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Eines Abends auf dem Heimweg kam Eugen die dunkle Zufahrt herauf, die von der Straße an den Rugbyplätzen vorbei zum Haus führte, er ging unter den hohen Alleebäumen, in deren Kronen sich nachts das ganze geheimnisvolle, irrsinnige Sturmesgestöhn auszutosen schien, und plötzlich sah er im Schatten eines Baums Edith Coulson stehn. Es war eine jener großartigen, wilden Nächte, die im Herbst dieses Jahres so häufig kamen; die Luft war voll von einer feinen, spritzigen Sprühfeuchte, nicht eigentlich Regen, und über den sturmgezausten Kronen der Bäume hing ein wildzerriss'ner Himmel mit Treibwolken, durch die der hagere, einsame Mond hinjagte. Im matten, wilden, unstet aufblitzenden Mondlicht konnte Eugen das schmale Oval des Mädchengesichts erkennen, und dieses Gesicht dünkte ihn nun irgendwie noch lieblicher, als wenn er es hätte ruhig betrachten können. Er konnte auch den feuchtbeglänzten, rauhrindigen Baumstamm erkennen, an dem Edith lehnte.
Als er näher kam, sah er, wie sie mit der Hand in die Manteltasche fuhr; ein Zündholz flammte auf, und einen Augenblick sah Eugen Edith ganz deutlich; sie hatte den Kopf geneigt, um ihre Zigarette anzuzünden, und die schmale Blüte des Angesichts stand im Flackerschein.
Das Zündholz ging aus, Eugen sah den atmenden Glutpunkt der Zigarette vor den verschwommenen Zügen des Mädchengesichts, er ging schnell vorbei, gesenkten Hauptes und ohne Gruß und das Herz voll vom Gefühl der Befremdung und Verwunderung, das die Familie in ihm erregte.
Eugen ging weiter und murmelte vor sich hin. Als er im Haus anlangte, war alles dunkel dort. Aber als er in sein Wohnzimmer eintrat, war der Raum noch warm und sanft erhellt von der Glut des Kohlenfeuers im Kamin. Eugen knipste die Lichter an, schloß die Tür, warf ein paar Brocken Kohle auf das Glutbett im Rost. Das Feuer fing sofort an, fröhlich zu knattern und zu flackern, und Eugen, dem das eine Art Trost und Befriedigung gewährte, zog sich den Rock aus, ging zum Kredenztisch an der Wand, schenkte sich einen steifen Trunk Scotch Whisky ein, ging zum Kamin zurück, fläzte sich in einen Sessel und begann, dumpf in die züngelnden Flammen zu starren.
Er wußte nicht, wie lange er so, von einer stumpfsinnigen, unsäglichen Wut betäubt, dagesessen haben mochte, als ihn schließlich schnelle, leichte Tritte draußen auf dem Kies aus dem Brüten aufscheuchten. Er fuhr überrascht auf, als plötzlich vor den Scheiben einer der Fenstertüren, die aus seinem Wohnzimmer direkt hinaus auf den Rasen vorm Hause führten, eine Gestalt erschien.
Eugen lugte durch die Scheiben, er war einen Augenblick ganz verdutzt. Alsdann erkannte er Edith Coulson. Er machte sofort auf, sie trat schnell ein, lächelnd über seine erstaunte Miene und über das Glas, das er törichterweise – halbhoch, als ob er ihr zutrinken wolle – noch in der Hand hielt.
Er starrte sie noch immer blöd erstaunt an, dann aber wurde er sich ihres Blicks, ihres Lächelns und der kühlen, süßen Sicherheit ihrer jungen Stimme bewußt.
»Was 'n Glück«, sagte sie fröhlich, »Sie noch aufzufinden! Ich hatte vergessen, den Schlüssel einzustecken. Nun hätte ich das ganze Haus aufwecken müssen, aber da sah ich Ihr Licht. Was 'n Glück! Hoffentlich hab' ich Sie nicht belästigt.«
»A-aber nein!« stotterte Eugen albern und starrte sie noch immer dumm an. »N-nein, gar nicht!« versicherte er tölpisch. Dann plötzlich, wie von einem galvanischen Schlag getroffen, kam er ganz zu sich, schloß die Tür, schob einen zweiten Sessel vors Feuer und sagte:
»Wollen Sie sich nicht ein bißchen setzen und etwas trinken, ehe Sie gehn?«
»Danke. Ja, sehr gern«, sagte sie bündig. »Was für ein freundliches Feuer Sie haben!« Sie hatte beim Sprechen schnell Hut und Mantel abgenommen und auf einen Stuhl gelegt. Ihr Gesicht war frisch und rosig, mit ganz feinen Regenspritzern wie mit Perlen besprüht. Sie trat einen Augenblick vor den Spiegel und strich sich das windzerzauste Haar glatt.
