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Sie verließen die Stadt sofort.
Lukas fuhr wie ein Wilder los – die großen, plumpen Hände fest um den Kranz des Steuerrads gekrallt; die Brauen zusammengezogen, so daß sich zwischen den Augenbogen ein Wulst von Höckern und Furchen bildete; das ganze Gesicht gespannt von verhaltener Nervosität. Von Zeit zu Zeit fuhr er sich mit einer Hand durch das dichte, leuchtende Haar, lachte ein höhn tolles, wuterbittertes »Wah! Wah!« und erklärte dann mit einer Stimme, die so leidenschaftlich verächtlich war, daß es Eugen schwerfiel, nicht über seinen Bruder zu lachen:
»Wi-wi-widerstand gegen die Staatsgewalt be-begeht, w-w-wer sich einem Schutzmann in Ausübung dienstlicher O-obliegenheiten entgegensetzt. Scheiße! ... Na, ist das vielleicht nicht hübsch?« fragte er im Ton zimperlicher Feintuerei. »Ei, ei! Diese feinen, kleinen, gottverdammten, hundsknochigen Niggerbaptistenbastarde!« fauchte er. »Die-die-diese billigen, bestechlichen, schieberischen Süd-Karolina-Bankerte! U-u-unordentliche Führung! Scheiße!« Seine bald hemmungslos-wüsten, bald feintuerisch-gemimten Zornesausbrüche waren irgendwie unerhört komisch.
Sie fuhren schnell durch die stillen, verstaubten, herbstmüden Abendstraßen; die Rasenstücke der offnen Vorgärten lagen sommerversengt vor den angealterten, trübselig aussehenden Holzhäusern; an den Alleebäumen raschelte das welke Laub; in der Stimmung lag noch die müde Verdrießlichkeit des Sommers, und die Herbstgespenster gingen schon überall um. Der Oktober war da mit der fremden, traumverhangenen Gegenwart von Weh und Lust, mit dem Nachklang von etwas auf immer Entschwundenem, mit der Ahnung von etwas Großem und Wildem, das im Anzug war. Der Himmel, der am Tag von wildzerrissenen Wolken überweht gewesen war, war klar geworden; eine sternhelle, sammetdunkle Nacht wölbte sich unendlich über der unermeßlichen, geheimnisvollen wehmütigen Erde.
Ehe sie das Weichbild der Stadt verließen, hielt Lukas zweimal an, und beide Male tat er es plötzlich, unschlüssig und ohne es vorher bedacht zu haben. Einmal, als sie gerade an einer kleinen Drogerie an einer Straßenecke vorbeikamen, warf er die Bremsen so jäh und heftig an, daß der Wagen beim Stoppen bockte und Eugen gegen die Windscheibe geworfen wurde. Lukas sah ihn an und fragte zerstreut:
»Wi-wi-willst Du ein Glas Coca Cola? Sonst was zu trinken? Was meinst Du dazu?« Lukas warf den Kopf komisch zur Seite, seine flackernden grauen Augen blickten wild, ein Ausdruck wirrer Unschlüssigkeit kam auf sein ernstes Gesicht. Eugen sagte nein, und Lukas blickte nervös nach der Drogerie zurück, setzte den großen Plattfuß auf das Kuppelpedal, schaltete den Gang ein und fuhr mit derselben Heftigkeit, mit der er gestoppt hatte, wieder an.
Dann, an den letzten Außenposten der Stadt, wo es außer ein paar wackeligen Häusern nichts mehr gab wie staubige Straße, Sterne und ungeheure Erde, brachte Lukas den Wagen abermals knirschend-kreischend zum Halten, gleich jenseits einer Tankstelle, wo es auch, wie ein Schild sagte, etwas zu essen und zu trinken gab.
»Wie wär's mit 'nem b-b-belegten Brot?« fragte er jäh mit einem wilden, grellen Blick. »Könntest eins vertragen, was?« bellte er und warf den Kopf komisch zur Seite. Er las auf Eugens finsterm Gesicht die Antwort, ehe dieser sie noch geben konnte, raufte sich das Haar und brach in ein wildes, üppiges, verrücktes Whah-Whah-Lachen aus, das um so befremdender und erstaunlicher wirkte, weil sogar dann noch die straffe, nervöse Gespanntheit seines Gesichts und die irrsinnige Unrast in seinen Augen entsetzlich offenbar waren. Dann brachte er den Wagen mit einem jähen Rumpelruck wieder in Fahrt.
