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Im Herbst jenes Jahres wohnte Eugen eine Meile außerhalb der Stadt in diesem Haus an der Ventnor Road. Dem Namen nach war das Haus eine Farm, – es hieß Hill-top Farm oder Far-end Farm oder so ähnlich – aber in Wirklichkeit war es gar keine Farm, sondern eine großartige Villa aus jenem angewitterten, grauen Stein, den es dortzulande gibt, der dort hinzuzugehören scheint, denn dort ist es ja so, daß in der feuchtschweren Luft das Grau der Zeit selber webt und streng und dennoch schön immerdar herabrieselnd das Gemüt tränkt und alles, was es berührt, – das Gras, das Laub, den Efeu, die frischfeuchte Hautfarbe der Menschengesichter und das alte graue Gestein – reicher macht mit einem unvergleichlichen Angewittertsein von der Zeit.
Das Haus stand nicht unmittelbar an der Straße, sondern ein paar hundert Yards, vielleicht eine Viertelstunde, zurückgerückt, und um es zu erreichen, mußte man von der Straße in einen beiderseits von hohen Bäumen bestandenen Weg einbiegen, und die Äste dieser hohen Bäume bildeten einen Bogen über dem Weg, und diese Allee machte, daß Eugen oft nach Hause denken mußte, besonders nachts, wenn der Sturmwind durch die Kronen heulte und stob. Rechts und links der Straße lagen die Rugby-Plätze zweier Kollegien, und nachmittags, wenn Eugen ans Fenster trat, sah er auf dem feucht-frischen Grün der Spielplätze die Studenten beim Sport, junge Kerle in Shorts und Jerseys, die nackten Knie vom Rasen beschorft, sah er sie im Scrimmage-Circle, ein schwankes, hin und her gezerrtes, durcheinandertaumelndes, kämpferisches Knäuel, und dann wieder beim Spiel im offnen Feld, laufend, ausweichend, den Ball weitergebend, wenn ernsthaft angegriffen wurde, und hörte die scharfen, hellen Rufe durch die feuchte Luft gellen. Diese Studenten spielten nicht so verzweifelt und entschlossen, nicht mit diesem fast an Professionals gemahnenden Ernst, den die College-Teams in Amerika an den Tag legen; ihre grasbeschorften und beschmutzten Knie, ihr Getümmel und ihr schnelles Freispiel, ihr Geschnauf und ihre hellen, klaren Stimmen, das alles ließ Eugen vielmehr an erwachsene Schulbuben denken.
Einmal kam Eugen nachmittags die Allee herauf, während das Spiel im Gang war. Der Ball war den Spielern entkommen und rollte über den Weg. Und ganz wie er zu Hause zu tun pflegte, wenn den Buben dort ein Baseball entkommen war, so lief er jetzt dem Ball nach und holte ihn. Einer von den Spielern, der dem Ball nachgerannt war, blieb am Rand des Spielplatzes stehn, die Hände im Hüftstütz, während Eugen den Ball stoppte. Der Spieler war rot im Gesicht, schnaufte schwer, sein blondes Haar war verwuschelt. Als Eugen ihm den Ball zuwarf, rief er ein höfliches, helles »Thanks very much« zurück. In dem Wörtchen very war derselbe geschlossene, helle, enge E-Laut, den die Engländer auch in der zweiten Silbe des Worts ›American‹ aussprechen, ein Laut, der Eugen stets leicht abstieß, weil er ihm ein wenig nach geringschätziger Überlegenheit und gönnerhaft zu klingen schien.
Eugen blieb eine kleine Weile stehn und sah dem Jungen nach, der schnell übers Rugbyfeld zurücktrottete. Die Spieler warteten schnaufend, sie standen lässig, die Hände in die Hüften gestützt. Der Ball passierte ins Scrimmage, das Knäuel schwankte, schaukelte, scharrte, brach plötzlich auseinander ins Freifeldspiel, und das alles sah unglaublich fremd und nah und vertraut aus.
Eugen war es, als hätte er dies Leben stets gekannt, als wäre es immer sein Leben gewesen und ihm so vertraut wie seine eignen Kindheitserlebnisse. Sogar die Erde in ihrer Stofflichkeit kam ihm bekannt und vertraut vor, er spürte sie feucht und firm und federnd unterm Tritt, und das nächtliche Sturmwindgeheul in den großen Bäumen der Zufahrtsallee klang so wild und einsam und sinnlos wie jenes, das er als Achtjähriger gehört hatte, wenn er nachts im Bett dem Sausen und Stöhnen in den großen Eichen gelauscht hatte, die auf dem Hügel oberhalb seines Vaterhauses standen.
