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VIII

Eines Morgens, ein paar Tage nach seiner Ankunft in Cambridge, empfing er – auf einfaches, aber teures Papier von feiner, fast femininer Hand geschrieben – einen Brief folgenden Wortlauts:

Lieber Herr:

Es würde mich sehr freuen, wenn Sie Mittwoch abend, um acht Uhr dreißig, mit mir in der Cock Horse Tavern zu Nacht speisen wollten. Falls Sie annehmen, wollen Sie bitte um sieben Uhr fünfzehn auf meinen Zimmern vorsprechen: Holyoke House, der Widener Library gegenüber.

Aufrichtig der Ihre:
Francis Starwick.

Eugen las die kurze, kryptische Note mehrere Male, ohne ein aus Staunen und Erregtheit gemischtes Gefühl loszuwerden. Wer war Francis Starwick? Und warum sollte ihn Francis Starwick, von dem er nie gehört hatte, zum Dinner einladen? Und warum enthielt diese lakonische Einladung nicht ein Wort beiläufiger Erklärung?

Eugen wäre wohl auf jeden Fall hingegangen, schon aus reiner Neugier und auch aus jener verzweifelten Bereitwilligkeit, mit der ein junger Mann, der zum erstenmal in einer fremden Welt lebt, jede Hoffnung auf Freundschaft willkommen heißt; er erfuhr aber noch am gleichen Tage von einem Mitstudenten in Professor Hatchers berühmtem Kurs für Dramatiker, Francis Starwick sei Professor Hatchers Assistent. Da Eugen an diesem Kurs teilnahm, nahm er – und zwar zu Recht – an, die Einladung habe mit dieser Sache zu tun, und beschloß hinzugehn.

Auf diese Weise begann Eugens Bekanntschaft mit jenem seltnen, tragisch begabten Menschen, der eine der außerordentlichsten Erscheinungen seiner Generation war, der fast jedes Talent, dessen ein Künstler bedarf, besaß, und dem dazu gerade jenes winzige Bißchen gemeiner Erdhaftigkeit fehlte, das ihn zu retten vermocht und sein Werk lebendig gemacht hätte.

Über dieser ersten Begegnung hing kein Hauch von Verhängnis. Eugen hätte weder vorabsehen können, auf welch absonderliche und traurige Weise sein Leben und jenes andre ineinander verwoben und miteinander verwirkt werden sollten, noch hätte er ahnen können, daß ihm in diesem andern jungen Menschen jene vorbestimmte Gestalt gegenübertrat, die zu den Wettern jedes Manneslebens und Mannesschicksals gehört, jene Gestalt, die einem nur einmal, nämlich in der Jugend, begegnet, jene drei-eine Gestalt, die Freund, Bruder und Todfeind zugleich ist. Auch war an jenem Abend an Starwick kein Hauch von dem tragischen Verhängnis zu spüren, das über seinem Leben hing und ihn vielleicht damals schon auf jene Bahn gedrängt hatte, die mit dem Entsetzlichen endete.

Sie waren beide jung, sie waren beide von Eitelkeit, Pein und Stolz und von der Demut und Hingabe der Jugend erfüllt; sie waren beide stark in ihrem kühnen Hoffen, ihrem Glauben und ihrem unbestätigten Selbstvertrauen; sie besaßen beide glänzende Gaben und Fähigkeiten und die vollkommene Überzeugung, ihnen gehöre die Welt; sie waren strahlend und hitzig und schwach und stark und töricht; das Wissen um wilde Freudenschwälle war in ihnen, und der Bockschrei saß ihnen locker in der jungen Kehle. Sie wußten, das begnadetste, glückhafteste Leben, das je ein Mann zu führen vermag, gehöre ihnen, und ihr Herzbegehr und ihr gutes Geschick, der Ruhm und die Liebe wären jeden Augenblick da und zum Greifen nah, ... sie brauchten bloß die Hand danach auszustrecken. Keiner von den beiden war noch an der dunklen Säule vorübergegangen – sie wußten, sie wären zwanzig und könnten nicht sterben.

