller der festgeballten Faust, im Addieren gelehrig bewandert, ehe sie noch ein Kindergebetchen nachplappern konnte.

Wenn man die Frau einfach ansah, wie es der junge Mann nun tat, dann spürte man in diesem Gesicht zunächst die gebieterische Strenge eines unüberwindlichen Mißtrauens. Das Gesicht hätte ohne weiteres als Wahrbild für die Hotelverwalterseele schlechthin gelten können, denn es war unantastbar und vollkommen im Ausdruck der Geschäftshöflichkeit, aber dabei hart, kalt, leblos, höllisch grausam, unempfänglich für jegliche warme Wallung mit Mitleid oder Erbarmen, vollkommen fühllos wie ein Granitblock in Dingen, wo eines andern Verlust und der eigne Gewinst in Frage kamen. Und doch, trotz aller Unmenschlichkeit, in diesem Gesicht war auch Leidenschaft. Die dicken, schwarzen Augenbrauen waren zusammengewachsen und standen in einer ungebrochnen Linie über den Augen; die Oberlippe war um einen Schatten dunkler, und das kam von ein paar dünnen Härchen, einem unverkennbaren Flaumbart. Dieses ganze Gesicht, das so kalt und hart vor Mißtrauen war, gloste gleichviel vom unheimlich schwelenden Brand eines dunklen Verlangens, es war geprägt von jener sonderbaren Geschwisterschaft, von Geiz und sinnlicher Leidenschaft, ganz so, wie es der junge Mann allenthalben auf Gesichtern von Frauen dieser Art beobachtet hatte.

Er hatte solche Frauen überall gesehn, – auf dem Schemel der Kassiererin in Restaurants, Läden und Warenhäusern, hinterm Schalter in Cafés, Theatern und Bordellen, im Geschäftskontor anderer Hotels, – manchmal allein, gewöhnlich aber zu zweit hinter auffallend hohen Doppelpulten, wo sie, wahre Ratschafterinnen des Geschäftsgewinsts, wie auf einem Thron gesessen hatten, über Kontobüchern, in denen sie vorsichtig langsam und mit der peinlichen Genauigkeit der Habsucht unendliche Zahlenreihen überprüft hatten. Ja, da waren sie gesessen, allein oder zu zweit, hinter hohen Pulten nahe bei der Tür, hatten mit ihren kalten, mißtrauischen Augen die Kundschaft angesehen, hatten auch einander nicht anders angesehen, hatten unheimlich lauernd die Köpfe zusammengesteckt, wenn sie, die eine die Zahlenreihen der andern überprüfend, die Konten verglichen, ganz so, als wären sie eingesetzt, nicht nur über die Betrügereien und Unredlichkeiten der Welt zu wachen, sondern auch über ihre eignen.

Und doch – kalt und hart, mit dem dunklen Bartschatten auf der Oberlippe, so mißtrauisch vor raffsüchtigem Geiz wie diese Frauen auch sein mochten, der junge Mann hatte stets die Ergänzung einer unheimlichen Leidenschaftlichkeit in ihrem Wesen herausgespürt. Wenn das Tagewerk getan, wenn die Rechnerei zu Ende, der letzte Eingang verbucht, die letzte Summe zusammengezählt, dann, dann – dachte er – dann lassen diese Frauen die Rollaufzüge am Schreibtisch herunter, sperren ab und gehn, die Zähne in einem wildfreudigen Lächeln gebleckt, zu dem verabredeten Stelldichein mit ihrem Liebhaber, dem Bauchaufschlitzer Jack. Selbst in der mißtrauisch kalten Fühllosigkeit, die im Licht des Tages auf solchen Frauengesichtern zu lesen war, ließ sich die heimliche Heftigkeit nächtlicher Ausschweifungen beinah unanständig deutlich erkennen. Man brauchte seine Vorstellungsfähigkeit kaum anzustrengen, um sie unter einer Steppdecke bei dunklen, lasterhaften, schwülen Machenschaften zu sehn in der Umarmung eines Verbrechers, die Zähne blank zum Biß, in der Brunst unheiliger und gesetzloser Verzücktheit und mit unbändigem Gestöhn.

Ein solches Gesicht also war in der Tat das Gesicht jener jungen Frau im Anmelderaum des Grand Hôtel du Monde et d'Orléans, jener Frau, die den jungen Mann mißtrauisch kalt angesehen und gefragt hatte: »Monsieur – –?«

»Ich – ich hätt' gern 'n Zimmer«, brachte der junge Mann unbeholfen hervor. Er hatte es in seiner Sprache gesagt. Ihr harter, fühlloser Starrblick machte ihn verlegen.

»Comment?« war die Gegenfrage. Die junge Frau war anscheinend überrascht, nun sofort in der Fremdsprache, die sie vor einem Augenblick noch lernend geübt hatte, angeredet zu werden. »Vous désirez – –??«

»Une chambre«, murmelte er. »– pas trop chère.«

»Ah-h! – a room! Er sagt, daß er ein Zimmer wünscht, meine Liebe«, warf die kleine Frau nun schnell und hilfsbereit ein. Sie hupfte schnell vom Stuhl, kam auf den jungen Fremden zu, ein eifriges Leuchten in den scharfen, alten Augen, ein ahnungsvolles Hoffen auf dem mageren Gesichtchen.