Die Leute im Haus hießen Coulson. Eugen traf seine Vereinbarungen mit Mrs. Coulson und mietete sich ein. Sie war eine hochgewachsene, wetterfest aussehende Frau in mittleren Jahren. Sie besprachen alles in der Diele. Der Fußboden in der Diele war mit Marmorfliesen belegt; von dort trat man durch die Tür sofort auf den bekiesten Zufahrtsweg.
Mrs. Coulson war eine frische, fröhliche Person und sah nach Welt aus. Sie war noch ganz hübsch. Sie trug einen gutgeschnittenen Rock aus schottisch-gemustertem Wollstoff und eine Seidenbluse. Während des Gesprächs hielt sie die Arme vor der Brust verschränkt, denn es war kalt in der Diele. Sie rauchte eine Zigarette. Ein zottiger brauner Hund kam herzu, sprang an ihr hoch und stupste mit der Nase nach ihrer Hand; sie legte ihm die Hand auf den Kopf und kraulte ihn sacht zwischen den Ohren. Eugen sagte zu Mrs. Coulson, er möchte gern am nächsten Tag einziehen, worauf sie schnell und fröhlich erklärte:
»Recht von Ihnen! Hier wird alles für Sie in Ordnung sein.« Dann fragte sie ihn, ob er auf die Universität ginge. Er sagte nein und fügte mit einem Gefühl der Beschwer und schnöder Selbstentblößung hinzu, er sei »Schriftsteller« und wolle im Hause arbeiten. Er war vierundzwanzig.
»Dann bin ich sicher, daß Ihre Arbeit sehr, sehr gut sein wird«, erklärte sie fröhlich und entschieden. »Wir haben früher schon mehrere Male Amerikaner hier im Haus gehabt, lauter gescheite Leute. Die Amerikaner, die wir hier im Haus hatten, sind wirklich alle sehr gescheit gewesen«, bemerkte sie. »Nun also, ich bin sicher, daß es Ihnen hier gefallen wird.« Sie geleitete ihn zum Abschied zur Tür, und als sie zur Tür kamen, fuhr draußen gerade ein kleines Auto vor, und einen Augenblick später kam ein Mädchen schnell über den bekiesten Platz vorm Haus gegangen. Das Mädchen trat ein. Es war ein hochgewachsenes, schlankes, sehr schönes Mädchen, aber in seinen Augen war derselbe harte Blick, der in Mrs. Coulsons Augen war, und um die Mundwinkel spielte dasselbe leise, harte Lächeln, das um Mrs. Coulsons Mundwinkel spielte.
»Edith«, sagte Mrs. Coulson in ihrem frischen, eigenartig schnittigen Ton, »dieser junge Mann ist Amerikaner und zieht morgen hier ein.« Edith Coulson blickte Eugen eine Sekunde mit ihrem harten, hellen Blick an, streckte die kleine, behandschuhte Rechte aus, drückte ihm kurz die Hand.
»Oh! How d'ye do«, sagte Edith Coulson schnell, ihn mit fester Stimme begrüßend. »Ich hoffe, es wird Ihnen hier gefallen.« Dann ging sie durch die Diele, trat in ein Zimmer zur Linken ein, schloß die Tür.
Ihre Stimme war frisch-spröde wie die Stimme ihrer Mutter, aber auch süß, kühl, jung und wohllautend, und als Eugen dann den Weg hinunter ging, lag ihm diese Stimme im Ohr.
Dies war ein wunderbares Haus, und die Leute waren wunderbare Leute. Eugen konnte sie später nie vergessen. Er schien sie sein Lebtag gekannt zu haben, schien ihr ganzes Wesen zu kennen. Sie kamen ihm so selbstverständlich vor wie seine nächsten Blutsverwandten, und er wußte um sie mit einem Wissen, dessen Wurzeln tiefer reichen als Denken und Gedächtnis. Er sprach nicht oft mit diesen Leuten, und wenn sie miteinander sprachen, sagte keins etwas von seinem Leben aus. Und so ist es schwer von dem zu berichten, was Eugen in diesem Haus erfuhr und empfand, denn es war eins von diesen tiefen und schlichten Erlebnissen, die einem wie etwas Immer-schon-einmal-Erlebtes geschehn, für die es jedoch keine Sprache gibt.