Lukas hätte nicht zu sagen vermocht, warum er an jener Drogerie am Stadtrand und an dieser Tankstelle im Vorgelände gehalten hatte, aber ganz gewiß hatte sein impulsives Handeln sehr wenig mit Essen-oder-Trinkenwollen zu tun. Dieses Verhalten entsprach ganz der inneren Unstimmigkeit in seinem Wesen, es entsprang seiner irrsinnigen Lebensunrast, und tausend solcher Handlungen waren es, die den Verlauf seines Daseins bezeichneten. In diesem Fall waren es wohl die Lichter gewesen, die Lukas zum Halten veranlaßt hatten, denn diese armseligen Lichter hatten ihn an die mächtige Dunkelheit der einsamen Erde gemahnt, und diesem Dunkel, das nun vor ihm lag, fuhr er ungern und mit einem gewissen seelischen Unbehagen entgegen. Wie alle seine Landsleute hatte Lukas Angst vor dem Dunkel und vor der Einsamkeit. Hartes, grelles Licht zog seine Seele an, und alle Lichter, wie sie von Menschen in die Nacht gestellt werden können, waren tröstlich für ihn, galten ihm als Wahrzeichen der Sicherheit auf dieser Erde, die zu groß und furchtbar, zu rüde, geräumig und leer ist für das Ermessen und die Stärke der Menschen.
Und nun waren Lukas und Eugen dieser Erde, diesem Dunkel, dieser Einsamkeit überantwortet. Sie sausten durch die Dunkelheit, bis auf das pulsierende Gedröhn des Motors war alles von der unwandelbaren Stille der Erde und der Nacht gebannt, die Lichtkegel des Scheinwerfers griffen weit in das Geheimnisweben ringsum und deuteten wie tastende Finger dann und wann auf ein flüchtig Gegenwärtiges unter dem großen Nachtgewölbe, das über all den Millionen Menschenleben stand. Manchmal trafen die Lichter ein kleines Haus an einer Biegung der Straße, dann sauste das Haus vorbei, und die Dunkelheit verschlang es.
Zuweilen fiel das Licht auf braune, staubige Baumwollfelder, wo abgeerntet die langen Reihen der welken Stauden standen, oder es fiel auf längliche Gehölze zackiger Kiefern, und dann wieder war es etwa eine kleine, aus Holz gebaute Kirche, war es ein Farmschuppen, war es eine dürftige Bretterhütte im Feld, die erschien und schnell wieder verschwand. Und oft auch kam jählings eine Straße, die von der Fahrstraße abzweigte; sie lag überblitzt da und war weg, war auf immerdar verloren und blieb doch schmerzlich im inständigen, wehen Gedenken der Entdeckung und der Erkenntnis: – eine Straße, die man einmal gesehn und nicht genommen hat, die einem dann auf immerdar verloren, unbekannt und unerforscht bleibt mit all dem Leben, dem man auf ihr hätte begegnen, und den Gesichtern, die man dort hätte treffen können.
Und immer wieder griffen die Scheinwerfer an Lukas' Wagen aus der großen, trauervollen Erde, aus dem weiten Geheimnis des Nachtkontinents einzelne Wesen, Bruchstücke, Formen, Gestalten heraus, und alle diese Dinge grellten unerträglich einsam und unerträglich kurz aus dem Blickfeld in Eugens Bewußtsein und waren dann auf immerdar verloren. Und er empfand, wie solche Augenblicke aus Begegnung und Abschied der Schicksalsgeschichte des Menschen glichen; so würde es mit seines Bruders Leben gehn, würde es mit dem Leben aller Menschen gehn, die ringsum auf der Erde wohnten.
Einmal begrellten die Scheinwerfer einen Neger; es war ein Landarbeiter; mühselig und beladen, ein trauervolles Wahrbild, ragte die staubige Gestalt mit dem gebeugten Nacken auf, die lehmige Ackererde hing krustig in Placken an den formlosen Kleidungsstücken, auf den plumpen Stiefeln lag dick der rote Lehmstaub der Straße, und der Mann ging schwerfällig Schritt für Schritt vor einem furchtbar einsamen Ausschnitt der Landschaft: – braune Baumwollfelder, lehmschollige Erde und ein paar einzelne Kiefern –, er war ein Teil, ein Stück von der Erde, auf der er ging, und ragte nun auf wie eine augenblicklich-ewige Vision von der Mühsal und dem Kummer des Erdengeschicks.
Und dann wieder fuhren sie an Negern vorbei, die gerade aus einer kleinen Kirche kamen, und auf einen Augenblick sahen sie die weißen Augen in den schwarzen, traurigen Gesichtern, die geblendet in das Licht starrten, und dann waren auch diese Neger auf immer verloren. Und alsbald fuhren sie durch ein kleines Landstädtchen. Sie sahen am Rand des Städtchens den Widerschein des grellen Lichts, der wie eine Staubwolke über einem Rummelplatz lag, sie hörten die Dudelmusik von einem Karussell und den wirren Lärm von Stimmen, Rufen und Jahrmarktsgeschrei, und das klang fern-leis, verloren und wehmütig wie im Traum. Und dann war es die Erde wiederum. Ein altmodischer, zweirädriger Kutschwagen wurde von den Strahlenbündeln der Scheinwerfer bestrichen; Lukas und Eugen hörten das Gerassel, sie sahen die von getrockneten Lehmbatzen verklumpten Radspeichen, sahen, wie der Gaul, eine alte, knochige Mähre, langsam die Hufe setzend aus der Straßenmitte auswich, um das Auto vorbeizulassen, sahen auf dem Kutschbock einen Farmerburschen mit seinem Mädchen, die langsam-verwundert, stumpfstarrend die Fremden anblickten. Und dann, immerdar und ewig, war nichts außer der Erde, der wehen, öden, einsamen Erde der Baumwollfelder, der groben, roten Lehmscholle und der alleinstehenden Kiefern, der Erde, die endlos vorbeistrich in formlos-plumpem Gewog, unvordenklich und unerinnerlich, immerdardauernd und furchtbar, der Erde, über der die großen Sterne blitzten mit der gelassenen, unergründlichen Botschaft von todloser Stille.