»Sie sind Ausländer?« forschte sie, ihn anlugend. »Amerikaner?« – mit einem Ausdruck begierigen Hoffens.

»Ja«, sagte er.

»Ah-h!« Das kurze Aufatmen gieriger Befriedigung. »Dacht ich's doch ... Yvonne! Yvonne!« rief sie schnell, äußerst erregt der andern Frau zu. »Er ist Amerikaner – wünscht ein Zimmer – er muß ein gutes kriegen –« plapperte sie. »– das beste, das frei ist –«

»But yes! To be sure! At vunce!« rief Yvonne, die nun aufstand, auf englisch. Sie schellte und rief »Jean! Jean!«

»Aber nicht – nicht – nicht das beste«, stotterte der junge Mann. »Es ist bloß für mich, ich komme ganz allein. Kein sehr teures Zimmer«, brachte er verzweifelt heraus.

»Ah–hah-hah!« Die ältere Frau gluckerte weidlich befriedigt, belugte den Ankömmling mit schlauen Blicken. »Amerikaner also – und jung dazu – Wie alt sind Sie, mein Junge?«

»V-v-vierundzwanzig«, stotterte er, sie hilflos anstierend.

»Ah-hah-hah!« Wieder das kleine, weidlich befriedigte Gluckern. »Dacht ich's doch! – Und warum sind Sie hierhergereist? ... Was suchen Sie hier in Orléans?« forschte sie im Ton der guten Zurede zwar, aber gebieterisch. »Was bringt Sie hierher, mein Junge?«

»Ei – ei –« stammelte er verwirrt, und dann, als er (weil es nämlich keinen gab) keinen passenden Grund für sein Hiersein fand, platzte er mit der Feststellung heraus: »Ich bin – Schriftsteller«, und stammelte dann, da er diese Behauptung für lügenhaft hielt, in der Absicht die Unwahrheit ein wenig abzumildern: »Ein – ein – Journalist.«

»Ah-hah-hah!« Sie gluckerte weich, geistesabwesend, mit befriedigtem Heißhunger. »Ein Journalist, so, mein Junge, was?« Es war geradezu eine Art Freßgier, von der sie besessen schien. Sie hatte angefangen, mit ihrer kleinen, klauenhaften Hand den Arm des jungen Manns zu tätscheln und zu streicheln, ganz so, wie etwa ein Koch einen fetten Truthahn streichelt, eh er ihn schlachtet. »Ein Journalist, eh?« Sie wandte sich plötzlich um nach der jüngeren Frau. »Yvonne! Yvonne!« rief sie und legte schnell, im Ton äußerster Aufgeregtheit los: »Der junge Mann ist Journalist ... amerikanischer Journalist ... schreibt für die ›New York Times‹ ... die größte Zeitung in den Vereinigten Staaten.«

»Nun, das gerade nicht«, erklärte er täppisch, rot im Gesicht vor Verwirrung und Verlegenheit. »Ich hab' durchaus nicht gesagt – –«

»Ah-hah-hah!« gluckerte die kleine Frau wieder. Sie lugte ihn an, ein listig blitzendes Licht in den scharfen alten Augen, und streichelte ihm, ohne sich dessen jedoch bewußt zu sein, eifrig den Arm. »... Und da sind Sie also hergekommen, um über uns hier zu schreiben, was? ... Über Jeanne d'Arc, was?« sagte sie im Ton der Betörerinnen und mit einem kleinen gerissenen Lachen des Triumphs. »– Über die Kathedrale – die Jungfrau von Orléans ... ah, mein Junge, wenn Sie da Stoff brauchen, sind Sie hier am rechten Platz ... Ich werde Sie zu den Stätten begleiten und Ihnen alles zeigen ... werde mich Ihrer annehmen ... Nun sind Sie in gute Hände geraten ... A-h, wir hier lieben die Amerikaner ... – Yvonne! Yvonne!« rief sie wieder in ihrer Aufgeregtheit, die ständig zunahm. »Er sagt, er wäre hier, um für die ›New York Times‹ über Orléans zu schreiben ... wird alles 'reinbringen ... die Kathedrale ... Jeanne d'Arc ... das Hotel hier ... in die größte Zeitung Amerikas ... unzählige Leute werden angereist kommen, wenn sie darüber lesen – –«

»Nun, aber hör'n Se mal, ich hab' doch kein Wort –« begann er sich zu verwahren.

»Ah-hah-hah!« Wieder lugte sie ihn schlau an, Habsucht in den alten Augen, gurrte ihr kleines Lachen weidlichen Triumphs, streichelte ihm den Arm. »Vierundzwanzig, was? ... Und wo sind Sie her, mein Junge? ... Wo wohnen Sie drüben?«

»Ei – New York würde ich sagen«, erklärte er zögernd.

»Jaja, das weiß ich«, sagte sie ungeduldig. »Aber zuvor? Ich meine, wo Sie herstammen? ... Aus welchem Staat sind Sie denn?«

Er stierte sie einen Augenblick verdutzt an.

