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Ein- oder zweimal die Woche ging Eugen in die Stadt und trank Tee auf der Studentenbude eines Jugendfreundes, mit dem er zusammen auf die Schule gegangen war und der nun als Rhodes Scholar zum Merton College gehörte. Dieser junge Mann hieß Johnny Park, er war ein gutmütiger, fleißiger, sich redlich und strebsam voranmühender Mensch und führte sein Leben nach einem wohlbestellten Plan. Mit diesem von frühauf gewissenhaft und geduldig eingehaltenen Lebensplan hatte er immer glänzenden Erfolg gehabt. Johnny hatte diesen Plan in der Luft der Heimat gefaßt und unter vertrauten Himmeln ausgeführt, er war dabei nie von Zweifeln befremdet, nie durch ernstliche Schwierigkeiten oder dunkle seelische Wirrsale gehemmt und auch nicht gestört worden durch irgendwelche schicksälige oder zufällige Überraschungen, Bestürzungen oder Erschütterungen, wie sie so oft in unsre Leben einbrechen, mit Sturmwut über uns herfallen und mit Gewalt unsre schönen Vorsätze verrenken.
Als Johnny ein paar Monate zuvor, während seines letzten Jahrs auf der Universität, das Studienstipendium der Cecil-Rhodes-Stiftung bekam, schien es daher, daß der Tüchtige der unvermeidlichen Erfüllung entgegenschritte. Jedermann hatte im voraus gewußt, daß Johnny die Rhodes-Scholarship kriegen würde, das Vorausgewußte traf mit pünktlicher Genauigkeit ein, Johnny hatte erklärt, er würde, ganz wie sich's gehört, »Internationales Recht« studieren, und alles war so prompt und proper, wie es hätte sein sollen, und nun war Johnny hier in Oxford, um, wie er stets getan, weiter voranzumarschieren auf seiner Bahn, seinem leuchtenden Ziele entgegen.
Zum erstenmal jedoch in Johnnys Leben war etwas verkehrt gegangen, war etwas furchtbarer- und entmutigenderweise fehlgeschlagen, und Johnny wußte nicht, was es war. Vielleicht würde er es nie herausbekommen, aber jedenfalls stak er nun in der größten Verwirrung und Bedrängnis seines Lebens, und das wußte er. Seine Stimme war noch immer langsam und gutmütig, er ›drahlte‹ seine Worte und Sätze, wie es die Leute daheim in den Südstaaten tun, er war noch so voll von Güte, Wärme und Freundlichkeit, wie er es immer gewesen war, er hatte sich schnell und pflichtschuldig den Sitten und Bräuchen des neuen Daseinsumkreises angepaßt – er trug weitfaltige graue Hosen und Tweedröcke aus dem Tailorshop, hatte mit Kommilitonen Reisen und Fußwanderungen auf dem europäischen Kontinent für die Ferien vereinbart, hatte seine Lehrer gesellschaftlich kennengelernt, hatte alles, was Proktoren und Ordnungsstrafen betrifft, herausgefunden, kannte sich aus im System der Kollegienrechnungen und der Kollegienkämpfe, war der Sportunion beigetreten und hatte sich angewöhnt, nachmittags pflichtschuldig auf den Tummelplatz zu gehen, er hatte sogar die mysteriöse Teezeremonie eingeführt und nahm jeden Nachmittag den Tee auf seiner Bude – ja, das alles hatte er gelernt und geleistet, das wußte und tat er nun mit sorgfältigster Gründlichkeit, aber etwas war verkehrt gegangen.
Alles an Johnny war ganz so, wie es immer gewesen war, – das Lächeln, die träge, gutmütige Stimme, die langgezogene, füllige Vokale im Kehlraum dehnende heimatliche Sprechart, die liebenswürdige Wärme, Bescheidenheit und Freundlichkeit – alles war dasselbe wie immer, nur die Augen waren nicht dieselben. Der ruhig bedächtige selbstsicher-stille Ausdruck war weg, und in den Augen lag nun der bestürzte, betäubte, der von Schmerz und täppischer Verwirrung erfüllte Blick eines Menschen, dem ein brutaler, hirnerschütternder Schlag ins Genick versetzt worden ist, und der sich nicht erklären kann, was ihm geschah.