Francis Starwick war ein mittelgroßer junger Mann von Durchschnittsgewicht, eher etwas zu schlank für seine Größe. Er hatte ein angenehmes rötliches Gesicht, braune Augen, ein gekliebtes Kinn und dichtes Lockenhaar von einem ins Rötliche spielenden Kastanienbraun. In seinem liebenswürdigen gesunden Aussehen und seiner ruhig-weitberaumten Klugheit glich dies Gesicht auffallend den Gesichtern englischer Jünglinge, wie sie Hoppner und Sir Henry Raeburn zu Beginn des 19. Jahrhunderts gemalt haben. Aber so ungemein anziehend dieses ausgesucht feinfühlige, bezaubernd verständige Gesicht auch war, der Eindruck von Wärme und Freundlichkeit war augenblicklich ausgelöscht, wenn Starwick sprach.

Starwick sprach nämlich mit einer befremdenden, ziemlich störenden Stimme, deren Ton, Lautlage und Klangfarbe sich kaum schildern läßt. Wenn man ihn auch bloß einmal sprechen gehört hatte, suchte einen diese Stimme auf immer heim. Es war eine Mannesstimme, und doch glaubte man fast eine Frau zu vernehmen, obschon wiederum nichts eigentlich Weibliches oder Weibisches aus der Stimme herauszuhören war. Verglichen mit den raspelnden oder nasalen, brutal-ungeschliffenen oder metallisch-harten Stimmen der meisten Amerikaner empfand man Starwicks Stimme als schlichthin fremd mit ihrer gelauschigen Resonanz und ihrer exotischen, fast wollüstigen Sinnenfülle. Zu diesem kam noch, daß seine Sprechweise so ungemein manieriert und affektiert war, daß es bei jedem anderen lächerlich gewirkt hätte, und selbst bei einer Person von der anmutigen Würde und Verständigkeit Starwicks kaum erträglich war. Eugen verspürte augenblicklich jenes Gefühl entschiedener Ablehnung und leichter Feindseligkeit, das dem Amerikaner natürlich ist, wenn er denkt, jemand rede geziert und gekünstelt daher.

Als Starwick seinem Gast entgegenkam, war er peinlich betreten. Er errötete, sein rötliches Gesicht wurde ziegelrot. Er gehörte zu den scheuen, sensitiven Menschen, für die jede neue Bekanntschaft eine schwere Prüfung bedeutet. Sein Gruß war beinahe abstoßend, kalt und förmlich; auch dies diente ihm, ebenso wie die absichtliche Manieriertheit seiner Sprechweise, als Schutzpanzer für sein empfindlich-schüchternes Wesen.

»'n Aben', 'ie geht's Ihn'n?« sagte er und reichte Eugen die Hand. »Schön, d'ß Sie komm'n.« Die Worte schien er aus der Kehle zu stoßen, die Lippen bewegte er kaum.

»Schön von Ihnen, mich einzuladen«, sagte Eugen unbeholfen, und da ihm dann zum Verzweifeln nichts einfiel, was er weiter sagen könne, platzte er heraus mit: »Ich wußte nämlich erst gar nicht, wer Sie wären, – ich meine, als ich den Brief bekam, – aber dann sagte mir jemand, Sie wären Professor Hatchers Assistent. Das stimmt doch, nicht wahr?«

»Ace«, bejahte Starwick. Dieses Ace war offenbar seine Aussprache für Yes, er brachte diesen Laut in der Kehle mit fast unbewegten Lippen hervor. Sein ziegelrotes Gesicht errötete noch tiefer vor Verlegenheit. Er schwieg. Nach einer Weile fragte er beiläufig: »Sagen Sie, wollen Sie was trinken? Ich hab Whisky da.« Nach der eisigen Förmlichkeit der Begrüßung wirkte die Frage wie ein warmherziges Willkommen.

»Ei ja – sicher – freilich – gern«, stammelte Eugen dankbar verwirrt über das erlösende Angebot.

Starwick öffnete einen kleinen Geschirrschrank und nahm ein Auftragbrett heraus, auf dem die Flasche, ein Syphon und Gläser standen. Er stellte die Sachen auf den Tisch.