Edith Coulson war schlank, hochgewachsen und sehr lieblich, – sie war von jener frischen, hellen, zarten Schönheit, die den Wenigen verliehen zu sein scheint, damit so die grimme, wetterzähe Häßlichkeit der Übrigen wettgemacht werde. Auch ihre Stimme war lieblich, süß, wohllautend, und die Töne der Zärtlichkeit und Liebe klangen darin. Aber sie hatte denselben harten, hellen Blick in den Augen, den ihre Mutter hatte, dasselbe leise, stete Lächeln um den Mund. Als die beiden nun miteinander sprachen, stand sie Eugen so nahe, daß er den Duft ihres Haars riechen konnte; er verspürte ein unerträgliches Verlangen, seine Hände nach ihr auszustrecken, und er war fast sicher, daß sie sich seinem Zugriff nicht widersetzen würde. Aber der harte, helle Blick war in ihren Augen, das leise, stete Lächeln war um ihren Mund, und er tat nichts.
»Möchten Sie einen Whisky?« fragte er.
»Ja, danke«, sagte sie mit derselben süßen, spröden Bündigkeit, mit der sie stets sprach. »Und einen Spritzer Soda 'rein.« Eugen strich ein Zündholz an und reichte ihr Feuer für die Zigarette, die sie in der Hand hielt. Dann brachte er ihr den Whiskysoda. Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und blickte eine kleine Weile, gedankenvoll an ihrer Zigarette paffend, ins Feuer. Der Sturm brauste ums Haus, und die großen Alleebäume stöhnten, und plötzlich ratterte ein jäher Regen- und Windschauer an die Scheiben. Edith Coulson zuckte ein wenig zusammen in ihrem Sessel, sie wurde unruhig, ihr schauderte.
»Hören Sie nur!« sagte sie. »Was für 'ne Nacht! Gräßliches Wetter hierzuland, nicht?«
»Ich weiß nicht ... Aus Nebel und Regen mache ich mir zwar nicht viel, aber solches Wetter wie heut nacht da draußen«, er deutete mit dem Gesicht nach der Fenstertür, »das liebe ich.«
Sie sah ihn einen Nu an.
»Oh«, meinte sie unverbindlich, »Sie lieben das.« Während sie kleine Schlücke trank, sah sie sich neugierig im Zimmer um. Ihr nachdenklicher Blick blieb schließlich auf dem Tisch haften, wo die großen Registrierbücher lagen, in die Eugen schrieb.
»Ei sagen Sie«, rief sie, »was tun Sie nur mit diesen großen Kontobüchern?«
»Ich schreibe meine Arbeiten 'rein.«
»Wirklich?« meinte sie überrascht. »Das muß doch 'ne furchtbare Schererei sein, sie im Reisegepäck mitzuschleppen.«
»Die ist es auch. Aber ich habe gefunden, daß das die beste Art ist, meine Sachen zusammenzuhalten.«
»Oh«, sagte sie wieder unverbindlich. Sie starrte ihn neugierig an mit ihrem holden, lieblichen, jungen Gesicht, mit dem hellen, harten, nichts offenbarenden Blick ihrer Augen. »Ich versteh' schon ... Aber warum kommen Sie eigentlich an einen solchen Ort, um zu schreiben?« fragte sie alsbald. »Gefällt's Ihnen hier?«
»Ja. So gut, wie's mir nur irgendwo gefallen hat.«
»Oh! ... Ich dächte, ein Schriftsteller hätte eine ganz andre Umgebung nötig.«
»Was für eine, zum Beispiel?«
»Nun ... ich weiß zwar nicht recht ... Paris oder London oder so wo, würde ich sagen ... wo es viel Leben gibt ... Leute ... wo was los ist, so daß man sich amüsieren kann. Ich dächte, dann wäre es leichter zu arbeiten.«
»Aber ich arbeite hier besser.«
»Und graust Ihnen denn nicht manchmal bei dem Gedanken, daß Sie den ganzen Tag hier sitzen und in diese riesigen Bücher schreiben? Werden Sie es nicht dicksatt?«
»Doch, ja.«
»Dachte ich mir ... Ich würde annehmen, daß Sie manchmal von hier weglaufen möchten.«
»Ja, das möchte ich auch ... Täglich sogar. Fast die ganze Zeit möchte ich's.«
»Warum tun Sie's dann nicht?« fragte sie bündig. »Warum machen Sie nicht mal 'ne kleine Vergnügungsreise übers Wochenend? So etwas täte Ihnen und Ihrer Arbeit doch wohl gut, nehme ich an.«
»Ja, das schon. Aber wohin?«
»Nun, Paris nehme ich an ... Oder London. London!« rief sie hell. »London ist durchaus lustig, wenn man sich auskennt.«
»Ich befürchte nur, daß ich mich leider nicht auskenne.«
»Aber Sie sind doch dortgewesen«, meinte sie überrascht.