Und doch: – es ging Eugen, es ging diesen Leuten wie es einem Kinde geht, das eine halbwache Schau von einem Zauberland, in dem es einmal gelebt hat, in sich herumträgt und von der Befremdung und einem Gefühl unmittelbar gegenwärtiger Wiederentdeckung heimgesucht wird, – das entschlüsselnde Wort, das Wiedereinlassungswörtchen schien ständig auf ihren Lippen zu liegen, schien gerade draußen vorm Torgatter des Gedächtnisses zu warten, schien bloß einen Schemen, ein Sätzchen, einen Laut weiter weg zu sein im Augenblick, in dem sie es aussprechen wollten, – und wenn sie es zu sagen versuchten, erlosch etwas in ihrem Bewußtsein wie ein Licht, zerging etwas in ihrem Begreifen wie bunter Rauch, und wenn sie es zu fassen versuchten, hatte es sich auf immer zerlöst.
Dem, was Eugen in diesem Haus erlebte, läßt sich folgendermaßen am nächsten kommen: – er empfand dort manchmal den größten Frieden und die größte Einsamkeit, die er je gekannt hatte. Aber er wußte dabei immer, daß die andern Leute im Haus da wären. Er konnte nachts in seinem Zimmer sitzen, und dann hörte er nichts außer dem Gestöhn des Sturmwinds draußen in den hohen Bäumen und von Zeit zu Zeit dem Geflacker und Gezisch des Kohlenfeuers, das auf dem Rost im offnen Kamin brannte, und – der Stille, der starken, lebendigen Stille, die sich im nächtlichen Haus bewegte und wartete, – und dann spürte er doch immer das Dasein der anderen Leute.
Dazu war es nicht nötig, daß er sie ins Haus hereinkommen oder an seiner Tür vorübergehn hörte, noch auch, daß Türen gingen oder Stimmen vernehmlich wurden, – wenn er sie nie gesehn, nie gehört, nie zu ihnen gesprochen hätte, wäre es genau dasselbe gewesen: – er hätte ihr Dasein gespürt.
Es war etwas, das er immer gekannt und von dem er gewußt hatte, daß es ihm geschehen würde, und nun geschah es mit dem Befremden und der dunklen Heimlichkeit eines erwarteten Erlebnisses. Er kannte diese Menschen, spürte sie, lebte unter ihnen mit einer Vertrautheit, die des Sehens und Miteinander-Sprechens nicht bedurfte. Und die Erinnerung an dieses Haus und an seine stumme Kameradschaft mit all seinen Bewohnern wird irgendwie in ein Wahrbild der dunklen Zeit einbezogen. Es war eins dieser kummervollen und unwandelbaren Wahrbilder, das im Strom der grellen Wahrbilder, die ständig wie der Lauf eines Feuerflusses durch sein Bewußtsein zogen, irgendwie fest und für sich allein und auf immerdar stand, ein Wahrbild des Kummers, der Gewißheit und des Geheimnisses, das er nicht ergründen konnte, ein Wahrbild, auf dem immer das alte traurige Licht des schwindenden Tags lag, ein Licht, aus dem all die Hitze, die Heftigkeit und der Gehalt des wütigen, staubigen Tags gegangen waren, und das wie die Zeit selber war, unerdhaft-irdisch, verfemt, entrückt, immerdardauernd.
Und dieses feststehende und wandellose Wahrbild der dunklen Zeit war so: Eugen wohnte allein in einem alten Hause der Zeit, und doch waren überall um ihn andre Leute, und er und diese Leute sprachen nie miteinander. Sie kamen und gingen wie die Stille im Haus, aber er wußte stets, daß sie da seien. In einem der Zimmer pflegte Eugen am Fenster zu sitzen, und dann wußte er, die Leute wären im Haus, und wußte, Dunkelheit, Kummer und starkes Stillsein wohnten in diesen Leuten, und ihre Augen wären still und voll von Kummer, Frieden und Wissen, und ihre Gesichter wären dunkel, ihre Zungen stumm und sie sprächen nie. Eugen konnte sich nicht entsinnen, wie ihre Gesichter aussahen, aber daß sie ihm vertraut wären wie seines Vaters Gesicht, das wußte er, und auch daß sie einander von je gekannt und zusammengewohnt hätten im alten Hause der Zeit, der dunklen Zeit, wo Stille und Kummer, Gewißheit und Frieden bei ihnen waren. Dies war das Wahrbild von dunkler Zeit, das sein Leben von nun an heimsuchte, in das irgendwie sein Leben unter den Leuten in jenem Haus eingegangen war.