Und als sie so durchs Dunkel voransausten, dachte Eugen an die vielen hundert Male, die sein Bruder Lukas diese Straße bei Nacht allein gefahren war, von einem Nirgend in ein Nirgend reisend, dahinrasend, das Sternenlicht auf zusammengerunzelten Brauen und dem nervös gespannten Gesicht, ringsum nichts wie das Alleinsein und die Einsamkeit der öden, wehen, rotlehmigen Erde mit der erbarmungslosen Leere und Stille der unentwegten Himmel darüber. Und Eugen fragte sich verwundert, ob es irgendwo auf Erden ein Ziel für Lukasens irrsinnige Lebensunrast gäbe, einen endgültigen Ort, wo dieser Wanderer wohnen und Sicherheit und Liebe finden könne – oder ob sich Lukas für immer dem Dunkel unter diesen Sternen als ein Verlorener, ein Unbesänftigter, ein Getriebener wütig entgegenwerfen müsse, bis ihn die ungeheure, trauervolle Erde wieder in sich zurücknähme.
Ein Spiegelbild von Eugens seelischer Verfassung, kalt, finster, öd und rauh – so war die Rückfahrt ins Gebirge mit Lukas. Es war vollständig Nacht geworden, die Sterne schienen, die großen Formen der Berge ringsum sahen rauh und brach und winterlich aus, und da war das fernher heulende Sausen sinnloser Winde um die Gipfel, waren die einsamen Präludien des Winters in den kahlen Wipfeln der Bäume. Diese selbe Landschaft, die noch am Tage zuvor in den lodernden Gluten des Oktobers gebrannt hatte und freudig-hoffnungsvoll verzaubert gewesen war, schien schon leidvoll verwandelt von der Trübsal des nahenden Winters. Nicht länger war die Erde freundlich und schön; sie war eine Wüste, ein Brachland, ein ödes, kahles Gefängnis geworden.
Die Fahrt ging aufwärts ins alt-catawbanische Gebirg, und die Brüder sprachen nur wenig. Lukas – ihm war der Weg von tausend nächtlichen Fahrten bekannt, und dies Dahinsausen auf dunklen Landstraßen war gewissermaßen zum angemessenen Ausdruck seiner triebhaft-wütigen Lebensunrast geworden – Lukas steuerte harthändig und ungleichmäßig, denn er teilte die Spannungen und Mißstimmigkeiten seines eignen, gequälten Wesens der Maschine durchaus mit. Dieses wortlose Fuhrwerk aus Stahl, Messing und Leder schien in der Tat beim Vorwärtsfahren jäh-heftig zu starten, zu halten, zu rucken, zu stammeln und zu schnaufen, als wäre es mit eignem Herz und Hirn ein angstvoll und gefühlig teilnehmendes Lebewesen, das den gepeinigten Nerven des Fahrers empfindsam unterwürfig gehorche. Lukas fuhr mit äußerster Angespanntheit, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die großen plumpen Hände klamm und fest am Steuerrad, die Augen spähend auf das Band der Straße gerichtet, die in bestürzenden Serpentinen sich an den Flanken und Böschungen des dunklen Berghangs aufwärts bog und wand. Eugen saß kalt und benommen und kranken Herzens daneben, die Hände in den Taschen, den Hut tief in die Stirn, den Mantelkragen hoch geklappt. Er sah seinen Bruder ein- oder zweimal an, er konnte in dem matten Licht dessen angespanntes, verzognes, gefurchtes Gesicht erkennen, aber als er zu ihm zu sprechen versuchte, vermochte er es nicht. Die Gefühle von Scham, Fehl und Zerrüttung schienen seinen Geist so abgründig und vollständig zu erfüllen, daß ihm sonst nichts zu sagen übrigblieb. Und dem Wiedersehn mit Mutter und Schwester sah er bang entgegen.