»O ja, ich hab' mehrere Monate dort gelebt.«
»Nun, dann kennen Sie doch London«, meinte sie ungeduldig. »Freilich kennen Sie's dann.«
»Ich meinte nur, daß ich es leider nicht sehr gut kenne. Ich habe wenig Bekannte dort, und schließlich sind es die Bekanntschaften, die zählen, wenn man sich irgendwo auskennen will. Glauben Sie nicht?«
Sie sah Eugen einen Augenblick fragend an. Das leise, harte Lächeln spielte um die Winkel des lieblichen Munds.
»– dächte, daß sich das arrangieren läßt«, erklärte sie mit einem stillen, rätselhaften Anflug von Humor. Dann, etwas deutlicher, fügte sie hinzu: »Das dürfte wohl nicht allzu schwierig sein. Vielleicht könnte ich Sie an ein paar Leute empfehlen.«
»Das wäre fein. Haben Sie viele Bekannte dort?«
»Nicht gerade viele«, beschied sie ihn. »Ich geh' dorthin, sooft ich nur kann.« Mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung stand sie auf, stellte ihr Glas auf den Kaminsims, warf ihre Zigarette ins Feuer. Dann blickte sie Eugen an. Sie sah ihm mit einer eigenartig kühnen, beinah trotzigen Unmittelbarkeit eine ganze Weile fest ins Gesicht, ehe sie sprach.
»Gute Nacht«, sagte sie. »Und furchtbar vielen Dank für das Einlassen und den Trunk.«
»Gute Nacht«, sagte Eugen, und eh er mehr sagen konnte, war sie gegangen, und er hatte die Tür hinter ihr geschlossen und konnte ihren leichten, schnellen Tritt hören, als sie durch die Diele und treppauf ging. Und dann war kein Laut mehr außer dem des Schlafs und der Stille im Haus und dem des Sturms und der Dunkelheit draußen.
Mrs. Coulson besuchte Eugen während seines Aufenthalts nur ein- oder zweimal auf seinem Zimmer. Eines Morgens kam sie herein, sprach frisch und aufgeräumt, trat ans Fenster und blickte hinaus auf den samtnen Rasen und in die trübselige, undurchdringlich graue Luft. Obschon es warm im Zimmer war und ein gutes Feuer im Kamin brannte, verschränkte sie beim Hinaussehen die Arme über der Brust und schauderte ein wenig:
»Elendes Wetter, nicht wahr?« sagte sie in ihrer hell und spröd klingenden Stimme. Auf ihrem hagern, wetterfesten Gesicht, um den Mund, um die beim Sprechen gebleckten Zähne lag das leise, starre Grinsen; sie blickte durch die Scheiben mit ihrem hellen, harten Blick. »Finden Sie es nicht furchtbar bedrückend? Den meisten Amerikanern geht es so.« Sie sprach das Wort Americans mit dem engen, scharfen, Eugen beunruhigenden E-Laut aus.