»Ich glaub' nicht, daß Sie wissen, wo das ist«, sagte er schließlich. »Ich bin aus Catawba.«

»Ja, Catawba!« rief die alte Frau und forschte drängerisch weiter. »Und aus welcher Gegend von Catawba? Aus welcher Stadt?«

»Ei –« Vor lauter Staunen vergaß er den Mund zuzumachen. Er starrte sie an. »– einem Ort namens Altamont.«

»Altamont!« krähte sie jubilierend. »Ja, Altamont! Freilich, Altamont!«

»Sie kennen es?« fragte er wie einer, der es nicht glauben kann. »Sie haben davon gehört?«

»Davon gehört! Ei, mein Junge, ich bin siebenmal dortgewesen!« Das triumphante Gluckern kullerte, dann legte die alte Frau los, wild und ohne Zusammenhang vor lauter Begier: »Mütterchen nennen Sie mich ... bin überall bekannt ... Briefe, Kabel ... der Governor von Arkansas ...« plapperte sie. »Ich gab' alles auf ... hängte mein Vermögen dran ... Ah, mein Junge, ich liebe die Amerikaner ... Sie nennen mich Mütterchen ... Altamont! ... So eine schöne Stadt! ... Sind Sie mit Doktor Bradford und seiner Familie bekannt? ... Und wie geht's dem Harold? ... Und was macht Alice? ... Ist sie nun verheiratet? ... So ein liebes Mädchen ... Und wie geht's George Watson? ... Was macht er, eh? ... Noch Sekretär bei der Handelskammer? ... Und Mrs. Morgan Hamilton? ... Und Charles McKee? – Ach, wie gern möcht ich all meine lieben alten Freunde in Altamont mal wiedersehn!«

»Sie kennen – Sie kennen all diese Leute?« stieß er nach Luft ringend hervor. Die großen Glocken der Kathedrale, die draußen durch die abendliche Luft dröhnten, hörte er wie im Traum.

» Kennen? ... Ich kenne ganz Altamont ... Ich wohne immer bei Doktor Bradford und seiner Familie ... Ach, was für liebe Menschen, mein Junge! ... Wie gut sie zu mir gewesen sind! ... Ja, ich liebe die Amerikaner ... Sie nennen mich Mütterchen«, wiederholte sie in einem sonderbaren Ton, und wie in einer Trance, mit fiebrig brennenden Augen, fuhr sie fort und zitierte in schwungvollem Zeitungsamerikanisch: »›Als die tapfere kleine Frau, die Tausenden von unsern Jungen, die in Übersee gekämpft haben, unter dem Namen »Mütterchen vom Sternenbanner« bekannt ist, heute abend vor der großen Zuhörerschaft im City Auditorium stand, das, seit es steht, nie so mit Menschen vollgepackt war, da konnte man mit Sicherheit behaupten, daß kein einziges Auge trocken –« Jäh unterbrach sie sich in diesem geheimnisvollen Zitat und wandte sich wieder aufgeregt an die Hotelverwalterin. »Yvonne!« rief sie. »... Ich kenne seine Vaterstadt ... kenne seine Eltern ... bin in ihrem Haus zu Gast gewesen! ... Freunde von mir! ... Gute Freunde von mir! ... Schnell! Laufen Sie doch und sagen Sie Madame Vatel, ein amerikanischer Freund von mir sei hier ... Sagen Sie ihr, daß er große Dinge für sie tun wird ... für ganz Orléans ... für uns alle ... Sagen Sie ihr, daß er in der ›New York Times‹ über das Hotel schreiben wird ... Und Sie werden ihm ein gutes Zimmer geben, einen guten Preis machen, was?« sagte sie listig. »Er wird Hunderte von Leuten hierher ins Hotel bringen – –«

»Aber ja, Frau Gräfin«, sagte Yvonne. »Ganz, wie Sie sagen.«

»Das Beste! Das Beste!« rief die alte Frau aus. »Er stammt aus einer der angesehensten Familien Amerikas – ah-hah-ah! Sie werden schon sehen!« Sie gluckerte geheimnisvoll listig. »Ich werde Euch alle zu reichen Leuten machen, ehe ich abdanke ... Ich kenne alle die reichen Amerikaner ... Hah-hah ... Sie werden nun alle hierherkommen, wenn er über uns geschrieben hat ... Stellen Sie sich vor, Yvonne, die ›New York Times‹«, wisperte sie, sich selber unersättlich an der Vorstellung labend, »die Zeitung, die alle reichen Amerikaner lesen ... Sie müssen das Madame Vatel erzählen ... Das ist ein Ereignis ... Ah, eine ganz große Sache, Yvonne ... eine ganz große Sache für uns alle. – Schaun Sie mal«, tuschelte sie geheimnisvoll und zeigte mit dem Finger auf den bestürzten jungen Menschen, »so ein Kopf, Yvonne! So ein Kopf! Diesem Kopf kann man's ansehen, Yvonne! Was für ein kluger Kopf! ... Die ›New York Times‹, freilich«, sie kicherte schlau. »Da schreiben alle diese klugen Schriftsteller! ... Sagen Sie's Vatel!« wisperte sie, sich an der Vorstellung weidend, sich die kleinen, klauenhaften Hände reibend. »Sagen Sie's Madame! ... Sagen Sie's allen im Haus .. Er muß das Beste kriegen«, murmelte sie mit verschwörerischer Heimlichkeit. »Das Beste.«