»Bedienen Sie sich!« forderte er auf. »Wollen Sie Soda oder gewöhnliches Wasser dazu? Oder ...?«

»Ganz wie Sie ihn trinken«, erklärte Eugen verlegen. »Oder trinken Sie keinen? Wenn Sie keinen trinken, trink' ich auch nicht.«

»Ace«, sagte Starwick wiederum. »Ich mag Soda«, erklärte er, goß sich Whisky ein und füllte sein Glas aus dem Syphon auf. »Also, Sie schenken sich selbst ein, nicht?« Eugen bediente sich. »Sagen Sie«, begann Starwick plötzlich, als Eugen an dem ungewohnten Syphon hantierte, »würde es Ihnen was ausmachen, wenn ich mich schnell rasierte? Ich bin im Augenblick erst heimgekommen und möchte mich gern rasieren und ein frisches Hemd anziehen, eh' wir ausgehn. Würde Ihnen das was ausmachen?«

»Aber natürlich nicht«, versicherte Eugen, dankbar für den Aufschub. »Und lassen Sie sich Zeit dazu! Ich trink' derweil mein Glas aus und seh' mir Ihre Bücher an, wenn Ihnen das nichts ausmacht.«

»Bitte, tun Sie das«, meinte Starwick. »Hoffentlich finden Sie was Zusagendes. Das da halte ich für den bequemsten Stuhl zum Lesen.« Er schob einen großen Sessel neben eine Ständerlampe und knipste das Licht an. »Zigaretten stehn auf dem Tisch«, bemerkte er, während er ins Badezimmer eintrat, wo er nach einer kurzen Inspektion ans Einseifen ging.

»Wirklich eine hübsche Wohnung, die Sie da haben«, meinte Eugen nach einer betretenen Pause. Es war so still im Zimmer geworden, daß er das Kratzen der Klinge an Starwicks Bart hören konnte.

»Ganz so!« sagte Starwick bündig, und die beiden affektierten Silben klangen hohl und kehlknollig, weil er sich weiterrasierte. Nach einer Weile hielt er inne und prüfte die Arbeit im Spiegel. »Freut mich, daß es Ihnen hier gefällt«, meinte er. »Und was für eine Unterkunft haben Sie gefunden? Zufrieden damit?«

»Na, es geht«, erklärte Eugen unentschieden. »Natürlich nicht zu vergleichen mit Ihrem ›Apartment‹. Es ist eine einfache Studentenbude.«

»Ace«, sagte Starwick im Badezimmer. »Und wo?«

»Buckingham Road. Wissen Sie, wo das ist?«

»Oh«, knödelte Starwick trocken. Er schwieg dann, weil ihn gerade eine nachträgliche Feinarbeit am Adamsapfel in Anspruch nahm. Nun war er fertig. »Ace, ich glaub', ich weiß, wo das ist. Und wie sind Sie gerade dorthin geraten?« fragte er gleichmütig, während er sein Gesicht abtrocknete. »Wohl auf Empfehlung hin, nicht?«

»Ja, gewissermaßen. Ich wußte um die Bude, ehe ich herkam. Bekannte von mir haben das Haus dort gemietet und geben ein paar Zimmer ab.«

»Oh«, sagte Starwick kühl und förmlich. Er schlüpfte in die Ärmel seines frischen Hemds. »Dann kennen Sie Leute hier in Cambridge!«

»Das gerade nicht, es sind Leute aus meiner Heimat.«

»Ihrer Heimat?«

»Ja, aus meinem Staat, aus der Stadt, wo ich bislang studierte.«

»Oh, ich verstehe«, sagte Starwick und knöpfte sein Hemd zu.