Er befand sich in einer ganz unmöglichen Lage, war einer tragischen Prüfung, war der Einsamkeit, dem Fremdsein und der Bestürzung ausgesetzt unter all den verworrenen und andersartigen Formen eines neuen Lebens, auf das ihn in seinem alten Leben nichts vorbereitet hatte. Er war in einer Kleinstadt in den Südstaaten geboren, war dort auf die Schule gegangen und hatte die Universität seines Heimatstaats besucht, er hatte sein ganzes Leben lang in einer vertrauten Luft gelebt und geatmet, vertraute Worte, wohlbekannte Stimmen ringsum gehört und in all seinem Planen nichts gekannt außer Sicherheit, Gewißheit und Erfolg.
Und nun war dies alles, war sogar der Boden unter seinen Füßen wie ein Rauchgebild zergangen, und er wanderte blind herum in einem Leben, das ihm so fremd war wie Asien, so fern war wie der Mond, und er wußte nicht, wohin er sich wenden solle, hatte nichts, an das er sich halten konnte und keine Tür zum Eintreten. Er, der nie zuvor im Leben eine Großstadt gesehen oder besucht hatte, war auf seiner Reise nach England auf einen oder zwei Tage nach New York gekommen, dann hatte er zum erstenmal das Mysterium des Meers und das Leben auf einem großen Dampfer kennengelernt, und nun war er hier in der grünen englischen Landschaft, in einer alten Stadt, grausam dorthin verschlagen, plötzlich, nackt und unvorbereitet in ein Leben gestoßen worden, das subtiler, komplizierter und konfuser war, als sich seine milde Seele das Leben je hätte träumen lassen.
Als Eugen ihn gefragt hatte, ob er auf dem Weg nach Oxford einen Abstecher in London gemacht habe, hatte sich der schmerzvoll-bestürzte Ausdruck in Johnnys Augen vertieft, und Johnny hatte in einer langsamen, verwirrten Stimme geantwortet:
»Wir sind dort über Nacht geblieben, aber viel gesehn haben wir nicht. Am nächsten Morgen sind wir weitergefahren, hierher.«
Johnny hatte geschwiegen und dann gutmütig lachend mit einer verstörten, unsicheren Stimme bekannt:
»Groß genug sieht's schon aus, nach dem bißchen zu urteilen, was ich davon erlebt habe. Ich nehme an, ich werde noch 'nen Haufen zulernen müssen, bis ich mich dort auskenne.«
Johnny konnte sich an London erinnern wie ein Mensch, der nachts blindlings durch ein ungeheures, grenzenloses, rauchiges Kaleidoskop aus Laut, Bild und Bewegung gewirbelt worden ist, sich dessen erinnert, und die Erinnerung an dieses unheimliche, schreckerregende, altersverkrustete Lebensgewebe, – dieses end- und maßlose Lebensgewebe, das geschwärzt, durchtränkt und gesättigt ist nicht nur von dem grauen Licht, das auf es und seine acht Millionen Einwohner fällt, sondern auch von dem grauen Licht verdichteter Jahrhunderte, vom Dasein der Zahllosen, die dort gelebt haben und gestorben sind, dieses große, graue Gewebe, das die Seeleute so richtig mit dem Ausdruck »The Smoke« (der Rauch) bezeichnen – trug erklecklich zu Johnnys Bestürzung und Erschrecktheit, zu dem Gefühl nackter Verlassenheit in ihm bei.
Den andern Rhodes Scholars, die Eugen durch Johnny kennenlernte, war es leider auch nicht anders ergangen. Es waren dies fünf oder sechs Mann, die sich jeden Nachmittag auf Johnnys Bude einfanden, und die verzweifelt zusammenzuhängen und sich zusammenzudrängen schienen, so, als versuchten sie ein kleines Musterbild vertrauten Lebens mit ihrem Grüppchen zu schaffen, eine winzige Oase der Wärme, der Freundlichkeit und des ihnen selbstverständlichen Daseins, eine Oase, zu der sie sich erleichtert und entlastet wenden konnten in all der Vereinsamung in einem fremdländisch feindseligen Leben, in das sie nie eingetreten waren, das sie nie zu ihrem eignen machen konnten, das vor ihnen stand wie ein unüberwindlicher Wall, das sie ausgesperrt hielt wie eine verrammelte Tür, die sie nicht einrennen konnten.