»Aber ja, Frau Gräfin«, sagte Yvonne glatt. »Monsieur wird nur das Beste kriegen. Nummer Sieben, denk ich«, sagte sie erwägend. »Oui! Nummer Sieben.« Sie hatte entschieden, sie nickte befriedigt. »Ich bin sicher, Nummer Sieben wird Monsieur zusagen ... Jean! Jean!« Sie klatschte schnell in die Hände, der aufmerksame Hausbursch kam sofort behend herbeigesprungen. »Apportez les bagages de Monsieur au Numéro Sept!«

»Aber – aber – der Preis?« fragte der junge Mann unbeholfen.

»Der Preis«, sagte Yvonne. »Für Monsieur ist er zwölf Francs. Für andre ist er ein andrer – nicht wahr? – aber da Monsieur ein Freund der Frau Gräfin ist, ist der Preis zwölf Francs.«

»Billig! Billig!« murmelte die Gräfin. »Und nun, mein Junge«, sagte sie ihm gut zuredend und nahm ihn beim Arm, »sollten Sie auch Ihre Mahlzeiten hier im Haus einnehmen ... La cuisine, ah! ... Merveilleuse!« flüsterte sie und machte eine kleine, rhapsodische Bewegung mit der Hand. »Nicht wahr, Sie werden auch hier essen, mein Junge, wie?«

Er nickte dumpf, und sofort wandte sich die alte Frau mit triumphant schlauer Miene an Yvonne und sagte: »Haben Sie's gehört? ... Haben Sie's gesehn? ... Er wird auch seine Mahlzeiten hier im Haus einnehmen ... Sagen Sie's Vatel! Sagen Sie's Madame ... Ich kenne die reichen Amerikaner, nun werden sie alle hierherkommen, Yvonne, Sie werden schon sehen ...«, wisperte sie. Dann, mit entschlossener Miene wandte sie sich wieder an den jungen Mann und fragte: »Und nun sagen Sie, mein Junge, haben Sie schon zu Nacht gespeist? ... Nein? ... Gut!« erklärte sie befriedigt. »Ich werde mit Ihnen essen.« Sie nahm ihn beim Arm, es war die Gebärde der Besitzergreifung. »Wir werden hier im Hotel zusammen essen ... Ich werde Pierre sagen, daß er für uns zwei zusammen deckt ... an einem Tisch ... bloß Sie und ich ... wir werden stets unsre Mahlzeiten zusammen einnehmen ... Ah, hier sind Sie an die richtige Adresse gekommen ... Ich werde nach dem Rechten für Sie sehn und auf Sie aufpassen, als ob ich Ihre eigne Mutter wäre, mein Junge ... Hier in Orléans gibt es so viel Plätze, wo man schlecht aufgehoben ist, so viele gemeine Kneipen. Ich werde Ihnen Bescheid sagen, so daß Sie sie meiden ... Es ist ja so leicht für einen jungen Menschen, auf Abwege zu geraten ... So viel junge Amerikaner, die hier herüber nach Frankreich kommen, geraten in wer weiß was für Schwierigkeiten, in schlechte Gesellschaft, ... und das bloß, weil sie niemanden haben, der sie leitet und anhält ... Aber Sie brauchen keine Angst zu haben ... ich werde Sie betreuen, solang Sie hier in Orléans sind, ... ganz wie Ihre eigne Mutter ... sie nennen mich ja Little Mother.«

Er warf Yvonne den Blick eines Bedrängten und Verwirrten zu, und diese tüchtige, gewandte Person kam ihm augenblicklich zu Hilfe.

»Vielleicht«, bemerkte sie leichthin, »möchte Monsieur sich erst sein Zimmer ansehen, Frau Gräfin, sich ein bißchen zurechtmachen und auffrischen nach der ermüdenden Reise.« Sie sprach fließend Englisch mit starkem, ungewolltem französischem Akzent.

Er blickte Yvonne dankbar an, und die Gräfin nickte nachdrücklich und sagte sofort:

»Oui! Oui! C'est ça! ... Auf alle Fälle, mein Junge, müssen Sie jetzt erstmal auf Ihr Zimmer gehn und sich ein bißchen waschen ... Ah, ein schönes Zimmer ist das! Das wird ihm gefallen, wie, Yvonne? ... Neu eingerichtet, fließendes heißes und kaltes Wasser, schönstens installiert.«

»I can assure Monsieur«, kam Yvonne mit dem neuhinzugelernten Satz, »– that you need have no – kalms – –«

