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Hatten sich auch damals die harten, zackigen Umrisse von Abes Charakter noch nicht aus der pampigen Klebmasse dunkler Süchte herausgearbeitet, so bestand doch keinerlei Undeutlichkeit im Charakter seiner Mutter. Der war lesbar wie geprägtes Gold und fest wie ein Fels.
Abes Mutter war eine Greisin mit dem starkzügigen, primitiven Gesicht der alten Jüdin. Sie war beinah zahnlos; ihr kräftiger Mund war eine Ruine, in deren Mitte noch ein einziger, schwarzer Zahn stand. Zahllose Sorgen hatten das rissige, verwitterte Gesicht gefurcht und ausgelaugt. Mit der gewaltigen Zinkennase und dem großen, konvulsivischen Mund wirkte dieses Gesicht wie eine Schicksalsmaske, die für die Totenklage des ewigen Kummers geschnitzt zu sein schien. Das Gesicht dieser Alten hätte nicht nur als bildnerische Darstellung der ganzen Geschichte ihrer Rasse gelten können, sondern auch als eine Darstellung des Weibs überhaupt, – gemeint ist hier freilich nicht das Weib in seiner eintägigen Jugend mit der kurzwährenden Verfänglichkeit von Haar und Haut, der aufbrechenden Knospe schwellender Rosenlippen, den fließenden Linien des Leibs, – gemeint ist vielmehr das zeit- und alterslose, in Fruchtbarkeit und Kümmernis ständig behauste Weib, das wild, ausdauernd und trächtig ist wie die Erde. Das Gesicht dieser Alten war wie ein von allen Wogen des Lebens umbrandeter, rissig verwitterter Fels. Die Züge zwar waren unverkennbar die Züge einer alten Jüdin, aber dennoch hatte dieses machtvolle, furchige Gesicht eine erstaunliche Ähnlichkeit mit den Gesichtern der Kolonistenfrauen aus der ›Grenzerzeit‹, oder auch mit den Gesichtern alter Indianerhäuptlinge.
Außerdem hatte ihr Wesen die Alterslosigkeit der Erde, die Zeitlosigkeit ihrer Rasse und des Schicksals. Sie war völlig unberührt geblieben von all dem wütig-wüsten Großstadtleben mit seinen kurzen Sensationen, seinen harten, besonderen, zeitverhafteten Sprach-, Mode- und Glaubenseigentümlichkeiten, seinen millionenfachen, eintägigen Begeisterungen, seinem betäubten, vergeßlichen Gedächtnis, das im rohen Ansturm von tausend Tagen nichts behalten und bewahren kann, so daß selbst das Andenken an Liebe und Tod dort nicht dauert und ein Mann imstande ist, seinen toten Bruder zu vergessen, ehe dessen Fleisch in der Grube verwest.
Diese alte Frau vergaß nicht. Für sie, wie für den Gott, dem sie diente, waren siebentausend Jahre wie ein einziger Tag, waren das Gestern, das Morgen und das Immerdar ein Augenblick im Herzen der Liebe und des Gedenkens. So geschah einmal dies: Abes ältester Bruder Jakob war schon über ein Jahr tot, als Eugen eines Tags in Abes Wohnung anrief und die alte Frau ans Telephon kam; ihre Stimme war matt, gebrochen, unverständlich; was sie sagte, klang wie ein Jammern. Eugen fragte nach Abe, sie verstand ihn nicht und redete los in einem erregten, zahnlosen Gemummel, in einem Strom von Jiddisch, in das ein paar englische Worte und Satzfetzen – alle, die sie kannte – eingewirrt waren. Als es Eugen schließlich gelang, ihr zu verstehen zu geben, daß er Abe sprechen wolle, erkannte sie ihn plötzlich an der Stimme und erinnerte sich seiner. Und dann, augenblicklich, ganz so, als wäre es erst gestern geschehen und er, Eugen, wäre ein Freund des toten Sohnes gewesen, den er doch gar nicht gekannt hatte, fing die alte Frau an, leise und rhythmisch in die Leitung zu jammern: »Jakie! ... Mein Jakie! ... Mein Sohn Jakie! ... Er ist tot.«