»Und wo war das? Aus welchem Staat kommen Sie?«

»Catawba.«

»Oh ... und Sie haben dort studiert?«

»Ja, auf der Staatsuniversität.«

»Ich verstehe ... Und jene Leute, die das Haus, wo Sie jetzt wohnen, gemietet haben, was tun die hier?«

»Na, der Mann ist Professor an der Staatsuniversität. Er arbeitet eine Zeitlang hier in Harvard, um irgendein pädagogisches Degree zu machen.«

»Oh, ich versteh ... Und was macht die Frau? Er hat doch eine, nehm' ich an?«

»Ja, und drei Kinder dazu«, sagte Eugen. »Na, sie sitzt den lieben langen Tag auf ihrem Steiß und redet.«

»Ei«, sagte Starwick, behutsam seinen Schlips bindend. »Und wovon redet sie denn?«

»Von den Leuten zu Haus, von den Professoren an der Universität dort und ihren Frauen und Kindern.«

»Oh«, machte Starwick, todernst, aber ein unerklärlicher Anflug von Humor kam in seine Stimme. »Da sagt sie wohl reizende Dinge über die Leute dort?« Er sah seinen Gast gefaßt an, aber plötzlich schaukelte ein kleines, gluckerndes, ansteckendes Lachen aus seiner Kehle. Er bekam einen roten Kopf. »Oder ist sie am Ende ...«, meinte er belustigt und schlau anspielend, »... ist sie am Ende gar bitter?«

Eugen, von der breiten Humorigkeit Starwicks bezwungen, lachte laut auf und rief: »O Gott! Bitter und sonst nichts! Bitter ist genau das rechte Wort.«

»Hat einmal jemand gut bei ihr abgeschnitten?« fragte Starwick listig.

»Nicht ein einziger Mensch, verdammt!« brüllte Eugen. »Sie hat die ganze Blase durchgehechelt, von der Rektorsfamilie bis zu den jüngsten Instruktoren. Und nun ist sie bei den Bürgersleuten aus dem Städtchen. Sie läßt kein gutes Haar an den Menschen. Über jede Fehlgeburt und jedes Paar dreckige Unterhosen ist sie unterrichtet. Wir haben gewettet – ein Freund von mir von daheim, der jetzt hier auf die Law School geht und auch dort im Haus wohnt, und ich, – wir haben gewettet, ob sie vor Neujahr irgend jemandem etwas Gutes nachsagt oder nicht.«

»Und welche Seite halten Sie?« fragte Starwick.

»Ich halte dafür, daß es nicht eintrifft. Aber Billy Ingram sagt, es bestünden Aussichten ... Sie hätte sich, behauptet er, 1917 zum letztenmal anerkennend über einen Menschen geäußert, und zwar als dieser Mensch an der epidemischen Grippe damals starb; – folglich schließe er, es müsse nun bald mal wieder ein gutes Wort fällig sein.«

»Wie heißt die Dame eigentlich?« fragte Starwick. Er erschien im Wohnzimmer, seinen Rock anziehend.

»Trotter«, sagte Eugen, dem plötzlich das Lachen an der Kehle riß. »Mrs. Trotter.«

»Was, wirklich?« rief Starwick, errötete heftig und platzte heraus. Das Zimmer schallte vom Gelächter der beiden. Schließlich schnaubte Starwick seine Nase und fragte, zwar ruhig, aber das Gesicht noch rot vom Lachen:

»Was Professor Trotter wohl zu diesen Reden meint? Äußert er sich? Sagt er was?«

»Nicht ein Wort«, lachte Eugen. »Er sitzt dabei und hört es an ... Er ist übrigens tadellos. Er tut dem Billy und mir leid. Da hat er diese zähe Meckerziege von einem Weib an sich hängen, die ihm neunzig Worte auf die Minute die Ohren vollquasselt, und dazu drei von den gemeinsten, dreckigsten, kleinen Radauteufeln, die Sie sich nur vorstellen können. Die purzeln ihm immerzu um die Beine herum und stellen von morgens bis abends wer-weiß-was-alles an. Und dazu haben die Trotters sich von zu Hause so 'ne Niggerschlampe mitgebracht, das Haus sieht aus, als wär grad ein Erdbeben gewesen, und da sitzt nun der arme Professor und hat verdammt schwer zu schaffen für sein Degree. Eine ziemliche Zumutung. Dabei ist er wirklich ein feiner Kerl und verdiente es besser.«