» Qualms, Yvonne, qualms«, verbesserte die Gräfin sanft. »Wirklich, ein hübsches Zimmer kriegen Sie da, mein Junge. Und wenn Sie droben fertig sind, kommen Sie 'runter, und wir werden zusammen dinieren ... Sie werden mich hier finden. Ich warte auf Sie. Und beim Essen«, sagte sie wie jemand, der einem das Schönste in Aussicht stellt, »werde ich Sie meine Zeitungsausschnitte lesen lassen. Ah-h-h! Ich hab' sie alle in ein Buch eingeklebt. Ein ganz dickes Buch voll ... Und da werden Sie alles und jedes lesen, ja, alles und jedes, was sie über ihr Mütterchen geschrieben haben«, erklärte sie zärtlich. »Und ich werde Ihnen Gesellschaft leisten, werde Ihnen sagen, was Sie hier in Orléans sehen müssen ... Nein, nein, essen werde ich nichts«, wandte sie hastig ein, ganz so, als wolle sie irgendwelchen geldlichen Bedenken seinerseits zuvorkommen. »Kosten wird Sie das nichts ... Einen Schluck von Ihrem Kaffee vielleicht, ... vielleicht mal ein Gläschen Wein, – weiter nichts. Ach, mein Lieber«, sagte die alte Frau sehr betrübt, »das Essen hier im Haus ist so gut, und ich kann es nicht essen ... Ich kann nichts essen – –«

»Nichts?« sagte er und stierte sie an.

»Rien, rien, rien«, rief sie aus mit einer seitwärts abwehrenden, flachen Handgebärde.

»Die Frau Gräfin lebt nach einer – wie nennen Sie es? – einer Diät«, erklärte Yvonne teilnahmsvoll auf englisch. »Der Doktor gibt Verordnung – sie darf nicht essen.«

»Rien du tout«, sagte die Gräfin. »Nichts außer Pferdeblut, mein Lieber«, erklärte sie traurig. »Das ist's, wovon ich lebe.«

» Pferdeblut?« Er starrte die Gräfin ungläubig an.

»Oui.« Sie nickte. »Sang de cheval! Sehn Sie, mein Lieber, das ist so: Ich habe Anämie, und der Arzt hat mir Pferdeblut als einzige Nahrung verordnet ... Aber das Essen hier ist so gut. So gut. Also, ich werde hier auf Sie warten und Ihnen beim Essen zusehn.«

»Jean!« rief Yvonne scharf und schenkte dem jungen Mann im Handstreich die Freiheit. »Les bagages de Monsieur! Numéro Sept!«

Sie gab dem Hausburschen den Zimmerschlüssel.

»Oui, monsieur«, sagte der Hausbursch vergnügt und nahm die Handtasche. »Par ici, s'il vous plaît.«

Sie gingen nach hinten und traten in einen kleinen ascenseur, in dem gerade für zwei Personen Platz war. Das Ding fuhr langsam aufwärts, es krachte in den Fugen, das Steuerseil schlotterte. Im ersten Stock stiegen sie aus, und der junge Mann folgte dem Hausburschen den mit einem dicken Teppich belegten Gang entlang, und dann, während der Hausbursch das Licht anknipste, die Überdecke auf dem Bett zurückschlug und die schweren Fenstervorhänge zuzog, um zu zeigen, daß jene muffige Abgeschlossenheit, ohne die Schlaf für Franzosen ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, gewährleistet sei, betrachtete sich der Gast sein Zimmer.

Dieser Ort machte leichtlich alle die hingerissenen Prophezeiungen der Gräfin wahr; er war erstaunlich luxuriös, und zwar von jenem beinah unziemlich prunkhaften Aufwand, der französischen Hotelzimmern eignet, und der auf beunruhigende Weise dem Luxus in einem Bordell ähnelt. Das Bett war ein üppiges Himmelbett mit karmesinrotem Behang; auf dem Boden lag ein dicker, karmesinroter Teppich, der das Geräusch von Tritten vollkommen dämpfte; zur Einrichtung gehörten ein pompöses, fettgepolstertes, wollüstiges Sofa, mehrere fettgepolsterte rote Plüschsessel mit vergoldeten Leisten, ein großer, goldgerahmter Spiegel über dem Kaminsims, ein großes Waschbecken aus schwerem Porzellan mit blinkenden Nickelhähnchen, ein prächtiges Bidet (unbedingt notwendig für jede Französin), schließlich Vorhänge aus einem schwerseidnen, steppdeckenartigen Stoff, die nun in fülligem Faltenfall zugezogen waren und so dem Eindruck bordellartiger Heimlichkeit und Üppigkeit die abschließende Note verliehen.

Und diese ganze orientalische Pracht stand dem jungen Mann zur Verfügung, und zwar zu einem täglichen Preis von siebzig amerikanischen Cents, und das auf die Empfehlung einer närrischen alten Weibsperson hin, die Pferdeblut trank, und die er vor einer halben Stunde zum erstenmal im Leben zu Gesicht gekriegt hatte. Der junge Mann stand da, er war ganz baff über diese neue, eigenartige Wendung, die sein Schicksal zufällig genommen hatte, er spürte die Stille der alten Stadt draußen, hörte wieder das mächtige, süße Gedröhn der Kathedralenglocken durch die dunkle, stumme Luft, und wie so manches Mal empfand er auch nun wieder das seltsame und bittre Geheimnis des Lebens. Und in seinem Herzen war etwas, was er nicht aussagen konnte.

Als er wieder herunterkam, fand er die alte Frau, die, einen eifrigen, listigen, gleichzeitig komisch und pathetisch wirkenden Glanz in den scharfen, alten Augen, auf ihn wartete. Sie hatte ein großes, dickes Buch in der Hand, in das Zeitungsausschnitte eingeklebt waren.