Ein paar Tage später ging Eugen mit Abe zum Dinner heim. Abe lebte mit seiner Mutter, zwei jüngeren Brüdern und Jimmy, dem unehelichen Sohn seiner Schwester, zusammen im ersten Stock eines alten, vierstöckigen Rotbacksteinhauses in der Twelfth Street, nahe bei der Second Avenue, an der East Side. Die alte Frau hatte ein gutes Mahl bereitet, – eine dicke, seimige Suppe, gehäckselte Hühnerleber, Huhn, Kuchen; dazu gab es einen starken Süßwein. Sie trug die Mahlzeit auf, war aber nicht dazu zu bewegen, sich hinzusetzen und mitzuhalten. Sie kam kurz herein, gab Eugen scheu und linkisch die Hand, murmelte etwas auf jiddisch mit ein paar englischen Brocken. Plötzlich aber, so, als hätte sie sich bisher bloß mit großer Anstrengung beherrscht, verzog sie ihr altes, versorgtes Gesicht in den Zuckungen eines mächtigen und unheilbaren Kummers. Ein langer, furchtbarer, unbändiger Klageschrei kam aus ihrer Kehle, mit einer natürlichen, primitiven Gebärde schlug sie sich mit den knorrigen, abgeschafften Händen die Schürze vors Gesicht und wankte blind, mit taumelndem Schritt durch die Tür. Sie war wie jemand, der vor Schmerz wahnsinnig geworden ist. Sie begann, sich die schlaffen Brüste zu schlagen, sich das dünnsträhnige, graue Haar zu raufen, während sie in der Küche umherwankte und qualtrunken und ihrer selbst unbewußt stöhnte und jammerte. Abe war ihr hinausgefolgt, und nun konnte Eugen hören, wie er ihr auf jiddisch leise, eindringlich und zärtlich zusprach. Die langgezognen Klageschreie verstummten. Abe kam zurück. Seine Miene war traurig und betrübt. Nach einer Weile sagte er: »Mit Mama geht es schnell bergab. Sie kann nicht über den Tod meines Bruders hinwegkommen. Sie denkt die ganze Zeit an nichts anderes, sie kann an nichts anderes denken.«
»Wie lang ist er denn schon tot, Abe?«
»Über ein Jahr ist's, daß er starb«, sagte Abe. »Aber das spielt keine Rolle. Sie wird es nie vergessen, solange sie lebt. Sie wird es immer genau so heftig empfinden.«
Dieses furchtbare und wilde Bild des Kummers war unvergeßlich in Eugens Gedächtnis gemeißelt. Es wurde eine ungeheure und schreckerregende Tatsache für ihn, eine Tatsache so uralt, so unbezähmt wie die Erde, eine Tatsache, wie sie selbst die bestürzende Vergeßlichkeit des weltstädtischen Lebens, das wütige Chaos der Straßen, die krasse, blendende Grelle und der aufgewirbelte Staub von zehntausend Tagen nicht berühren konnten. Der Kummer dieser alten Frau war höher als die höchsten Türme New Yorks und beständiger als aller Stahl und Stein der Stadt; er würde währen, wenn der ganze Bau der Metropole längst in Staub und Schutt lag. Dieser Kummer war wie der Kummer aller alten Frauen, die sich je die Brüste geschlagen, sich das Angesicht mit der Schürze verhüllt und qualtrunken und wahnsinnig und vor Schmerzen taumelnd gejammert hatten. Dieser Kummer erfüllte ihn mit Entsetzen, Empörung, einem Schauder der Grausamkeit, des Abscheus und des Mitleids.
Die Alte war die fruchtbare und dauernde Erde, aus der ihre Kinder entsprungen waren, und alle diese Kinder, so auffallend und eigenartig sie auch vom Großstadtleben verwandelt worden waren, nahten sich ihrer Mutter in Ergebenheit und Ehrfurcht; – Abe mit dem trübseligen, grauen Gesicht dessen, der eine Ziffer aus dem Menschenschwarm der Zahllosen ist, Sylvia mit dem fiebrigen, elektrischen Glitzern der nächtlichen Lebewelt, alle Geschwister mit all dem, was neu, scharf, fremdartig, aufgedonnert, nichtssagend, materialistisch war in Sprache, Anzug, Gehaben oder Glauben, – sie kamen mit Liebe, in treuer Verbundenheit, mit Verehrung zu ihr wie zu einer großen Bruthenne der Erde. Das Leben dieser Alten war in zwei Wesenheiten der Andacht verwurzelt: in der Synagoge und im Heim, und alles, was sich außerhalb dieser Andachtswesenheiten ereignete, war phantomisch und fern; ihr Daseinsgrund aber war alterslos, wortlos, immerdardauernd.