Einmal auf der Fahrt bergauf stoppte Lukas. Er trat mit dem großen Plattfuß so ruppig aufs Bremspedal, daß der Wagen knirschend und dumpf schaudernd auf der Stelle hielt. Sie waren gerade an einem abzweigenden Lehmweg vorbeigekommen, der nach rechts bergab auf eine Farm zuführte, von der man zwei erhellte Fenster deutlich sah. Unschlüssig nach dem Haus hinblickend, sich zerstreut das Haar raufend, meinte Lukas halblaut – es war fast so, als murmelte er vor sich selbst hin:
»Ei-ei-ei! M-m-mich deucht, da k-k-k-könnten wir was zu trinken kriegen, w-w-wenn Du möchtest. Ich k-k-kenn den Alten, der da wohnt ... Moonshine-Whisky ... er brennt ihn selbst ... und mich deucht, wenn Du m-möchtest ...« – Unvermittelt fragte er laut: »Möchtest Du halten?« Dann, als Eugen nicht antwortete, warf er wieder einen wirren, unschlüssigen Blick nach dem Haus, fuhr sich durchs Haar und murmelte: »V-v-vielleicht hast Du recht. V-v-vielleicht ist's genausogut, wenn wir gleich heimfahren. Die M-m-m-mama wird dann noch auf sein.«
Als sie Altamont erreichten, war es schon spät. Die Straßen sahen vorwinterlich kahl und verlassen aus, und die Laternen brannten trübe. Dann und wann sauste schnell ein andres Auto vorüber, aber sie sahen wenig Leute. Sie fuhren über den Stadtplatz, der in einer starrsüchtigen Stille erfroren zu sein schien. Die Zwiebelbündel der Lampen an den Ständerlaternen rings um den Platz brannten mit einem krassen, eitlen Glast – eine gespenstisch-gräßliche Nachahmung großstädtischen Lebens auf verlassener Szene, auf der alles Leben kurz zuvor durch eine plötzliche Naturkatastrophe ausgelöscht schien. Der Springbrunnen pulsierte mit kaltem, stetem Fall, kein Wind verwehte die Sprühfahne, und hinter der fettigen Scheibe einer Gaststätte konnte Eugen auf einem Stuhl an der Bar einen Mann sitzen sehn, der Kaffee trank, und hinter der Theke saß der schwarzhaarige griechische Wirt, über den Schanktisch gefläzt, die Stirn mit den zentimeterdicken Augenbrauen vor Anstrengung gerunzelt, und las Zeitung.
Als sie in die Straße einbogen, in der das Haus ihrer Mutter lag, und schnell bergab fuhren, sprach Lukas, und zwar in einem Ton, der sachlich klingen sollte, aber trotz dieser ehrlichen Bemühung das aufrichtige Mitgefühl und den echten Schmerz verriet, den er in seiner großartig-anständigen Seele für den vollkommen niedergeschlagenen Bruder empfand:
»N-n-nun d-d-denk' ich«, begann er und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »-Ich – ei ich denk', w-w-wenn wir jetzt heimkommen ... ei – ich würde der Mama überhaupt nichts sagen von – ei, ei, ei«, blökte er, »von der Schererei, meine ich, die wir in Blackstone hatten. Offen gestanden, ich meine das wirklich«, versicherte er ernst, während er den Wagen mit einem Ruck vorm Haus zum Halten brachte. »W-w-weißt Du was, Eugen? An Deiner Stelle würde ich das alles einfach vergessen ... Die Sache ist ja 'rum und erledigt, und es wird die M-m-mama nur aufregen, wenn Du davon sprichst ... Ei, ei, ei, die ganze Sache ist doch nun abgetan ... diese ... billigen hundsknochigen N-n-niggerbaptistenbastarde aus Süd-Karolina ... ei, ei, die haben eine Gelegenheit gesehn, einen Märtyrer aus Dir zu m-m-machen – und so würde ich's einfach vergessen. Es ist ja 'rum! V-v-vergiß es doch!« rief er aufgebracht, in einem fast flehentlichen Ton. »W-w-wirklich, d-d-denk einfach nimmer dran!« riet er ernst.
Eugen sah das Licht, das warm hinter heruntergezognen Fensterblenden im Wohnzimmer brannte, er schüttelte stillschweigend den Kopf, blickte kranken Herzens und mit verzweifeltem Gesicht auf die erhellten Fenster und schritt dann grimmig auf das Haus zu.