In dem Haus wohnten – außer Eugen und Morison und den drei Coulsons, Vater, Mutter und Tochter – drei Männer, die sich zusammen eingemietet hatten. Sie waren angestellt in einer Automobilfabrik, die zwei Meilen außerhalb der Stadt lag.
Der Grund, weshalb Eugen diese drei Männer später nie vergessen konnte, weshalb er sie alle so gut zu kennen schien, war vielleicht der, daß an ihnen etwas Ruiniertes, Zerbrochnes oder Verlornes war, denn irgendeine kostbare, unwiederbringliche Eigenschaft war ihnen abhanden gekommen, und sie konnten sie nie wieder erlangen. Vielleicht war dies der Grund, weshalb er sie so gern mochte, denn bei ruinierten Menschen hat das Empfinden keinen Mittelweg, und so ist es entweder Liebe oder Haß. Die Ruinierten, die wir gern mögen, sind jene, die verzweifelt starben, die ihr Leben verloren, weil sie das Leben zu sehr liebten, die jene Größe in sich hatten, die sie das, was sie am meisten liebten, verschwenden hieß, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt und es verloren haben, weil das Leben ihnen kostbar ist, und die schließlich sterben, weil der Same des Lebens in ihnen ist. So sterben nämlich nur Leute, die das Leben lieben, – und dies sind die Ruinierten, die uns lieb sind.
Alle die Leute im Haus waren Menschen, die ihr Leben verloren hatten, weil sie die Erde zu sehr liebten und gewissermaßen von ihrem eignen Hunger erschlagen worden waren. Und deshalb mochte sie Eugen alle gern und konnte sie später nicht vergessen: es schien da irgendeine zauberische Anziehung zu bestehn, die alle diese Leute in diesem Haus zusammengebracht hatte, ganz so, als wäre das Haus eine magnetische Mitte für Verlorne.
Gewiß war es dies Verlorensein, das die drei Angestellten der Automobilfabrik zusammengebracht hatte. Zwei von ihnen waren noch junge Männer Anfang der zwanzig, der dritte aber war älter. Er war über vierzig, hieß Nicholl, hatte während des Kriegs im Heer gedient und war zum Hauptmann befördert worden.
Er hatte jene karge, quicke, flotte Figur, die man oft an Soldaten findet, die fast eine Berufseigenschaft ist, und man konnte sich ihn ohne weiteres vorstellen, wie er zu Pferde saß, ganz so, als wäre er dort aufgewachsen oder hätte sein ganzes Leben bei der Kavallerie verbracht. Auch sein Gesicht wirkte soldatisch in seiner hageren, straffen Abgezehrtheit, und seine Sprechweise war, obschon gutmütig und sehr freundlich, durchaus militärisch: wenig Worte, schnittig und ruckweise hervorgebracht, sporadisch geäußert. Sein hageres, wetterhartes Gesicht war tief und scharf wie von Narben gezeichnet, die Wangen waren völlig eingefallen; er trug einen kleinen, gestutzten Schnurrbart, und wenn er lächelte, sah man seine langen Schneidezähne, – es war ein hageres, karges, zähnebleckendes und doch anziehendes Lächeln.
Sein linker Arm war verdorrt, verschrumpft, und er konnte ihn fast zu nichts gebrauchen. Ein Stück von der Hand und zwei Finger waren ihm bei der Verwundung weggerissen worden. Aber es waren nicht diese Verstümmelungen des Fleisches, die einem den Gedanken eingaben, hier sei ein unwiederbringlich verfallenes, verlorenes oder zerbrochenes Leben. Die körperlichen Schäden vergaß man in der Tat sehr schnell, denn diese Gestalt sah so sehnig, straff und forsch, so gut in Form, energisch und tauglich aus, daß man nie dachte, der Mann wäre ein Krüppel, oder daß man ihn gar um der Verstümmelung willen bemitleidet hätte. Nein, der Eindruck des Zerfalls, den man von diesem Mann empfing, hatte nichts mit dem Körper zu tun. Es schien ein Stück von seinem Wesen weggerissen worden zu sein, aber es waren nicht die Nervenzentren des verwundeten Arms, es waren vielmehr die seiner Seele, die zerstört worden waren. Irgendwie war in dem Mann eine furchtbare Leere, etwas Gestorbenes, das einen unausgefüllten, unausfüllbaren Raum hinterlassen hatte, und die karge, hagere Gestalt, die sich so vortrefflich hielt, schien bloß eine Art Hülse zu sein, die diese Leere umgab.