»Ja, es bedrückt mich ein wenig. So ein Wetter ist bei uns selten. Aber um diese Jahreszeit ist es doch wohl immer so hier, nicht wahr? Ich nehme an, Sie sind längst dran gewöhnt.«
»Dran gewöhnt?« sagte sie spröde und sah ihn, sich umwendend, an. »Keineswegs. Mein Lebtag kenn ich dieses Wetter, aber gewöhnen kann ich mich nie dran. Ein elendes Klima.«
»Trotzdem, woanders würden Sie sich nicht zu Hause fühlen, oder doch? Sie möchten doch wohl nicht außerhalb Englands leben?«
»Nicht?« sagte sie. Sie blickte ihn fest an, das leise, starre Grinsen um die gebleckten Zähne. »Wieso glauben Sie das?«
»Weil das hier Ihre Heimat ist.«
»Meine Heimat? Meine Heimat ist, wo ich schöne Tage habe, wo immer die Sonne scheint.«
»Mir würde das nun nicht zusagen. Wenn immer die Sonne scheint, werde ich's müde. Ich möchte dann und wann mal ein paar graue Tage und ein bißchen Nebel und Schnee.«
»Ja, das hätte ich bei Ihnen vorausgesetzt, aber schließlich sind Sie wohl Ihr Lebtag an schönes Wetter gewöhnt, und bei uns ist das anders. Ich bin Nebel und Regen dicksatt und könnte ganz gut ohne die beiden auskommen. Und würde Dankeschön sagen, wenn ich sie nie mehr zu sehn kriegte ... Ich glaube, das werden Sie gar nie ganz verstehn können, was Sonnenschein für uns bedeutet«, sagte sie langsam. Sie wandte sich wieder ab und blickte hinaus. »Sonnenschein ... Wärme ... immer schöne Tage! Wärme überall, in der Erde, in der Luft, im Leben der Menschen, die rings um einen leben, nur Wärme und Sonnenschein und schöne Tage!«
»Aber wo könnten Sie das finden? Gibt es das?«
»O freilich«, sagte sie schnell und gutmütig und wandte sich wieder Eugen zu. »Es gibt bloß ein Land, wo man wohnen sollte, bloß ein einziges, wo ich leben möchte.«
»Und das ist?«
»Italien«, sagte sie. »Dort ist meine wirkliche Heimat ... Wenn ich könnte, ging ich auf den Rest meines Lebens hin.« Sie blickte wieder eine Weile zum Fenster hinaus, dann wandte sie sich schnell an Eugen und fragte:
»Warum rutschen Sie eigentlich nicht mal über ein Wochenend 'rüber nach Paris? Schließlich sind's nur sieben Stunden Fahrt von London. Wenn Sie hier morgens abreisen, sind Sie zum Nachtessen dort. Das wär doch 'ne schöne Abwechslung für Sie. So ein kleiner Abstecher müßte Ihnen doch, denk' ich, einen ungeheuren Auftrieb geben.«
Ihre Worte flößten Eugen ein wunderbar hoffnungsvolles Zutrauen ein. Sie war viel gereist und sprach vom Reisen in jener beiläufig weltsicheren Art, die es nicht nur leicht erscheinen läßt, sondern ihm auch den Glanz freudigen Abenteuers verleiht. Sooft Eugen ganz für sich allein eine Reise nach Paris zu erwägen versuchte, dann dünkte ihn diese Stadt weit weg und schwer zu erreichen. Vor allem stand da London dazwischen, und wenn er an die unheimliche, rauchige Riesen-Wabe, an die weichen, grauen Himmel und an die ungeheure Last der Leben dachte, die der undurchdringliche Nebel barg, drangen ihm Verdruß und graue Ödnis ins Gemüt. Ihm schien dann, er könne in dieser weichen, grauen Luft nur mit Mühsal Atem schöpfen, jede Reisemeile wäre ein grauenhafter Kampf gegen einen gräßlichen, verdichteten Daseinsstoff, der auf seinen Schritt drücke und ihm das Herz mit Vereinsamung bedränge.
Aber nun, als Mrs. Coulson von einer Reise nach Paris sprach, schien ihm plötzlich, das wäre alles wunderbar leicht und gut zu bewerkstelligen. England wurde auf einmal magisch klein, über den Kanal war es nur ein Sprung, und das Erregende, das Freudige, das Geheimnis von Paris war sein im Augenblick, in dem er sich's aneignete.
Er blickte ihr in das hagere, wetterfeste Gesicht, sah die geharnischten, hellen, harten Augen und fragte sich verwundert, wie es möglich wäre, daß ein so klares, scharfes, sprödes, schnittiges Wesen gedeihen konnte unter diesen weichen, feuchten Himmeln, die ihn an Leib und Leben mit der dicken, dumpfen Stofflichkeit grauen Verdrusses und mit betäubender Ödnis bedrückten.