Er fand seine Mutter und seine Schwester im Wohnzimmer, wo sie zusammen vorm offnen Feuer saßen. Ein überraschter Gruß war ihnen noch kaum vom Mund gekommen, da platzte er schon heraus mit der Geschichte von seiner Betrunkenheit, der Verhaftung und dem Gefängnisaufenthalt. Als er weitererzählte, sah er das weiße, ernste, neugiergespannte, fest auf ihn gerichtete Gesicht seiner Mutter, sah er, wie sich der mächtige, besonnene, eigenartig bewegliche Mund verzog, wie sie dauernd die Lippen schürzte, wie dann und wann ihr Blick mit vogelhaft erstaunter Aufmerksamkeit hin- und herhuschte, wenn sie schnell eine Frage dazwischenwarf: »Hah ... Wie war das? ... Die Polizei, sagst Du? ... Gefängnis? ... Wer war dabei? Emmet Blake? ... Weaver? Hah? ... Wie groß war die Geldbuße?«
Derweilen saß die Schwester dabei und hörte ruhig zu, einen abwesenden, aber gespannten Blick in den Augen, sich das große, grübige Kinn mit der großen Hand nachdenklich streichelnd. Manchmal lächelte sie, oder sie fragte etwas:
»Ah-hah! Und was hat Blake darauf gesagt? ... Was hast Du denn zu dem Nigger gesagt, als er da in der Zelle vor Dir stand? ... Gemeine Ausdrücke haben sie also nicht gegen Dich gebraucht, oder doch? ... Hat es weh getan, als sie zuschlugen? ... Aha, ah-hah! ... Was hat denn der Lukas gesagt, als er Dich durchs Gitter gucken sah?« Sie kicherte heiser, dann nahm sie Eugen bei der Hand, wandte sich an die Mutter und erklärte gütig-spöttisch:
»Da hast Du Deinen Harvardboy ... wie gefällt Dir Dein Baby jetzt?« Und als sie sah, wie düster und elend Eugen dreinblickte, lachte sie ihr hohes, rauhes, höhnisches Falsettlachen, gickste ihn in die Rippen und machte: »K-k-k-k! Harvardboy! Hi-hi-h-hi! Dein Babysöhnchen, Miß Eliza!« Dann ließ sie seine Hand los, wandte sich an die Mutter und sprach auf eine begütigende Art, jedoch mit einem merklichen Nebenton von melancholischer Befriedigung: »Na, schön, also da siehst Du's, nicht? ... Das beweist ja wieder einmal, was ich die ganze Zeit wußte ... unter der Oberfläche sind wir uns alle gleich, eins wie das andre, wir trinken alle gern ... Mit seiner ganzen Büchergelehrtheit und mit seiner Studiererei in Harvard ist er im Grund nicht anders wie der Papa ...«
Nun legte sich Lukas ins Zeug. »Ei-ei-ei-ei –!« stammelte er los. Er trat von einem Fuß auf den andern, raufte sich verwirrt mit beiden Händen das strahlende Haar und versuchte erregt eine ernste Rechtfertigungsrede für die Schande, die Eugen auf sich gehäuft hatte, hervorzubringen. »Ei – ei – ich glaube, glaub' gar nicht, daß der Eugen betrunken war. Ei – ei – ich meine, er hatte halt Pech, i-i-insofern er die andern traf, als sie g-grad tranken und-und-und ... ei ich meine, die Ba-ba-bastarde in B-b-blackstone sahen die Gel-l-legenheit, ei-ei-ein bißchen Geld für ihre eigne Tasche 'rauszuschinden und-und-und so haben sie den Eugen zum Sündenbock gemacht. O-o-o-offen gestanden, ich glaub' nicht, daß er betrunken war ... Wirklich, ich bezweifle es durchaus«, behauptete er ernsthaft und fuhr sich durchs Haar. »F-f-frank und frei, mir scheint es durchaus z-zweifelhaft.«
Eugen aber, angeelendet und störrisch, erklärte: »Ich war betrunken! ... Betrunkener als die andern ... Ich war der schlimmste von der Gesellschaft.«
»Da hast Du's also, nicht wahr?« sagte die Schwester wieder zur Mutter. »Da siehst Du, wie es ist, nicht?« meinte sie gütig, aber aus ihrer Stimme war herauszuhören, daß sie sich freute, recht gehabt zu haben. »Ich hab's ja gewußt, ich hab's ja von jeher gewußt ...« erklärte sie müde und düster befriedigt. »Nein, nein!« Sie schüttelte nachdrücklich-überzeugt den Kopf, als hätte jemand der Behauptung, die sie noch gar nicht vorgebracht hatte, widersprochen. »Man kann die Menschen nicht ändern ... Man kann dem Leoparden nicht die Flecken vom Fell entfernen ... Die Sonne bringt's an den Tag ... Mord kommt heraus ... Blut ist dicker als Wasser ... Du wirst doch nicht das Gegenteil behaupten wollen, was? Nicht mir gegenüber!« rief sie und schüttelte heftig verneinend den Kopf. »Also, da hast Du's ja, nicht wahr?« wiederholte sie mit derselben merkwürdig gütigen und doch triumphierenden Befriedigung. Und dann setzte sie völlig unlogisch dazu: »Das kommt davon, wenn man in Harvard studiert hat.«