Nur zwei aus dem Grüppchen – Johnny und sein Budenkamerad Price – hatten ihr Studium in Oxford erst begonnen; die andern standen entweder im zweiten oder im letzten Jahr des dreijährigen Stipendiataufenthalts, schienen aber außer mit andern Rhodes Scholars keine Freundschaften geschlossen zu haben und nirgends heimisch geworden zu sein, denn offenbar war ihnen die Gastfreundschaft Johnnys und seines Kameraden höchlich willkommen und wurde mit einer verzweifelten, wenn auch nicht in Worten ausgesprochnen Dankbarkeit angenommen.
Von den dreien, die täglich zu Johnny und Price zum Tee auf die Bude kamen, war ein kurzer Dicker mit einem roten, groben, unfeinen Gesicht und kurzgeschnittnem, in der Mitte gescheiteltem Kraushaar. Er war von Providence im Staat Rhode-Island gekommen, von der Brown-University, zu deren Fußballmannschaft er gehört hatte, und stand nun in seinem zweiten Auslandsstudienjahr. Sein Abzeichen, den kleinen goldnen Fußball, trug er zwar nicht mehr, aber ein gut Teil seiner behaglichen Selbstgefälligkeit war noch intakt. Er war dickfelliger und dickfühliger als die andern und lebte offenbar in der Vorstellung, daß ihm seine drei Oxforder Jahre nach der Rückkehr in die Heimat Tor und Tür zu jeder Anstellung öffnen würden, so daß er alsdann jede Freiheit der Wahl und des Ablehnens habe.
Er erkundigte sich bei Eugen nach dem Gehalt, das die Universität in New York City ihren Instruktoren zahle. Als Eugen ihm die Summe nannte, die er bezogen hatte, lächelte der Rhode-Islander tolerant und erklärte, er habe »nichts dagegen, das auch mal auf ein Jahr zu machen. Derweil kann ich mich mal ordentlich umgucken«, meinte er, und geruhte dann gnädigst, Eugen davon in Kenntnis zu setzen, daß er, der Rhodes Scholar, ein Angebot der New-York-City-Universität erwägen würde und sogar willens wäre, für dasselbe Gehalt zu arbeiten wie Eugen, allerdings nur für die Zeit, in der er sich »ordentlich umgucke«. Und leicht lächelnd setzte er hinzu:
»Ich kann mir nicht denken, daß ich Schwierigkeiten haben werde. Wenn einer ein Oxford-Degree hat, dann reißt man sich doch drüben sicher um ihn, nicht? Aber immerhin«, fuhr er großmütig fort, »ich hätte gar nichts dagegen, mal 'n Jahr oder zwei in New York zu leben, eh ich eine Lebensstellung annehme, und so könnten Sie ja den Leuten dort mal meinen Namen geben, wenn's Ihnen gelegentlich beifällt.«
Die beiden andern aus der Gruppe, die sich auf Johnnys Bude versammelte, studierten im dritten Jahr in Oxford. Der eine war ein zartgliedriger, sensitiver Ästhetenjüngling namens Sterling. Er stammte aus den Weststaaten – aus Arizona oder New Mexico –, aber es war kein Zug an ihm, der an die wilde, offne Größe seiner heimatlichen Umwelt erinnerte. Er war vielmehr ein höchst preziöser, höchst subtiler, elegant elegischer, stillverbitterter, hochmütiger Geselle, ein feinsinniger, stilleifernder Jünger des Dichters und Kritikers T. S. Eliot, und obschon er sich nur sparsam und vorsichtig zu dessen Theorien bekannte und der unmittelbaren Erörterung auswich, so waren doch alle seine Äußerungen in einer Art vorgebracht, die einen darauf aufmerksam machte, daß hinter der Sache mehr stäke, als man auf den ersten Blick erkenne, ganz so, als sagte er gleichsam: »Wenn Sie mich verstehn wollen, dann müssen Sie zwischen den Zeilen zu lesen lernen, und wenn Sie meine Meinung erkennen möchten, ist es empfehlenswert, sich viel mehr ans stillschweigend Inbegriffne zu halten statt an die wörtliche Aussage, denn eine Sprache so subtil und exakt, daß ich meine Meinung in ihr bündig ausdrücken könnte, gibt es ja nicht.«