Captain Nicholl war immer smart angezogen, und die Kleider saßen gut an der klaren, knappen Figur. Er war immer guter Laune, ungemein freundlich auf seine kurzangebundne, karge Art, und er lachte oft – ein ziemlich metallisch klingendes Gackeln, das plötzlich kam und ebenso schnell wieder aufhörte. Er schien gewissermaßen die Tür zur Dunkelkammer der Sorgen und Plagen abgeschlossen und den Schlüssel weggeworfen zu haben, – und er schien auch damals, als er köstlichere Dinge verlor, die Fähigkeit verloren zu haben, sich mit bohrenden Zweifeln abzugeben und jenen Gewissensstörungen, die den meisten Menschen so viel zu schaffen machen.
Nun, in der Tat, schien er nur noch eine einzige ernste Lebensabsicht zu haben, und diese war, sich zu amüsieren, sich ständig zu amüsieren, aus dem Leben auf jeden Fall das letzte Quentchen an Unterhaltendem zu ziehen, das es möglicherweise hergeben konnte, und in Ausführung dieser Absicht standen ihm die beiden jungen Männer, die mit ihm zusammen lebten, mit einer Energie bei und einem Ernst, der einen vermuten ließ, daß die Tätigkeit in der Automobilfabrik lediglich ein notwendiges Übel war, das man geduldig auf sich nahm, weil die Arbeit die Mittel erbrachte, mit denen sich das weitaus wichtigere Geschäft bestreiten ließ, jenes einzige Geschäft, dem das ganze Interesse der drei Männer galt, –: die Jagd nach dem Vergnügen.
In der Art, wie sie dieser Jagd oblagen, war etwas vorsätzlich Berechnendes, ein konzentriertes, ein brennpunkthaft heftiger Zielwille, der erstaunlich, grotesk und ganz unglaublich war, der im Beobachter eine furchterregende, oder wenigstens doch beunruhigende Erinnerung hinterließ, denn in ihm war beinah der Wahnsinn der Verzweiflung, war die absichtliche Sucht nach einer Selbstvergessenheit, nach der um einer grauenhaften seelischen Leere willen um jeden Preis und mit aller Anstrengung gefahndet werden mußte.
Captain Nicholl und seine zwei jungen Gefährten besaßen ein kleines Auto. Das Ding war so winzig, daß es wie ein Weberschiffchen schuckelte, wenn es die Einfahrtsallee heraufkam, wie ein aufgezogenes Spielzeug wirkte, wenn es um die Ecke schoß und auf dem bekiesten Platz vorm Haus jäh stoppte. Es war erstaunlich, wie sich drei erwachsne Männer in dies Zwergenwägelchen hineinzwängen konnten, aber sie zwängten sich hinein und nutzten das kleine Kraftfahrzeug bis zur letzten Möglichkeit aus, schuckelten morgens zur Arbeitsstätte, schuckelten nach Feierabend wieder heim, schuckelten allsamstäglich nach London, ganz so, als wären sie drauf erpicht, aus dem kleinen Motor die letzte Unze an Vergnügen herauszuwringen, die er nur hergeben könne.
Schließlich hatten sich Captain Nicholl und seine beiden Gefährten zu einem Kleinorchester zusammengetan, und sie spielten jeden Abend, an dem sie zu Hause waren. Einer von den jungen Männern war groß und hatte blondes Haar, das er zurückgekämmt trug, Haar, das wie in Wellblechwellen regelrecht gelockt war, ganz so, als hätte er sich beim Coiffeur nach dem ›Marcelle‹-Verfahren ondulieren lassen; er spielte das Klavier. Der andere, ein kleiner, behender, dunkelhaariger Mensch, blies das Saxophon. Captain Nicholl schlug wütig das Banjo und bediente außerdem das ganze komplizierte Schlagzeug.
Sie spielten ausschließlich amerikanische Jazzmusik, seufzende Crooner-Rhapsodien und Nigger-Blues. Ihr Spiel war erstaunlich. Obschon sie zu ihrer eignen Belustigung spielten, taten sie es mit dem Eifer, dem Fleiß, dem Ernst und der wuchtigen Hingabe von Berufsmusikern, die in Nachtklubs und Tanzlokalen aufspielen. Der kleine Dunkle mit dem Saxophon wiegte sich andächtig hin und her mit seinem grotesken Instrument, während die fetten, drallen Töne dunkel gebläht und salbungsvoll aus dem Schallbecher kamen, von Zeit zu Zeit machte er halbkreisförmige Bewegungen mit dem Oberkörper, oder er stand auf und tänzelte vorwärts und rückwärts im Rhythmus der Musik, ganz so, wie es die Saxophonbläser in Tanzorchestern zuweilen tun.