Und die Mutter, die die Reden des Bruders und der Schwester mit aufmerksam hurtigen, vogelhaft huschenden Blicken begleitet hatte, sagte nichts. Sie stand einfach da, die breiten, abgeschafften Hände kräftig locker vor dem Bauch verschränkt, das Gesicht weiß und streng, die Lippen stark geschürzt zu einem spitzen, vorwurfsvollen Runzelmund, und sah den Sohn an. Einen Augenblick schien es, als wolle sie sprechen, aber plötzlich standen ihr die heißen Tränen in den braunen, altersschwachen Augen. Bekümmert und enttäuscht schüttelte sie mit einem krampfhaft-heftigen, fast unmerklichen Beben den Kopf und wandte sich dann schnell um mit einer unbeholfen ruckartigen Bewegung ihrer kurzen Gestalt. Sie ging, so geschwind sie konnte, aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Als sie gegangen war, wurde es auf eine Minute so still im Zimmer, daß man nichts hörte außer Lukas' nervös-schnaubendem, schnarchend-schwerfälligem Atemgang und dem zischenden Flackern im offnen Kamin, wo die Kohlenglut auf dem Rost bröckelnd zusammensackte. Dann wandte sich Helene an Eugen und sah ihn an mit Augen, die glanzlos und tot geworden waren. In einem Ton voll düstrer und verdroßner Schicksalsergebenheit, der nun öfter aus ihrer Stimme herauszuhören war, sagte sie: »Also, vergiß es! ... Sie wird drüberwegkommen ... Du wirst es auch vergessen ... Es ist nun geschehen und läßt sich nicht ändern ... Drum, vergiß ... Ich weiß ja, ich weiß ja ...« meinte sie resigniert den Kopf schüttelnd, »... wir haben alle diese großen Träume und diesen gewaltigen Ehrgeiz, wenn wir zwanzig sind ... ich weiß ... ich hab' sie ja auch gehabt ... Gräm' Dich nicht deswegen, Eugen ... Laß es nicht zu, daß Dir das Herz deswegen bricht ... Das Leben ist's nicht wert ... Drum vergiß! Vergiß es einfach! ...« und dann murmelte sie: »Du wirst's schon vergessen, ganz wie ich's vergessen habe.«
Später in der Nacht, als Helene heimgefahren und Lukas zu Bett gegangen war, saß Eugen mit seiner Mutter im Wohnzimmer und starrte ins Feuer. In täppisch-strauchelnder, zusammenhangsloser Rede versuchte er, sie aufs neue seines guten Willens zu versichern, sprach er zu ihr von seinem Entschluß, sein Verbrechen zu büßen und seinen Fehltritt wiedergutzumachen und alles zu tun, um den Glauben, den sie in ihn gesetzt, und die Unterstützung, die sie ihm hatte angedeihen lassen, zu rechtfertigen. Er erklärte ihr, daß er bereit sei, sich sofort Arbeit zu suchen, und daß er jede Arbeit tun würde, die er nur finden könne. Wie ein Ertrinkender klammerte er sich an jeden Strohhalm. Er würde als Zeitungsreporter schaffen; er würde eine Lehrerstelle bekommen und Schule halten; es ließe sich als Reklamefachmann gutes Geld verdienen, er hatte einen Freund in diesem Beruf und war sicher, auch er würde auf diesem Gebiet Erfolg haben; er war überzeugt, Professor Hatcher könne ihm an einem kleinen College eine Stelle verschaffen, wo er dann Dramatikerkurse abhalten würde; jemand hatte ihm gesagt, er könne vielleicht eine Anstellung erhalten als Herausgeber einer kleinen Zeitschrift, dem »Hausblatt« eines riesigen Warenhauses in New York; ein Studienfreund von ihm war Bibliothekar auf einem großen Ozeandampfer geworden, das wäre doch eine Möglichkeit auch für ihn; ein andrer Studienfreund verdiente ansehnliche Summen im Mittelwesten, wo er den Hausfrauen Bürsten und Mops verkaufte. Fieberhitzig redete Eugen von diesen albernen, eitlen Plänen, er klammerte sich an einen Strohhalm nach dem andern, und hielt dann unvermittelt inne, stutzig gemacht durch Elizas Stillschweigen und durch die jähe, kränkende Erkenntnis, daß es auf einmal keinen Strohhalm mehr gab, an den er sich hätte klammern können. Ach, wie albern, eitel und schwach all diese Pläne waren!
Eliza saß da und starrte geraden Blicks ins Feuer. Sie schwieg. Und dann saß auch er da und schwieg trübsinnig. Und Eliza, die Hände vorm Bauch verschränkt, die Lippen zu einem spitzen Runzelmund geschürzt, mit unbeweglichem, weißem Gesicht, starrte geraden Blicks und fest ins Feuer, und schließlich sprach sie:
»... Ich hab' sie alle zur Welt gebracht«, sagte sie leis, »ich hab' sie alle heranwachsen sehn ... und ein paar von ihnen sind mir gestorben ... und ein paar haben nichts mit ihrem Leben angefangen ... Und Du warst der Jüngste, der Letzte ... meine einzige Hoffnung ... Ach, zusehn müssen, wie sie alle desselben Wegs gehn, Jahr um Jahr gebetet zu haben, daß wenigstens einer unter ihnen nicht versagen möchte ... – und nun!« Ihre Stimme hob sich und wurde laut; sie schüttelte den Kopf mit dem alten, krampfhaften Erbeben. »Denken müssen, daß Du, auf den ich meine Hoffnung gesetzt hatte, Du, der Du die Bildung gehabt hast, dem Gelegenheiten geboten wurden, die keinem von ihnen geboten wurden, daß Du desselben Wegs gehst wie die andern ... oh, das ist zu schwer zu ertragen!« weinte sie auf, und die Tränen drangen ihr aus den Augen. »Zuviel von mir verlangt!« flüsterte sie mit rauher Stimme. Und plötzlich fuhr sie sich mit dem Ärmel der alten, ausgefransten Strickjacke über die schwachen, schwimmenden Augen, und dies war die rührende Gebärde eines Kinds, eine Gebärde, die ihm in der Seele weh tat und an ihm riß mit den Krallen des Mitleids, der Scham und untilgbarer Reue. »Zu schwer ... zu schwer ...« flüsterte sie. »Sicherlich liegt ein Fluch Gottes auf uns, wenn nach all dem Kummer und der Sorge alle verloren sind.«