Dieses elegante, kalte, leicht geringschätzige Gehaben legte er stets an den Tag, er war sehr zurückhaltend und hatte die Angewohnheit, während des Gesprächs der andern stumm dazusitzen, die Ellenbogen aufgestützt, die Fingerkuppen auseinandergelegt, mit einem matthochmütigen Lächeln über den Gipfelbogen seiner schmalen Hände hinwegblickend, kalt und teilnahmslos zuzuhören, so, als ginge ihn der Ödlandschwatz der anderen, ging ihn die Ödlandleere dieser verlorenen Ödlandseelen nichts an, sondern das wäre etwas, wovon er wisse, daß er es ertragen müsse und ertragen werde mit seinem kalten, matthochmütigen Lächeln, mit seiner kalten, in geduldiger Gemüdetheit eingeweichten Seele, bis ihn ein gnädiger Tod erlöse.
Der andre war ein Jude namens Fried, und diesen Mann konnte Eugen nie vergessen. Eugen wußte nicht, wo Fried herkam, wieso und von wem er das Studienstipendium der Rhodes-Stiftung gekriegt hatte, aber Eugen wußte, daß außer Johnny Park dieser Mann Fried der einzige aus dem Grüppchen war, der seine Integrität bewahrt hatte, der einzige, an dem nichts Unechtes, nichts Verängstigtes, kein unbehagliches Ausweichen war, der einzige, der aus der Last der Verbitterung und des Hasses, die ihm auf der Seele lag, kein Hehl machte, der einzige, der seinem Wesen treu geblieben war.
Vielleicht war dieses Wesen eines, wie man ihm besser nicht treu bleiben sollte, denn gewiß war Fried kein reizender Mensch; er hatte die aggressiven, lästermäuligen und merkwürdig unrechtschaffnen Eigenschaften seiner Rasse, – aber so war er eben, furchtbarerweise so, und er schämte sich dessen nicht. Er blieb seinem Wesen treu mit einer unverblümten, unheimlichen Integrität, die wie das harte, nackte Feuer eines geschliffnen Edelsteines blitzte, und das konnte Eugen nie vergessen, selbst als die Charaktere der übrigen aus der Gruppe verschwommen, formlos und obskur für ihn geworden waren.
Wo Fried herkam, wußte Eugen nicht, aber er war sicher, jener wäre aus einer der Großstädte an der atlantischen Küste, aus New York, Boston, Baltimore oder Philadelphia. Dem Gesicht, der Gestalt, der Art Frieds war Eugen millionenfach auf dem Pflaster dieser Städte begegnet, und – unglaublich – dieses dunkle, unglückliche Gesicht war ihm nie zuvor wie ein persönliches Gesicht vorgekommen, sondern einfach wie das Gezeiten-Gesicht aus der Flut der Namenlosen, und diese schrille, lästernde Zunge nie wie eine Einzelzunge, sondern wie der Ausdruck einer allgemeinen, zahl- und namenlosen Häßlichkeit, einer Vielstimmigkeit aus Gekreisch, Gefauch, Gefluch, Erbitterung und harschem Hohn, wie eine konstante Phrase, ein Mißklang, ein klimatischer Faktor des Großstadtdaseins. Nun aber erschien all das, was Eugen zuvor als namen-, gesichts- und charakterlos, als obskur vorgekommen war, plötzlich und unheimlich in einem einzigen Charakter zusammengefaßt, und zwar in einem harten, bittern und unvergeßlichen, an dem kein andrer Himmel, kein andres Land, keine andre Lebensform je ein Tüttelchen ändern konnte.