Der große Blonde schwebte und schwankte über die Tastatur gebeugt, manchmal blickte er nickend und lächelnd vom Klavier auf, etwa so, als wollte er einem Orchester von vierzig Mann Mut machen, oder als strahlte er glückselig einen mit zahlenden Gästen bis zum Gedräng erfüllten Tanzboden an.
Derweilen schlug Captain Nicholl rasend die Banjosaiten. Irgendwie bewerkstelligte er es, das Instrument mit seinem verschrumpften Arm zu halten, er griff die Saiten am Steg mit den übriggebliebenen Fingern, schrammte mit seiner guten rechten Hand und stapfte dazu das Zeitmaß mit dem Fuß. Auf einmal dann, mit plötzlichen, heftigen Bewegungen, legte er das Banjo nieder, griff schnell nach den Trommelstöcken, und nun begann eine wütige Begleitung mit Gerassel auf der Trap-Drum, während er gleichzeitig mit dem Fuß die Baßpauke bediente und manchmal hinüberreichte und Triangel, Tamtam, Zimbelteller, Glockengestäng und das andre Metallschlagzeug schlug. Er spielte mit einer eigenartig besessenen Wut, seine Zähne waren zu einem festen, starren, seltsamen Grinsen gebleckt, seine hellen Augen brannten mit dem jähen, wilden Glitzen des Wahnsinns.
Sie sangen dazu. Sie platzten plötzlich herein ins Spiel mit dem Refrain irgendeines populären Songs, sie taten es mit derselben wohlauskalkulierten Spontaneität, mit dem gleichen vorgeblichen Enthusiasmus, wie es die Berufsmusiker machen. Mit offenbarem Wohlgefallen brachten sie die Worte der Negro-Blues und des Jazz hervor. Der Akzent war zwar erstaunlich gut, aber die Aussprache hatte doch etwas Ausländisches und Abgeschmacktes, und die Eugen vertrauten Laute der amerikanischen Negermusik klangen ihm aus ihrem Munde fast so fremd, als würden sie von geschickten, geduldigen Japanern gesungen.
Sie sangen:
»Yes, sir! That's my baby
Yes, sir! Don't mean maybe
Yes, sir! That's my baby now!«
Oder:
»Oh, it ain't gonna rain no more, no more
It ain't gonna rain no more.«
Oder:
»I got dose blu-u-ues –«
– wozu der große Blonde am Klavier lächerlich die Augen rollte und das Wort ›blues‹ ganz extravagant heraussang, – wozu der kleine Dunkle ölige Schwungbewegungen machte, während der fettausgeweidete Ton aus dem Saxophon kam, – wozu Captain Nicholl auf seinem Stuhl schunkelte, während er schwirrend das Banjo schlug und eine Klagevariation hineinimprovisierte, die ungefähr so ging: »I got dose blu-u-ues! Yes, suh! Oh! I got dose blues! Yes, suh! I sure have got'em – dose blu-u-ues – blu-u-ues – blu-u-ues!« – ohne daß dabei sein Mund von dem seltsamen, starren Grinsen abließ oder seine Augen den steten Wahnsinnsblick verloren, während er schunkelte, schrammte und jene Worte sang, die von seinen Lippen so fremd klangen.
Es war ein unheimliches Bild, eine unglaubliche Darbietung, und irgendwie drang es einem zu Herzen mit einem wilden, namenlosen Mitleid, einem unendlichen Kummer, einem tiefen Bedauern.
Etwas Köstliches war diesen drei Männern unwiederbringlich abhanden gekommen, und sie wußten es. Sie kämpften an gegen ihre innere Leere mit dieser vorsätzlichen, fürchterlichen und wahnsinnigen Heftigkeit eines berechneten Frohsinns, einer schreckerregenden Mimikry der Heiterkeit, und der Sturmwind heulte draußen in dunklen Bäumen, und Eugen war es, als hätte er diese Leute von je gekannt, und er hatte keine Worte, die er ihnen hätte sagen können, und – zu ihnen zu gelangen fand er keine Tür.