Abe liebte seine Mutter innig. Immer, wenn er von ihr sprach, ja, auch wenn er ihrer nur ganz beiläufig gedachte, war seine Stimme belegt mit der Leisigkeit von Ehrfurcht und Zuneigung. Seinen Vater aber mochte er nicht. Von diesem hörte Eugen ihn nur ein paarmal sprechen. Abes Ton war dann herb und bitter, er bezeichnete seinen Vater mit dem Ausdruck »that guy« oder »that fellow«, »jener Kerl« oder »jener Geselle«, ganz so, als spräche er von einem fremden Menschen. Eugen kriegte den Alten nie zu sehen. Er hauste irgendwo allein; von seinen Kindern wollte keins etwas von ihm wissen. Er war Schuster, – allem Anschein nach ein unfürsorglicher Mensch, der sein Geld nicht zusammenhalten konnte. Er hatte nie genug verdient, um seine Familie durchzubringen, und war außerdem, wie Abe sagte, ein kleinlicher Haustyrann gewesen. Abes Kindheit war vom Stempel der Entbehrung, der väterlichen Tyrannei und der Armut entstellt worden; die Mutter und die Kinder hatten hart ums Dasein gekämpft, und Abe selber hatte von seinem achten Jahr an allerlei harte, graue, schäbige, freudlose Arbeit geschafft, war Zeitungsjunge gewesen, dann Laufbursch in einer Krämerei, dann Officeboy im Büro eines Börsenmaklers. Dann hatte er eine Zeitlang in einer collection agency gearbeitet, d. i. eine Firma, die für andre Firmen rückständige Zahlungen eintreibt! Abe mußte dort stundenlang die Briefe mit den Mahnungen und Zahlungsaufforderungen tippen. Dann war er Schreibgehilfe und Sekretär eines Professors geworden, der der Baugewerbeschule vorstand. Und – wer sich des Stadtviertels erinnert, in dem die Werkstätten der Konfektionsschneider und der Pelzhändler liegen, der erinnert sich auch der bleichen, schwärzlichen, fettig verschwitzten jungen Männer, die dauernd hochbeladene Handkarren durch das Gewühl der geschäftigen, beschwärmten, kaleidoskopischen Straßen schieben, Karren, die mit Kleidungsstücken jeglicher Art und Rauchwerk beladen sind und auch mit all dem unbeschreiblichen und unaufzählbaren Zeug für die Schneiderei – Nadel, Faden, Zwirn, Ösen und Haken, Steifleinen, Futterstoff, Litzen, Besatz, Borden, Kleiderwatte und so weiter – dem ganzen Kram, der im Handel unter dem irreführenden Namen novelties (Neuigkeiten) geht. So einen Handkarren hatte auch Abe geschoben. Ferner hatte er einmal ein paar Sommermonate in New Jersey als Ausladearbeiter auf dem Bahnhof geschafft und die großen Güterwagen ausladen helfen, die mit Wassermelonen aus Georgia kommen. Schließlich noch war er ziemlich lange Lastkraftfahrer gewesen; er fuhr für die Firma seiner beiden ältesten Brüder, die ein zinc business an der East Side hatten.
Die Großklempnerei lag im sogenannten ›gas-house district‹ (nördlich der Fourteenth Street zwischen der Avenue A und dem East River), und dorthin begleitete Eugen den Abe einmal an einem strahlenden, blau- und golddurchfunkelten Frühlingstag, an dem alle Wasser blitzten und alle Luft von Lichtern sprühte. Auf einem leeren Platz zwischen zwei Fabriken sahen sie eine Bande von jungen Lungerern, die im ›Ring‹ in der Kniebeuge hockten und würfelten, und dann stand da am Strom das riesenhafte, häßliche Gaswerk mit den in spitzen Eisengerüsten gefaßten Puffballonen der Speichertürme, und dann waren da die Werften, die großen, starkriechenden Piere und das funkelnde Wasser, – war da der lebhafte, freudigerregende Verkehr auf dem Strom: mächtige, kleine Schleppboote, Schiffe, Fähren, auf denen rostrot in Reihen die Eisenbahngüterwagen standen.