Mit dem Air eines Menschen, der sein vollkommen rechtmäßiges Zubehör gewohnheitsmäßig an sich nimmt, nahm sie seinen Arm, und so aneinandereingehängt betraten sie das Hotelrestaurant. Beim Eintreten merkte er gleich, daß ihm der Ruf des glänzenden jungen Journalisten vorausgelaufen war. Am Familientisch wurden Stühle gerückt, Madame Vatel, deren Gatte, die hübsche verheiratete Tochter der beiden und das kleine Töchterchen dieser Tochter, diese vier erhoben sich sozusagen wie ein Mann von ihrer Suppe und bereiteten ihm mit Lächeln, Verneigungen und gemurmelten, ganz bezaubernden Begrüßungsworten einen Empfang, der ihn wegen der geradezu maßlosen Ehrerbietigkeit dieser Leute in Aufruhr versetzte, und diese Ehrerbietigkeit wurde fast schmeichlerisch untertänig, als die Gräfin begann, die journalistischen Verdienste des Ankömmlings und dessen Macht und Einfluß in seinem Heimatlande zu verkündigen, und zwar in einem so sturzbachhastigen Französisch, daß er nur ein paar glitzernde Redebruchstücke aufschnappen konnte, vor allem aber das stolze: »– New York Times, le grand journal américain.«

Nachdem er sich ein paar Dankesworte für die überwältigende und unerwartete Wärme des Empfangs abgerungen hatte, wurden er und die Gräfin von einem Kellner unter Verbeugungen ans andre Ende des Speisesaals geleitet zu dem für sie gedeckten Tisch, der in der Nähe des Straßeneingangs zum Restaurant stand. Das Essen – eine würzige, bekömmliche, ländliche Suppe, Bratfisch, Roastbeef, saftige, dicke Scheiben, zart, rot und wohlmundend, so lecker, wie er noch kein Roastbeef gegessen hatte, ein krachigzarter Endiviensalat, Camembert und Kaffee – dieses Essen war so köstlich, wie es die Gräfin vorausgesagt hatte; der Wein, ein Beaujolais, von dem die alte Frau ein Gläschen trank, war billig und gut; die Bedienung – ein alter, verbindlicher, wohlwollender Kellner wartete auf – war von einer fast übertrieben beflissenen Aufmerksamkeit; die aus Aufruhr, Staunen und Verlegenheit gemischte Laune des zum Ehrengast Beförderten, dessen Groll über die Hochstapelei, zu der ihn die alte Frau kurzerhand genötigt hatte, dazu der ungehemmte, hilflose, sich ständig steigernde Drang, vor lauter Überraschtheit laut herauszulachen, – diese Laune war unbeschreiblich, war zum Bersten.

Er blickte mehrere Male unbehaglich von den köstlichen Speisen auf, und da sah er die Vatels an ihrem Tisch, die in heimlichem Flüsterkongreß die Köpfe zusammensteckten, Verschwörerisches, Habsucht und List auf den Gesichtern. Eins von ihnen fing seinen Blick auf, stieß die anderen an und dann nickten und lächelten sie ihm zu mit einer so unterwürfigen Betulichkeit, daß er sich schnell wieder über sein Gericht hermachte, unwissend, ob er grimmig herausfluchen oder lachend losbrüllen solle.

Die Gräfin saß ihm gegenüber und bewachte ihn wie ein Raubvogel; ihre Augen glitzten listig: auf dem scharfgeschnittenen, mageren Gesichtchen lag matt ein sonderbares, stetes Lächeln, das, wie er nun erkannt hatte, gleichzeitig naiv und gerissen, gleichviel betrügerisch schlau und pathetisch wißbegierig war.

Während der ganzen Mahlzeit unterhielt ihn die Gräfin mit einem sonderbaren, bruchstückhaften Monolog, einem halbzusammenhanglosen Diskurs, der ein wahres Spiegelbild ihrer Seele war, und den sie viel eher an sich selbst, als an den Zuhörer zu richten schien. Mit einer unersättlichen Aufmerksamkeit beobachtete sie, wie der junge Mann sein Essen verschlang, sie ermahnte ihn, nichts umkommen zu lassen und auch die Sauce mit einem Stückchen Brot aufzutunken, sie hieß den alten Kellner das hervorragende Roastbeef nochmals bringen und unterließ es nicht, diesem Wunsch ein längeres Geleitwort mitzugeben, in dem der strahlende Wohlstand, der dem alten Kellner und dem ganzen Hotel infolge solcher Willfährigkeit zuteil werden würde, geschildert ward; den jungen Mann aber fragte sie aus, sie erkundigte sich nach seinen Freunden, seiner Arbeit, seinen Zukunftsplänen, seinen Reisen, – um es kurz zu sagen, sie luchste und listete, wurmte und wand sich ein in jedes Eckchen seiner Lebensgeschichte, sie setzte sich selbstmächtig zum Führer und Richter über sein Leben ein.