In den letzten zwei Tagen vor seiner Abreise kam Edith eines Nachmittags zu ihm ins Zimmer und brachte ein Auftragbrett mit Tee, Butterbroten und Jam. Eugen saß in Hemdsärmeln in seinem Sessel vorm Feuer; als sie eintrat, sprang er auf, griff nach seinem Rock und wollte ihn anziehn. Sie sagte ihm in ihrer jungen hellen Stimme, das solle er nicht, stellte das Tablett auf den Tisch und erklärte, das Dienstmädchen habe seinen freien Nachmittag.
Sie sah ihn eine Sekunde an mit dem leisen, rätselhaften Lächeln im Gesicht.
»So, Sie verlassen uns also,«, sagte sie dann.
»Ja. Morgen.«
»Und wo gehn Sie von hier aus hin?« erkundigte sie sich.
»Nach Deutschland, habe ich vor. Nur auf kurze Zeit. Zwei oder drei Wochen.«
»Und dann?«
»Dann fahr ich heim.«
»Heim?«
»Zurück nach Amerika.«
»Oh!« machte sie langsam. »Ich verstehe.« Nach einem Augenblick dann fügte sie hinzu: »Wir werden Sie vermissen.«
Es drängte ihn, zu ihr zu sprechen, es drängte ihn ärger, als es ihn je zu jemandem zu sprechen gedrängt hatte, aber alles, was er hervorbrachte, war ein lahmes, gemurmeltes:
»Ich werde Sie auch vermissen.«
»Werden Sie das?« Sie sprach so leis, daß er sie kaum verstehn konnte. »Da frag' ich mich, wie lang?« sagte sie.
»Immer«, sagte er. Er errötete kläglich, als er das Wort sprach, und wußte doch kein andres Wort, das er hätte sagen können.
Das leise, harte Lächeln um ihren Mund wurde ein wenig deutlicher, als sie wieder sprach.
»Immer? Das ist lang, wenn man so jung ist wie Sie«, sagte sie.
»Aber ich meine es so. Ich werde Sie nie vergessen, solang ich leb.«
»Wir werden an Sie denken«, sagte sie ruhig, »und ich hoffe, Sie denken auch manchmal zurück an uns, die wir hier begraben und verloren sind in all dem Nebel und dem Regen und dem Ruin Englands. Wie schön das sein muß zu wissen, daß man in einem jungen Land jung ist, wo das Gesterngeschehne morgen schon vergessen ist. Wie wunderbar das sein muß zu wissen, daß einen kein früheres Versagen hinabziehen kann, daß es immer einen andren Tag für einen gibt, einen neuen Anfang. Ich frag' mich, ob Sie in Amerika überhaupt wissen, wie gut's das Schicksal mit Ihnen gemeint hat.« So sprach das Mädchen.
»Und doch«, sagte Eugen mit einem eigenen, verzweifelten Hoffen, »könnten Sie das hier nicht alles aufgeben? Sie haben in diesem alten Land gelebt, haben es zeitlebens gekannt, und ein Mädchen wie Sie könnte wohl nie so ein Haus wie dies verlassen, um so zu leben, wie man in Amerika lebt.«
» Könnte ich's nicht?« sagte Edith leis, aber mit einer unverkennbar leidenschaftlichen Überzeugtheit. »Es gibt wirklich nichts, was ich lieber täte.«
Eugen gaffte sie blind und dumm an. Alles, was er sagen wollte und nicht sagen konnte, fand plötzlich Ausdruck in einer Gebärde. Er packte Edith bei den Schultern, zog sie an sich, sprach drängerisch-bittend auf sie ein.
»Warum tun Sie's dann nicht? Ich nehme Sie mit! Hören Sie!« Das waren verrückte Worte, er wußte es, aber als er sie sprach, glaubte er alles, was er sagte. »Hören Sie doch! Ich hab' nicht viel Geld, – aber in Amerika kann man ja Geld machen, wenn man will. Ich fahr' zurück dorthin. Und Sie kommen mit. Ich nehme Sie mit, wenn ich heimfahre.«
Sie hatte nicht versucht, sich von ihm loszumachen; sie stand einfach da, ganz passiv, ohne Widerstand, als er ihr diesen besess'nen Vorschlag machte. Und nun, mit einer ebenso passiven und unnachgiebigen Bewegung, mit der geharnischten Helle ihrer jungen Augen, trat sie zurück und blickte ihn eine Weile stillschweigend an. Und dann schüttelte sie langsam, fast unmerklich den Kopf. »Oh, Sie werden uns ganz vergessen«, sagte sie leis. »Uns alle hier – so im Nebel begraben – und im Regen – und im Versagen – und in der Niederlage.«
»Versagen und Niederlage dauern nicht ewig.«
»Manchmal doch«, behauptete sie mit einer ruhigen Endgültigkeit, die ihm das Herz frösteln machte.