Als sie weitergingen durch diesen Distrikt mit seinem Ödlandrost und -gerümpel, seinen Elendsgassen mit baufälligen Wohnbaracken und zerfallenden Backsteinhäusern, seinen brutalen Fabrik- und Werkstättenbauten mit Rauhglasfenstern, Tanks und Lagerschuppen, schließlich auch mit der reinen, kalten, sprühenden Kraft und Freudigkeit seiner Wasserspiegel, ... einen Distrikt, der den Stempel unaussprechlich schnöder Häßlichkeit trägt und den dennoch ein machtvolles, rüdes Frohlocken von Licht und Himmel und Weite und Wasser hebt, etwas, wie es nur in Amerika zu finden ist, etwas, für das es vorläufig noch keine Sprache gibt, ... als sie so weitergingen, knallten auf einmal rings um sie herum die blauen, bösen Handgranaten leerer Flaschen aufs Pflaster, und als sie sich umblickten, um herauszufinden, aus welchem Hinterhalt dieser Angriff käme, war die Straße menschenleer bis auf einen jungen Lümmel, der, Hände in den Taschen, am morschen Rahmen eines geschlossenen Tors lehnte, einen Ausdruck von bösartiger Unschuld auf dem schmalen, gemeinen, pickelübersäten, irischen Gesicht. Die Straße lag bös und stumm und leer da, aber als sie sich umwandten und weitergingen, fielen die berstenden Flaschen wieder rings um sie herum aufs Pflaster und zerschellten zu Scherbensplittern von einem finsterlichen Blau.
Abe grinste verbissen; die mörderisch-verstohlene Unheimlichkeit, die unanständige und feige Sinnlosigkeit dieses Angriffs schien ihn nicht im geringsten zu überraschen oder aus der Fassung zu bringen. Er sagte Eugen, dieser Distrikt sei einer der schlimmsten in ganz New York, eine der verbrecherischsten Gangsterbanden habe hier ihr Hauptquartier, und aber und abermals seien diese diebischen Gauner ins Zinklager seiner Brüder eingebrochen. Und dann erzählte Abe, wie er und seine Brüder, da sie Juden wären, es von Kind auf auszufechten hatten, es mit Fuß und Faust, mit Zahn und Fingernagel, mit Knüttel und Stein ausfechten mußten mit den jungen irischen Lungerern und Banditen, die die Plage dieses Distrikts waren. Abe erzählte Eugen Geschichten aus seiner Kindheit, Geschichten von blutigen Kämpfen, die auf dem Pflaster dieses Viertels ausgetragen wurden, Geschichten von Jungen, die mit einem Leibschaden auf Lebzeiten, verkrüppelt oder blind aus diesen Kämpfen kamen; Abe erzählte von einem kleinen Buben, dem ein Feind im Handgemenge auf einem Pier mit dem Daumen das Auge herausgedrückt und ausgerissen hatte, von einem anderen Buben, dem bei einer Rauferei unterm Hochbahnstrang ein Feind einen Steinbrocken auf den Kopf geschmissen hatte, so daß das Hirn des Getroffenen wie Brei auf dem Pflaster lag. So war Abes Kindheit gewesen, und so hatten da Kinder auf Pieren und in Kehrichtgäßchen, auf Straßen und Dächern das Mordhandwerk gelernt und hatten sich früh an den Geruch von Blut und verspritztem Hirn auf dem Pflaster gewöhnt. Abe erzählte, wie einer seiner älteren Brüder es noch immer auszukämpfen hatte. Dieser Bruder, Barney Jones, war ein stämmig gebauter, kräftig aussehender Mann mit kurzen, dicken Händen und einem muskulösen, grauen, viereckigen, gutgelaunten Gesicht, einem Faustkämpfergesicht. Er hatte Schritt um Schritt gegen die Gangsters zu kämpfen, die aber und abermals zu ihm ins Geschäft gekommen waren und Geld gefordert hatten, nämlich das ›Protektionsgeld‹, wie es die Kaufleute im Distrikt demütig den Gangsters zahlten, und zwar regelmäßig zahlten. ›Protektionsgeld‹ freilich war nur ein zeitgenössisch schönfärbender Ausdruck für ›Schmiergeld‹ – man zahlte es, um sein Geschäft und sein Warenlager gegen nächtliche Einbrüche zu sichern, und zwar zahlte man es den Gangsters, die einen angeblich ›schützten‹, in Wirklichkeit aber dann einfach verschonten, so daß man letzten Endes tatsächlich ›protegiert‹ war. Barney war allen Aufforderungen und Drohungen der Banditen mit einem festen, kalten Blick und zwei steinharten Fäusten begegnet. Mehrere Male schon hatte er Abgesandte der Bande, die eindringlich-angelegentlich zu ihm kamen und drohten, zu Brei geschlagen. Er war ein guter Mann und ein wilder Raufbold. Wie man zuschlägt und sich seiner Haut wehrt, hatte er in der grimmigsten und brutalsten Arena auf Erden gelernt, auf den Straßen New Yorks.