»Wie lange sind Sie hier herüben gewesen, mein Junge?« fragte sie in ihrer leisen, bebenden, eintönigen Stimme, die einen ganz eigenartig toten Klang hatte, die fast körperlose Seinskraft, wie sie oft bei alten Leuten aus einer unzerstörbaren Lebendigkeit des Geists oder des Gemüts zu kommen scheint, wenn die leibliche Lebendigkeit schon fast ganz erschöpft ist. Bei dieser Frau handelte es sich um eine bitterzähe Lebendigkeit, die sich so krampfhaft ans Dasein klammerte, wie sich nur der Mensch daran klammern kann, und dennoch, in dieser Lebendigkeit lag auch die brütend versonnene Schicksalstrauer von Menschen, die zulange gelebt und mitangesehen haben, wie alle Dinge vergehn. »– Wie lang sind Sie schon hier in Europa? ... Und wo sind Sie zuerst hingegangen ... So, England, ja ... Und nachher? ... Paris also? Und wo sind Sie dort abgestiegen? ... Was haben Sie für das Zimmer dort bezahlt? ... So, zwölf Francs. Nun, da hätten Sie besser fahren können, mein Junge. Bestimmt hätten Sie ein Zimmer für acht Francs finden können ... Ach, alle Amerikaner geben das Geld zu leicht aus«, meinte sie betrübt. »Sie kommen hier herüber und werfen es mit vollen Händen hinaus ... Ich habe viele Amerikaner gekannt, die hier gestrandet sind ... Während des Kriegs hab' ich gar manchem ausgeholfen ... Sagen Sie mir, mein Junge«, – sie lehnte sich über den Tisch, krallte sich mit der klauenhaften Hand an seinen Arm, »– Sie werden aufpassen, daß es Ihnen hier nicht geht wie so vielen anderen Amerikanern?« Eine leise, heisere, bange Note war nun in ihrer Stimme. »Versprechen Sie mir's!«

Er versprach ihr, mit seinen Mitteln hauszuhalten, so daß er nicht ›strande‹, sondern ›flott‹ bliebe.

»Wieviel Geld haben Sie dabei, mein Junge – eh?« fragte sie, ein Habsuchtslicht in den alten Augen. Eine jähe Angst packte sie. Sie lehnte sich, beinahe schoß sie, nach vorn. »Haben Sie genug, um Ihre Rechnung hier zu bezahlen? Genug, um hier von Orléans fortzukommen? Sie werden nicht hier im Hotel stranden?«

Er gab ihr die diesbezügliche Versicherung, ihr wurde leichter ums Herz, mit erlöster Miene fuhr sie fort:

»Sie müssen mir Tag für Tag sagen, was Sie ausgegeben haben ... Sie müssen mich auf Ihr Geld achtgeben lassen ... Die jungen Menschen in Amerika verstehn den Wert des Gelds ja nicht ... Sie werfen es einfach zum Fenster hinaus ... Und wie sie gar hier in Frankreich mit ihren Mitteln hausen! ... Nun ja, hierzuland gibt es so unzählig viele Gelegenheiten zum Geldausgeben, es ist vergeudet, eh man es recht gewahr wird, – Restaurants, Hotels, Liköre, Wein, Cafés ... Ah, Cafés, Cafés!« seufzte sie mit der Schicksalstrauer einer Toten. »Cafés – überall, wo man hingeht!« stellte sie fest. »Das liegt wie ein Fluch auf Frankreich. Cafés und diese Weibsleute ... Haben Sie schon mit diesen Weibsleuten zu tun gehabt?« fragte sie mit Schärfe. Er sagte, das hätte er.

»Ja, ich weiß«, sagte sie. Ihre Stimme war betrübt, schicksalsergeben. »Die Männer treffen sie in den Cafés, diese Weibsleute ... Da sitzen sie, sie warten nur drauf, die jungen Amerikaner ins Netz zu locken ... Sagen Sie mir –« Das Habsuchtslicht glitzte wieder auf in den Augen. »Haben Sie ihnen viel Geld gelassen?«

Er sagte, das hätte er.

»Ach, ich weiß«, erwiderte sie betrübt. »Alle jungen Amerikaner vergeuden ihr Geld auf diese Weise ... Tun Sie es nicht, mein Junge!« Die klauenhafte Hand packte ihn am Arm. »Versprechen Sie mir, kein Geld mehr für diese Weibsleute auszugeben! ... Schlecht sind sie, schlecht ... die Schande Frankreichs ... Suchen Sie sich ein nettes Mädchen, mein Junge ... Ich kenne hier in Orléans ein paar nette Mädchen, ich werde Sie mit ihnen bekannt machen. Aber gehn Sie mir ja nicht in die Cafés – oder aber, wenn Sie hingehn, sprechen Sie mir ja nicht mit diesen Weibsleuten ... Alle Frauen, die Sie im Café treffen, sind Weibsleute. Schlecht, schlecht. Das beste Café«, schloß sie, ohne ein Aufhebens zu machen, »ist das an der Place Martroi. Dort sitzen Weibsleute. Wenn Sie hingehn, dann müssen Sie mir morgen sagen, wie die Musik war ... Sie können dort gute Musik hören ... Ich liebe gute Musik ... Man hört so wenig gute Musik hier in Orléans ... Manchmal möchte ich ins Café gehn, bloß um die Musik zu hören, aber wenn ich es täte, wäre ich keine anständige Frau mehr ... Ich nehme an, Sie werden heut abend hingehn?« forschte sie traurig, schicksalsergeben und doch mit einem Funken der Begier, des fragenden Verlangens in den alten Augen. »Alle Amerikaner gehn in die Cafés. Man kann ja hier sonst nirgends hingehn.«