Das Leben dieser Rhodes Scholars war ein erbärmliches, hoffnungsloses, einsames Leben, ein vergebliches, schwächliches, unfruchtbares Leben, ein unmögliches, täppisches, elend unsicheres Leben, – und Fried war der einzige unter ihnen, der dagegen aufbegehrte, der die Dinge beim Namen nannte, der kein Blatt vor den Mund nahm, der der ganzen Erbitterung in seiner Seele Ausdruck verlieh und der diesem Leben gegenüber der blieb, der er war. Die andern waren verschüchtert und gekränkt, waren einsam und hatten Heimweh, und vor allem, sie hatten Angst. Sie hatten Angst vor allem, Angst vor der Einsamkeit und dem schnöden Mißerfolg, Angst, die Einsamkeit und die bittre Enttäuschung einzugestehen; sie hatten Angst, zu laut zu lachen, sich zu sehr über etwas zu freuen, sich zu sehr für etwas zu begeistern, denn sonst wären sie ja für »bieder« gehalten worden und man hätte ihnen das anrüchige, widerliche Kennwort »Biederling« angeheftet.
Sie hatten Angst, durch nationale Extravaganzen des Anzugs, der Sprache oder des Benehmens aufzufallen, denn sonst hätte man sie als »Dicktuer« oder »Knoten« gebrandmarkt, sie hatten Angst zu reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen war, denn das hätte viel zu rauh, zu ruppig, zu aufdringlich amerikanisch geklungen, sie hatten aber auch gleichviel Angst, die sprachlichen und aussprachlichen Gepflogenheiten der Umwelt allzutreulich nachzuahmen, denn das wäre servil und snobistisch gewesen, und im Kreis der eignen Landsleute hätte man sie dann verhöhnt und sie beschuldigt, sie »redeten mit englischem Akzent«. Und so, ins Geweb von tausend Befürchtungen verstrickt, in den Maschen von tausendfacher, unmöglicher Zurückhaltung gefangen, zwar gesonnen, sich selbst treu zu bleiben, ihr Wesen, ihre Art und Weise, ihren angebornen Anstand zu bewahren, aber andrerseits doch bemüht, sich mit tausend kleinen Halbtarnungen anzupassen und zurechtzustutzen, – bei diesem Trachten, ihre natürliche Seins- und Sinnesart durch ein verrücktes Fadengespinst zu filtern, bei diesem Vorhaben, sich auf tausend Drähten närrischerweise im Gleichgewicht zu halten, hatten ihre Charaktere mit der Zeit die Beschaffenheit von Robbenspeck angenommen, – bei dem Versuch, vielerlei zu sein, waren sie zu Nichtsen geworden.
Ach ja, es war ein elendes, vergebliches, hoffnungsloses Leben, und auf dem Grund ihres Herzens wußten das die andern genau so gut wie Fried; sie konnten aber bloß beiläufig sprechen, schwächlich lächeln, fälschlich reden, sie waren außerstand, die Wahrheit unumwunden zuzugeben und mutig Farbe zu bekennen. Keiner von ihnen konnte Fried leiden, sie schämten sich seiner, sie stellten ihn manchmal offen zur Rede, setzten ihm mit Gründen zu, höhnten ihn aus, klagten ihn an, aber wider Willen und insgeheim hatten sie Respekt vor ihm, und die Vorhaltungen endeten damit, daß sie stille schwiegen und zuhörten, wenn er sprach.
Es war erstaunlich, die Wirkung von Frieds bittren Tiraden auf dieses verlorne Grüppchen zu beobachten. Wenn er anfing, begehrten die andern auf, machten sie Einwände geltend, wiesen sie ihn scharf zurecht, lachten sie unbehaglich, und wenn dann seine harsche, raspelnde Stimme vor Bitterkeit und Haß laut und schrill und fauchend wurde, blickten sie ängstlich zur Tür und schwiegen dann, sahen ihn fasziniert an und hörten ihm zu, sich gebannt und mit gefräßiger Befriedigung an seinen wüst und ruppig vorgebrachten Bezichtigungen labend, ganz so, als spräche diese einzige, unverblümte Lästerzunge die ganze, ungeheure Last jenes Elends aus, das ihnen das Herz schwer machte, das aber einzugestehen sie nie den Mut aufbrachten.