»Klingt recht trübselig«, bekannte Starwick freimütig. »Warum in aller Welt sind Sie hingezogen?«

»Sehen Sie, ich kannte keinen Menschen hier in Cambridge, und diese Leute eben kannte ich von früher.«

»Aber gerade das hätte meines Erachtens ein Grund für Sie sein müssen, ihnen hier so weit wie möglich aus dem Weg zu gehn. Es ist doch höchst wichtig für Sie, daß Sie angenehm wohnen und zu Hause was arbeiten können. Wirklich, Sie sollten vorsichtiger sein«, meinte Starwick ernst, und seine affektierte Stimme klang ein wenig vorwurfsvoll.

»Ja, da haben Sie recht«, sagte Eugen. »Sie jedenfalls wohnen gut hier.«

»Freut mich, daß es Ihnen so zusagt«, meinte Starwick. Er holte seinen Whiskysoda, den er zuvor ins Badezimmer mitgenommen hatte, stellte das Glas auf den Tisch, setzte sich in einen Sessel, schlug die Beine übereinander und nahm sich aus einer merkwürdig geschnitzten Holzdose eine Zigarette mit Strohmundstück. Sein Gehaben machte auf Eugen den Eindruck von Großartigkeit und Luxus, und diese Wohnung schien ihm zu dem eleganten und sinnenfülligen Starwick zu passen wie der Handschuh zur Hand. Starwick war zwar erst zweiundzwanzig, aber seine Persönlichkeit war mit allen ihren besonderen und unvergleichlichen Eigenschaften und Eigenheiten in diesen zwei Zimmern ausgedrückt.

Eugen in seiner Unerfahrenheit hielt diese bescheidene Kleinwohnung für äußerst großartig. Er dachte, Starwick müsse ungeheuer reich sein, weil er sich so glanzvoll, behaglich und unabhängig einrichten konnte. Für sich hausen, ein eigenes »Apartment« statt einer Mietbude haben, imstand sein, die herrliche Einsamkeit berauschender Mitternachtsstunden für sich allein und völlig ungestört und als sein eigener Herr zu genießen, kommen und gehen mögen, wann es einem paßte, unverstohlen ein Mädel mit heimbringen dürfen, selbständig sein und sich an niemanden zu kehren und um niemanden zu scheren brauchen – alle diese einfachen Dinge, die zu den großen, freudigen Hoffnungen der Jugendjahre gehörten, hatte Eugen nie gekannt, obschon er sie wie jeder andre junge Mensch in kühnen Wahrträumen begehrt hatte. Die erregende Tatsache nun, daß Starwick dies alles schlichthin besaß, machte ihn in Eugens Augen zu einem unerhört und unglaublich glücklichen Menschen.

Tatsächlich aber war Starwick anders reich, als Eugen es sich da dachte. Er stammte – es war schier unglaublich – von kleinen Geschäftsleuten und Farmern, die in den Mittelweststaaten in bescheidnen Verhältnissen lebten, und war der Jüngste in einer Familie von neun Kindern. Seine Angehörigen schickten ihm dann und wann ein bißchen Geld. Außer den tausend Dollars, die er für seine Arbeit als Professor Hatchers Assistent bekam, hatte er kein festes Einkommen. Aber er wirkte einfach reich, weil er wirklich ein reicher Mensch war. Er war reich geboren und von Natur aus mit Wesensreichtum bedacht. Was er auch tat, was er auch sagte, was er auch anrührte, war reich; in seiner ganzen Persönlichkeit war ein solcher Überfluß von Wohlstand und Fülle, wie man ihn an hundert Millionären zusammen nicht finden kann. Er besaß eine Eigenschaft, die allenthalben selten und bei Amerikanern fast nie zu finden ist, einen unerwerblichen Reichtum solcher Art, daß er der einfachsten Handlung von der Welt ein Dasein voll Üppigkeitsglanz und das Wesen eines erregenden Vergnügens verlieh. Ob er nun eine Zigarette rauchte, einen Whiskysoda trank, jemanden ins Theater einlud, eine Mahlzeit in einem schäbigen italienischen Restaurant bestellte, Kaffee auf seiner Wohnung kochte, über ein Buch sprach, sich den Schlips band,– alles, was er tat, tat er auf die erlesene, wundervolle und hinreißende Art und Weise, die unmittelbar für seinen eigenschaftlichen Reichtum zeugte, für eine Reichtumseigenschaft, die auch der mächtigste Geldmann auf Erden nicht erwerben kann. Und aus diesem Grunde wurden Leute von Starwicks Wesen, von seiner unendlich verführerischen Anmut augenblicklich gefangengenommen. Die Macht, Menschen zu erobern, besaß er in einem allerhöchsten Maße einfach deshalb, weil seine Art der Welt eine Frische und Freudigkeit, einen Überschwall schenkte, den sie sonst nicht hatte. Seine Gesellschaft ward begehrt, weil er alle Dinge rauschhaft verwandelte.