Und Eugen saß da, krank vor Scham, vor Selbstekel und Verzweiflung, außerstande, ihr zu erwidern. Und dann hörte er wieder das ferne, sinnlose Geheul des Winds, das Knacken im kahlen Geäst, die Nacht, das große dunkle Biest, das seiner Mutter Haus umschlich. Und wieder hörte er, wie er es als Kind tausendmal gehört hatte, fern, leis, im Wind zerschellt, den klagenden Pfiff eines in die Weite fahrenden Zugs. Dieser Laut brachte ihm, wie schon so manchesmal, die alten, unsterblichen Versprechungen von Flucht und Dunkelheit, die goldnen Versprechungen von morgen, Neulanden und einer strahlenden Stadt. Und in Eugens verzweifelte, kranke Seele drang der Schrei des großen Zugs nun mit einer verzweifelteren, ernsteren Hoffnung, als er sie je als Kind gekannt hatte. Plötzlich erkannte er, daß nun ein Weg vor ihm läge, ein einziger Weg – Flucht aus diesem Zustand der Niederlage und des Fehls, in den er mit seinem Leben geraten war, Tilgung in strenger Arbeit und grimmer Einsamkeit, die harte Herausforderung, die scharfe Fährnis und der hohe Lohn – das magische und unsterbliche Wahrbild der einzigen Großstadt. Plötzlich wußte er, daß er hinfahren würde.
Am Abend vor seiner Abreise ging er aus und lief rastlos auf den Straßen herum, bis es sehr spät war. Ein Freundesbrief hatte ihn davon unterrichtet, daß er auf eine Ernennung zum Instrukteur an einer der New Yorker Universitäten hoffen könne, allerdings erst zu Ostern, zu Beginn des Frühlingstrimesters. Mittlerweile war ihm in einem schnellen Austausch von Telegrammen eine Beschäftigung für die Zwischenzeit zugesichert worden: er sollte in New York von ehemaligen Studenten seiner Universität Gelder für ein Memorial-Building erbitten und eintreiben. Und so ungewiß, von Gefälligkeiten abhängig und entmutigend diese Beschäftigung ihn schon im voraus dünkte, er hatte gierig zugegriffen, als das Angebot kam. Seine Abreise war auf den nächsten Tag festgesetzt.
Und nun, kranker Seele und unruhigen Herzens, von wütiger Unrast getrieben, strich er durch die kahlen Nachtstraßen seiner Vaterstadt. Der Stadtplatz lag öde und leblos und verlassen im krassen Glast der Laternen; auf der Hauptstraße gingen dann und wann noch ein paar Bürger, die sich verspätet hatten, eilends an ihm vorbei – Gesichter und Stimmen, an die er sich noch aus seiner Kindheit erinnerte, Gestalten, die nun wie Gespenster vorbeihuschten. Alles, was er sah und berührte, war ihm fremd und vertraut wie in einem Traum – ein Leben, das er ganz und gar gekannt hatte und das sich nun jedem Zugriff entzog, sein eigen auf immerdar, in seinem Blut und Gedächtnis begraben, und nie wieder zu verwirklichen, zu besitzen.
Als er nach Mitternacht heimkam, war das alte, hagere Haus seiner Mutter verdunkelt. Er ging leis die Stufen hinauf, ging leis über die Vorveranda, schloß leis die schwere Haustür. In der geräumigen Vorderdiele stand er eine Minute lang im lebendigen Dunkel, in der atmenden Dunkelheit dieses alten Hauses, die mit tausend Stimmen entschwundenen Lebens zu ihm zu sprechen schien, mit der Form und der Gegenwart von Dingen und Menschen, die er gekannt hatte, die hier geweilt hatten, und die nun fortgegangen, oder entschwunden, oder gestorben waren.
Er tappte und tastete leise seinen Weg durch den Gang nach rückwärts in die Küche, auf die alte Kammer zu, die hinter der Küche lag, die Kammer, in der seine Mutter schlief.
Als er in die Küche kam, war es dunkel im Raum bis auf den matten Widerschein der sterbenden Kohlenglut in dem altmodischen Herd. Aber die Küche war noch warm von einer merkwürdig fließenden, stillströmigen Lebenswärme; die Küche war so, als wäre sie noch mit der Lebenswärme seiner Mutter erfüllt, so, als wäre die Mutter gerade noch dagewesen.
Er knipste das Licht an und stand eine Minute da und sah den vertrauten alten Küchentisch an mit dem aufgenagelten Belag von verdellertem, ausgefranstem Zinkblech. Er sah das Bügelbrett an, auf dem ein hoher Haufen frischgebügelter und ordentlich zusammengefalteter Wäsche saß. Und er wußte, daß sie bis spät in die Nacht hinein gearbeitet hatte.