 

Erst gegen zehn Uhr – dies war die Stunde, um die die Gräfin sich regelmäßig zurückzog – konnte der junge Mann ihrer Obhut entkommen. Er ging in das Café, von dem sie gesprochen hatte. Ein Orchester, drei Mann hoch, spielte dort auf; es war Musik von der Art, die man in französischen Cafés hört. Es hingen viele Spiegel im Raum. Längs der Wände standen lange, gepolsterte Sitzbänke mit alten, abgenutzten Lederbezügen. Mehrere junge Huren saßen an kleinen Tischchen in aller Geduld und machten den unternehmungslustigen Mannswesen von Orléans Augen. Diese strichen sich die Schnurrbärte, blickten kühn zurück und gaben kein Geld für die Weibsleute aus. Und da war eine äußerst hübsche, blonde, verführerische, erfahren aussehende Hure aus Paris, die niemandem Augen machte, sondern für sich allein an einem Tischchen saß, die Stirn nachdenklich heruntergezogen, die Lider halb geschlossen, eine Zigarette im Mund, beflissen verloren in eine Solitaire-Patience und vollkommen gleichgültig gegenüber dem galanten Annäherungswillen der augenmachenden Mannswesen von Orléans, obschon doch mancher begehrliche Blick zu ihr gerichtet ward. Die Männer spielten Karten oder Domino, hielten heimlich verschmitzt Flüstergespräche und brüllten dann laut auf vor Lachen. Das Orchester spielte die Musikstücke, die ein französisches Kaffeehausorchester stets spielt, die Kellner eilten hin und her mit Auftragbrettern, auf denen Gläser standen; der Wirt ging von Tisch zu Tisch und begrüßte seine Stammkundschaft; die Huren saßen geduldig da und lächelten und machten Augen, wenn sie einen Mannesblick aufgefangen hatten; und irgendwie hatte das Ganze eine augenblickliche, eindringliche Vertrautheit und war wie etwas, das der junge Mann sein Lebtag gekannt hatte.

Er wußte nicht, warum dem so wäre. Aber Substanz und Struktur dieser Szene hatten etwas Wesentliches, Allgemeines; – diese schöne und elegante Kokotte aus Paris, die Verführer und Galane von Orléans, diese Stimmung aus Stille, Heimlichkeit und Dunkel, die über der alten Stadt lag, in der dieses Café nun der einzig warme, heitre und helle Ort war, sogar das schrille, trillernde Gepfeife, das vom nicht weit entfernten Bahnhof kam, – zu allen diesen Dingen ließ sich bestimmt in allem Kleinstadtleben irgendein Gegenstück finden, gewiß aber im Leben der kleinen Stadt, in der der junge Mensch seine Kindheit verbracht hatte, wo er nachts im Dunkel im Bett liegend den fernen, klagenden Lokomotivenpfiff und den Donner abfahrender Züge gehört und dann im innersten Lichtkern seiner Herzbegehr das Wahrbild der fernen, der fabulösen, der tausendzinnigen zaubrischen Stadt geschaut und dann an eine liebliche, verführerische, rothaarige Frau namens Norah Ryan gedacht hatte, die in jenem Jahr aus der großen Weltstadt gekommen und ins Haus seiner Mutter gezogen war, und deren Gehn und Kommen ihm und den Seinen stets geheimnishaft und verwunderlich blieb, – und damals hatte er dann auch, ganz wie jetzt, diese bangbefangne Nachtstille der Stadt gespürt, die verhangne Ahnung von wilden Freuden, den Herzschlag von zehntausend Schläfern.

Und dieses unaussägliche Gefühl aus Verlust und Vertrautheit, aus Wirklichkeit und Befremdung verblieb dem jungen Mann auch, als er später, als das Café zumachte, in sein Hotel heimging durch eine stumme, mit Holpersteinen gepflasterte Straße zwischen Reihen von stillen, alten Häusern, an der mit Rolläden versperrten Heimlichkeit von Läden und Werkstätten vorbei.

Und dieses fremde Gefühl wurde stärker denn je, als er später, in seinem prunkhaft-üppigen Hotelbett liegend, die Zeitungsausschnitte im Buch der Gräfin las, – ganz unglaublich, die berstende Ausdrucksgewalt in der Sprache der Yankeejournalisten, die diese alte Frau in tausend, über ganz Amerika verstreuten Kleinstädten entfesselt hatte – Worte und Sätze und Berichte, die, nun hier in der Mitternachtsstille dieser altfranzösischen Stadt gelesen, während die Kathedralenglocken durch die Luft dröhnten, das wunderbewirkte Gewebe des dunklen Geschicks und des zufälligen Waltens dem jungen Menschen ins Bewußtsein zurückbrachten, Mächte, die ihm nah waren wie sein eigen Herz und weiter weg als der Himmel, vertraut wie das eigne Leben und fremder als ein Traum.


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