Nun, als er so rauchend und trinkend dasaß und sich mit seinem Gast unterhielt, tat er auf eine ganz einfache Art etwas Charakteristisches, das Eugen sehr bezauberte.

»Sagen Sie mal«, begann er plötzlich, stand auf, ging zu einem seiner Büchergestelle und knipste das Licht dort an. »Sagen Sie mal«, wiederholte er in seiner merkwürdigen Stimme, »kennen Sie eigentlich das?«

Er hatte ein Buch aus dem Gestell genommen, und nun setzte er seine Brille auf. Diese Brille war merkwürdig und wunderbar, und die Art, wie er sie aufsetzte, war es auch. Die Brille hatte eine dicke, altmodische Silberfassung, und die schlichte, ehrliche, altmodische Nüchternheit dieser Brille war plötzlich durchaus bemerkenswert. Er setzte sie auf mit einer geduldigen, ruhig-strengen, ganz schlichten Bewegung, und die Einfachheit dieser Handlung war vollkommen. Seine Aufmerksamkeit war nun ganz auf die Seiten des Buches gerichtet, und als er so dastand und ein paar Sätze las, waren Ernst und Reife, wie sie vom stillen und eigenen Denken kommen, im Gesicht dieses jungen Mannes unverkennbar.

»Kennen Sie es eigentlich?« sagte er nach einer Weile. Er wandte sich an Eugen und reichte ihm das Buch. Es waren die »Confessions of a Young Man« von George Moore. Eugen kannte das Buch nicht und sagte so.

»Warum nehmen Sie es dann nicht mit?« fragte Starwick. »Es ist wirklich recht ergötzlich.« Er knipste das Licht über dem Büchergestell aus, nahm seine Brille mit einer müd-ruhigen Bewegung ab, klappte sie zusammen, steckte sie in die Außentasche des Rocks, kam zum Tisch zurück und setzte sich wieder.

»Es wird Sie interessieren, glaub' ich«, sagte er.

Obschon Eugen stets eine heftige Abneigung vor Büchern empfand, die zu lesen ihn jemand drängte, verspürte er nun ein freudiges Vergnügen und war sehr auf das Buch gespannt, dem Starwick so ohne weiteres einen Seltenheitswert verliehen hatte. Außerdem hatte er sofort – er wußte selbst nicht wie – begriffen, daß ihm Starwick das Buch nicht etwa geliehen, sondern geschenkt hatte. Diese Schenkung war mit der fürstlich-selbstverständlichen Freigiebigkeit des unbegrenzt Wohlhäbigen vollzogen worden, ganz so, wie Starwick alle Dinge tat.

Wie König Midas alle Dinge, die er antastete, in Gold verwandelte, so verlieh Starwicks Berührung allen Dingen ein hold-innigeres Leben und eine anmutig-verschönerte Natur. Seine unvergleichliche Macht, sich alles hörig zu machen, war aber eine allzuglückliche, allzumühelose Mitgift, als daß ein einzelner sie besitzen und ertragen konnte, und so mußte letzten Endes auch diese Macht, wie alle andern Gaben, die das Schicksal dem Menschen Starwick verliehen hatte, zur Dienerin des Todes werden und das Verderben bereiten, – sie mußte sich gegen ihren Besitzer wenden und ihn zerstören.