Eugen fragte Sterling einmal, wie lange dieser noch in Oxford bliebe, und Sterling antwortete:
»Noch zehn Monate. Dies ist mein letztes Jahr. Nächsten August reise ich heim.« Er schwieg eine Weile und fuhr dann mit einem matten, bedauernden Lächeln fort: »Nächstes Jahr im Herbst werde ich mich wohl vermutlich fragen, ob ich das alles überhaupt erlebt habe. Es wird mir seltsam und schön vorkommen«, meinte er leis, »wie ein unmöglicher Traum.«
»Jöh!« fiel da Fried fauchend ein. »Ein unmöglicher Traum! Jesus! Ein unmöglicher Alpdruck! Das war schon eher richtig!«
Sterling blickte über den Bogen seiner schmalen Hände hinweg Fried an, lächelte matt, geringschätzig und antwortete nichts. Dann wandte er sich, Fried mit kalter Nichtachtung strafend, wieder an Eugen und fuhr fort:
»Manchmal kann ich mir kaum vorstellen, daß ich je drüben gelebt habe. Ich frag' mich dann, ob es so ein Land wie Amerika überhaupt gibt«, erklärte er, matt und trauervoll lächelnd. »Nach all dem –« er machte eine leichte Handgebärde und hielt eine Sekunde inne, »... dann das wieder ... Wolkenkratzer, Untergrundbahnen, Hochbahnen ...« wieder hielt er mattlächelnd inne. Er wandte sich an Eugen. »Sagen Sie mir«, fragte er, »existiert denn das wirklich?«
»Ob das wirklich existiert?!« fauchte Fried hohnlachend. »Wirklich existiert! Ich kann's der falschen Welt versichern, daß das existiert!« schnauzte er. »Darauf können Sie Ihre Klöten verwetten«, knurrte er vor sich hin.
Sterling starrte Fried kalt an und sagte nichts. Fried aber mit seinen fiebrigen Augen, mit seinem harten, dunklen, verbitterten Gesicht blickte Sterling geelendet an.
»Wie kommen Sie zu dem Quatsch?« fragte Fried verächtlich. »Den Neulingen da, die erst 'n paar Wochen hier sind, können Se vielleicht so was vormunkeln, Sterling. Aber mir nicht. Ich weiß, was das für'n Traum gewesen is' – und Sie wissen's ebensogut.«
Das fragile, sensitive Gesicht stand hochmütig über dem Gipfelbogen der Hände. Sterling geruhte nicht, zu entgegnen. Er sah Fried einfach mit kalter, matter Geringschätzung an, und Fried, der den Blick mit einem angeelendeten, angeekelten erwiderte, raspelte wieder bitter los:
»Das war wohl 'n Traum, als Sie sich in Ihrer ersten Zeit bei diesen englischen Buben hier anschmusten, was? Sie dachten wohl, da werden Se sofort in den Schoß der Familie aufgenommen, was?« höhnte er. »Sie dachten, da hätten Se sich aber hübsch gesetzt? Da fühlten Se sich wohl schon als der Busenfreund des Herzogs von Wie-heißta-denn und dachten, der würde Sie zu Weihnachten auf sein Schloß einladen, und da könnten Se seiner Schwester 'n bißchen die große Cour schneiden, was? Ja, das hamm Se gedacht! Na, und dann hamm Se ja gesehn, wieweit Se damit gekommen sind, nicht wahr? Diese Bübchen hamm Sie mal mitfahrn lassen und 'n bißchen ausgenutzt, und dann, als der Spaß 'rum war, haben sie Se einfach abgeladen wie 'ne Tonne Backstein! Und dabei haben Sie sich eingebildet, Sie wär'n so'n Siebengescheiter und kämen wer-weiß-wohin! Und täten was ganz Großes! Na, ich will Ihnen sagen, was Se getan ha'm. Lächerlich gemacht ha'm Se sich, vastehn Se? Die Bübchen da ha'm ganz groß über Sie gelacht!« rief er heftig. »Und ich will Ihnen noch was sagen. Die lachen immer noch über Sie! Ich hab Sie beaugapfelt, Sterling, ich weiß Bescheid in allem, was Sie taten, aber Sie freilich konnten mich damals nicht sehn. Oder hamm Se mich vielleicht in jenen Tagen sehn können, was?«