»Nicht für Sie! Bestimmt nicht!« sagte Eugen. Er ergriff ihre Hand und sprach wieder flehentlich auf sie ein. »Hören Sie doch! –« legte er täppisch und unzusammenhängend los, während das alte Gefühl des namenlosen Beschämt- und Entsetztseins ihn überkam. »Sie brauchen mir nicht zu sagen, was es ist – will's gar nicht wissen – aber was es auch sein mag – Sie geht das nichts mehr an – Sie können darüberwegkommen.«
Sie erwiderte nichts. Sie stand einfach da und sah ihn an durch den harten, hellen Harnisch ihrer Augen hindurch, über die störrische Härte ihres Lächelns hinweg.
»Leben Sie wohl«, sagte sie. »Ich werde Sie auch nie vergessen.« Sie sah ihn einen Augenblick seltsam an. »Ich frage mich«, sagte sie langsam, »ob Sie je wissen werden, was Sie mir Gutes taten, als Sie hierherzogen.«
»Was denn?«
»Sie haben mir 'ne Tür aufgesperrt, die ich für immer verschlossen hielt. Da konnte ich in eine Welt sehn, von der ich dachte, ich würde sie nie wieder zu sehn kriegen ... eine neue, helle Welt, ein neues Leben, einen neuen Anfang für uns alle. Das ist etwas, wovon ich dachte, es könnte keinem in diesem Haus noch mal geschehn.«
»Es wird Ihnen geschehn«, sagte Eugen und griff wieder verzweifelt begierig nach Ediths Hand. »Jederzeit kann's Ihnen geschehn, wenn Sie es wollen. Das alles gehört Ihnen, ich schwör's Ihnen, es wird Ihnen geschehn, wenn Sie nur ein Wort sagen.«
Sie sah ihn an und schüttelte beinah unmerklich den Kopf.
»Ich sag' Ihnen, Sie wissen nicht, wovon ich rede«, sagte er.
Sie schüttelte wieder den Kopf.
»Sie wissen es selbst nicht«, sagte sie. »Sie sind jung. Sie sind Amerikaner. Da gibt es Dinge, die zu verstehn Sie nie alt genug sein werden. – Für manche Leute gibt es kein Zurückkommen. – – Gehen Sie zurück!« sagte sie. »Gehn Sie zurück in das Leben, das Sie kennen, das Sie verstehn, wo es jederzeit einen neuen Anfang gibt, ein neues Leben.«
»Und Sie –«, sagte Eugen blöde und elend.
»Leben Sie wohl, mein Lieber«, sagte Edith so leis und lieb, daß er sie kaum verstehn konnte. »Denken Sie mal an mich, bitte! – Ich werde Sie nicht vergessen.« Und eh er sprechen konnte, küßte sie ihn und war gegangen, und das geschah so leicht und schnell, daß er es erst gewahr ward, als sie schon die Tür hinter sich geschlossen hatte. Und eine Zeitlang stand er wie ein Betäubter da und starrte hinaus in das graue, feuchte Licht Englands.
Am nächsten Tag reiste er ab, er sah nie jemanden von den Coulson's wieder, aber vergessen konnte er sie nicht. Obschon er nie durch den Harnisch der hellen, harten Augen hindurchgeblickt, obschon er nie den Wall der spröden, freundlichen, unpersönlichen Rede durchbrochen, obschon er nichts über sie herausgefunden hatte, er dachte stets mit Wärme, mit einer tiefen, zärtlichen Zuneigung an sie, ganz so, als hätte er diese Leute von jeher gekannt, als hätte er irgendwie mit ihnen leben und ihr Leben zu seinem eignen machen können, wenn er bloß ein Wort gesagt, die Klinke an einer Tür heruntergedrückt hätte, – ein Wort, das er nie wußte, die Klinke an einer Tür, die er nie fand.