Später, als die beiden ausgingen, war die Beglänzung, die von Starwicks Wesen so erregend ausging, allenthalben spürbar. Es war ein sternheller, kaltklarer Oktoberabend; unbeschreibliche Herbe und ein Rauchgeruch lagen in der Luft; Studenten, allein, zu zwein, zu dritt, gingen schnellen Schrittes vorbei; warmes Licht gloste in den Bücherläden, Tabakgeschäften und Drogerien am Harvard Square, und an der riesigen Bibliothek und den alten Gebäuden im Harvard Yard glänzten die Fenster von einer weichen, reichen, dichtgoldnen, traulich in den alten Rotbacksteinmauern gefaßten Helle.

Allen diesen Dingen verlieh Starwicks Gesellschaft einen beglückenden und ungemein erregenden Zauber, und Eugen empfand ihre Schönheit schärfer und inniger als je. Er kam sich reich und mächtig vor, ihm war zumut, als läge die ganze goldne Welt vor ihm wie ein unbegangenes Gartenland, das er erforschen, besitzen und nach Lust und Laune umgestalten und verwandeln würde, er spürte sieghaft, nun solle das glücklichste, gnadenhafteste Leben, das je ein Mensch geführt habe, sein werden.

Starwick ging in ein Tabakgeschäft, um einen Scheck einzuwechseln, und das ganze Geschäft mit seinem scharfen Geruch von gutem Tabak, seiner Atmosphäre von Muße und Daseinsgenuß, mitsamt seiner herumfaulenzenden Studentenkundschaft wurde sofort unvergleichlich erregender und reicher als je zuvor.

Auch später, in der Cock Horse Tavern in der Brattle Street, gewann alles einen erhöhten und eindringlicheren Erlebniswert. Die netten, kleinen Gaststuben in dem gemütlichen, alten Haus, die sauberen, gestärkten Schürzen und Hauben der Kellnerinnen und das schneeweiße Tischzeug, das gute Essen, ein paar gesunde, anziehend aussehende junge Neu-Engländerinnen, – alles das bekam für Eugen etwas Berauschendes; er schwang in einem Gefühl grenzenlosen Lebensreichtums, und das bloß, weil Starwick mit ihm dasaß, die Mahlzeit bestellte und die Welt ringsum mit dem unsichtbaren Zauberstab berührte, der den Dingen augenblicklich den Glanz wundervollen Wohlstands und selbstverständlichen Behagens verlieh.

Trotzdem, die feindselige Spannung zwischen den beiden wurde nicht überwunden, sie nahm vielmehr zu. Starwicks unantastbar kalte Höflichkeit – wirklich nichts anderes als der Panzer einer verzweifelt scheuen Natur –, sein manierierter Ton, sein merkwürdiger und störender Akzent, die chirurgische Genauigkeit, mit der er sich hin-und-herfragend nach der Herkunft, den Erfahrungen und dem Bildungsgang seines Gastes erkundigte, das alles verstärkte und bestätigte den Widerhalt in Eugen und hieß ihn auf der Hut sein. Dazu kam, daß Starwick über sich selber auch nicht ein Wort sprach, daß er vor allem seine Verbindung mit Professor Hatcher gewissermaßen totschwieg und es unterließ, irgendeinen Grund für seinen brüsken Einladungsbrief anzugeben. So legte sich langsam ein drückendes Gewicht auf Eugens Gemüt. Er hielt die kalte Zurückhaltung Starwicks für absichtliche Arroganz, die mysteriöse Selbstverschwiegenheit des andern erboste ihn, und später am Abend, als die beiden jungen Männer sich trennten, war ihre Verkehrsform kühl und sachlich: sie verbeugten sich steif, reichten sich kurz die Hand und gingen ihrer Wege. Es dauerte Monate, bis Eugen wieder einmal mit Francis Starwick ins Gespräch kam, und in der Zwischenzeit gedachte er des andern mit einem Gefühl des Grolls, ja, fast der Abneigung.


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