Plötzlich erwachte in ihm ein verzweifelter Drang, sie zu sehen, ein überwältigender Wunsch, mit ihr zu sprechen. Er dachte, wenn er sie nur jetzt sehen könne, könne er sich ihr enthüllen, könne er ihr sein Versagen und die Gewißheit seines Erfolgs erklären. Er war sicher, daß, wenn er überhaupt je zu ihr sprechen könne, er es nun vermöge, daß er die Dinge, die er immer zu sagen begehrt und nie gesagt hatte, nun sagen könne – das Unaussprechliche aussprechen, der ungesprochnen Sprache eine Zunge sein, ihr sein Leben, sein Wollen, seines Herzens Begehr verständlich machen könne, so wie es ihm nie zuvor geglückt war. Und von dieser wilden Hoffnung, dieser unmöglichen Überzeugung erfüllt, machte er ein paar Schritte zur Kammertür, um sie zu wecken.
Dann hielt er unvermittelt inne. Auf einer alten Anrichte, in einem halbgefüllten Wasserglas, sah er, wie er es tausendmal gesehn hatte, ihr künstliches Gebiß, das sie vorm Schlafengehn herausgenommen hatte. Und plötzlich wußte er, daß er nicht zu ihr sprechen könne, denn – grotesk, häßlich und absurd wie sie waren, diese seltsam menschlich schnöden, finsterlich grinsenden Zähne – sie riefen irgendwie in ihm auf eine Art, wie es sonst nichts auf Erden vermocht hätte, das ganze Wahrbild vom Dasein seiner Mutter auf, diesem Dasein der Sorgen, der Mühsal und der Plackerei. Sie erweckten die unerträglichen Erinnerungen an die entschwundenen und unwiederbringlichen Jahre, sie mahnten ihn an das fremde und bittre Geheimnis des Lebens. Und so wußte er denn, daß er nicht sprechen könne, daß es nichts gab, das er ihr zu sagen vermöchte.
Er pochte leise an die Kammertür. Gleich darauf hörte er ihre Stimme, munter, schnell, betroffen, aus dem Schlafe geschreckt, als sie sagte: »Hah? ... Was ist? ... Wer ist da?«
Er antwortete. Einen Augenblick später kam sie zur Tür und stand da. Ihr weißes Kindergesicht war verdutzt, merkwürdig schmalwangig und eingesunken. Als er etwas sagte, mummelte sie eine unverständliche Antwort. Dann lächelte sie auf eine verlegne, sich entschuldigende Art, hielt schlau eine Hand vor den Mund und griff mit der andern nach ihren Zähnen. Er wandte das Gesicht weg, und als er sie wieder ansah, hatte ihr Gesicht die vertrauten Umrisse. Und sie fragte mit ihrer gewohnt klingenden Stimme: »Hah? ... Was ist denn, Sohn?« – »Nichts, Mama«, sagte er verlegen. »Ich – ich wußte nicht, daß Du schon schliefst ... Ich-ich-bin bloß 'reingekommen, um Dir gute Nacht zu sagen.«
»Gute Nacht, Sohn«, sagte sie und hielt ihre weiße Wange zu ihm hinauf, die er kurz küßte.
»Nun geh und schlaf ein wenig«, sagte sie. »Es ist schon spät und morgen früh nach dem Aufstehn hast Du noch alle Deine Sachen zu packen.«
»Ja«, sagte er unbeholfen. »... Da hast Du recht ..., also gute Nacht.« Er küßte sie nochmals.
»Gute Nacht«, sagte sie. »Knips die Lichter aus, gelt, eh Du zu Bett gehst.«
Und als er das Licht in der Küche ausknipste, hörte er, wie sie leise ihre Tür schloß, und die dunkle, einsame Stille des alten Hauses war rings um ihn, als er durch den Gang nach vorn ging. Und tausend Stimmen, die Stimmen seines Vaters, die Stimmen seiner Brüder, die Stimme des Kinds, das er gewesen war, und die Stimmen von hundert andern, verlornen, entschwundenen Leuten flüsterten ihm zu, als er den alten, dunklen Gang dort im Haus seiner Mutter entlangging. Und der ferne, sinnlose Wind sauste in den kahlen Bäumen, wie er ihn als Kind so oft sausen gehört hatte, und weither, fernleis, windzerschellt hörte er den klagenden Schrei des großen Zugs, der ihm die wilden, heimlichen Versprechungen von Flucht und Dunkelheit, neuen Landen und einer strahlenden Stadt wiederbrachte. Und es war etwas Wildes, Dunkles, Geheimes in ihm, das er nie aussagen konnte. Das fremde und bittre Geheimnis des Lebens hatte ihn erfüllt, er konnte nicht sprechen, und alles, was er wußte, war, daß er die Heimat auf immer verlassen würde, daß die Welt, die Zukunft der dunklen Zeit und des Menschenschicksals vor ihm läge, und daß er nie wieder im Haus seiner Mutter leben würde.