»Und – oh-ho-ho-ho!« Abe hob sein breitgrinsendes Gesicht und lachte leise, geschmerzt. »Und der Kerl tut das liebend gern. Sag! bei dem sind sie an den Rechten gekommen! Oh-ho-hoh-ho-ho! Der versteht's! Dem macht's Spaß! Sag! weißt du, was ich mal miterlebt hab? Oh-ho-ho-ho-ho-ho! Hei! war das üppig! Da kamen zwei Kerle rein, um ihn einzuschüchtern, und – Oh! Ho-ho! Ho! Das hätt'st Du sehen sollen! Da stand so ein Zinkzuber, weißt Du, hundertachtzig Pfund schwer, den nahm er und schlug damit dem ersten Kerl auf den Schädel. Das dicke Zinkblech brach, so hart war der Kopf.«
»Und was ist aus dem andern Burschen geworden?«
»Oh-ho-ho-ho! ... Ei, war das üppig! Das hätt'st Du sehn sollen, wie der lief! Der nahm fast den Türpfosten mit, so eilig hatte er's auf einmal, fortzukommen. Oh-ho-ho-ho!«
Eugen hatte mit der Zeit alle die Geschwister Abes kennengelernt. Es stand so um sie, daß jedes von ihnen auf seine Art durch eine entschiedene Individualität gekennzeichnet war, durch eine innere Unabhängigkeit, die vom kampf- und mühevollen Dasein auf Großstadtstraßen zeugte. Jedes von ihnen hatte Narben davongetragen, und dieses Dasein hatte sie geprägt und hartgemacht. Aber obgleich dieses Leben jedem von ihnen seinen Stempel unauslöschlich aufgedrückt hatte, so hatte es doch nicht vermocht, daß auch nur eines von diesen Geschwistern verrohte. Wenn Eugen in späteren Jahren an diese Leute zurückdachte, fiel ihm eine außergewöhnliche Eigenschaft an ihnen auf. Es war diese: – da war eine arme Judenfamilie aus dem New Yorker East Side District. Die Eltern waren eingewandert, der Vater war Schuster und konnte sein Geld nicht zusammenhalten, die Mutter war eine alte, orthodoxe Jüdin. Von den Kindern hatte sich jedes von früh auf selbst durchbringen müssen, hatte jedes allein auf sich gestellt den Kampf ums Dasein geführt. Nun waren die älteren Brüder zähe, zackige, ungebildete Kaufleute, Händler, Mechaniker. Eine von den Schwestern war eine begabte Modezeichnerin und hatte ein Geschäft für Damenhüte, das glänzend ging. Die andre Schwester war eine begabte Pianistin. Die drei jüngeren Brüder studierten; ganz bestimmt einer von ihnen war über den Durchschnitt begabt und ungemein befähigt. Und jedes von den Geschwistern hatte einen natürlichen Hang für die Künste, eine selbstverständliche Hochachtung für das Geistesleben und die Wissenschaften, und selbst die Ungebildeten unter ihnen machten hierin keine Ausnahme. In einer armen Judenfamilie wie dieser staken also Anlagen, die Eugen in andern Arbeiterfamilien oder bei kleinen Leuten auf dem Land, so wie er sie gekannt hatte, für unglaublich gehalten hätte, und dieser Umstand, diese Gegebenheit handwerklicher, händlerischer, künstlerischer und gelehrter Elemente in einer armen Familie, kam ihm, Abe und dessen Geschwistern so natürlich vor, daß er, Eugen, es erst später seltsam und wunderbar fand.