»Ich kann Sie auch jetzt nicht sehn«, sagte Sterling kalt. »Ich hab Sie nie sehn können!«
»Ist das so?« raspelte der Jude bitter. »Ach, ist das nicht jammerschade? ... Na, ich will Ihnen mal von 'ner Zeit erzählen, in der Sie mich gesehn haben, Sterling ... Das war damals, als diese Bübchen Sie versetzt hatten. Damals konnten Sie mich sehen, nicht wahr, das konnten Sie doch? ... Aber daran erinnern Se sich nicht, wie? Nun, da will ich Ihnen ganz genau sagen, wann das war ... Es war, als Sie in Ihrem ersten Frühling hier aus den Ferien ins College zurückkamen und herausfanden, daß Ihre Freunde Sie auf einmal nicht mehr kannten. Es war damals, als Sie den Schwanz so ganz kummervoll auf dem Boden schleifen ließen, weil Se keinen Freund auf der Welt hatten ... und damals konnten Se mich sehn, ganz richtig sehen sogar ... Aber zuvor, als Sie noch in den besten Kreisen zu verkehren gedachten, da war ich nicht gut genug. Gut genug war ich erst, als man Ihnen die große, kalte Schulter gezeigt hatte, nicht wahr? ... Aber sicher!« sagte er spöttisch und wandte sich in einem etwas leiseren Ton an die Gruppe. »Als dieser Herr da noch mit seinen englischen Freundchen 'rumschwänzelte, pflegte ich öfter an ihm vorbeizugehn. Glauben Se, er hätte mich gekannt?« fragte er heiser. »Davon war nicht die Spur zu merken ... ›Wer ist denn diese jewöhnliche Person, die Sie da jejrüßt hat, Mistah Störling?‹ – ›Oh, der da! Oh, kann ich Ihnen mit dem besten Willen nich' sag'n, altah Junge. Irgend so'n Bursche, mit dem ich auf'm selb'n Dampfah übahjefah'n bin ... Name is' mir entfall'n. Ein vabiestata Knoten, glaub ich.‹ ... Aber sicher! Aber sicher!« Fried nickte. »So hat er sich angestellt. So, als hätte er den ganz hohen Zylinderhut auf! Da war ich freilich nicht gut genug. Und die ganze Zeit haben sich diese englischen Bübchen ins Fäustchen gelacht über ihn!«
Die andern waren bestürzt über den fauchenden Wutausbruch Frieds. Das dunkle, harte Gesicht, die fiebrigen Augen, die vor Erbitterung raspelnde, gelle, hohe Stimme, – das alles hatte sie hypnotisch im Bann gehalten. Aber nun, als Fried, der sich außer Atem geredet hatte, innehielt, rafften sie sich auf und fielen wie Verbündete über ihn her.
Einen Augenblick später war die letzte Fessel der Zurückhaltung gesprengt, war die letzte Schranke gentlemanhafter Haltung zerbrachen, und diese jungen Männer, die sich zuvor so urban und tolerant, so feinsinnig und hochgebildet gehabt hatten, gellten und fauchten und schrien durcheinander in einem allgemeinen, unentwirrbaren Wortstreit, der lebhaft an ein Knäuel aneinandergeratner Hunde erinnerte. Anwürfe, Vorwürfe, Flüche, Ausfälligkeiten, Schelte, Bezichtigungen wurden laut, und da alle gleichzeitig loslegten, war aus dem Tumult der schrillen, erbitterten Stimmen nicht mehr herauszuhören als Sätze wie: »Sie haben von allem Anfang an überhaupt nicht hierher gehört!« »Leute wie Sie sind's, die uns alle in Verruf bringen!« »Warum, zum Teufel, sollen wir es auszubaden haben, wenn Sie hier herumlaufen und reden und sich benehmen wie ein Gangster von der New Yorker East-Side?« »Natürlich glauben die Leute hier, alle Amerikaner wären Rauhbeine, wenn sie 'n paar von Ihrer Sorte getroffen haben.« Und Frieds Stimme: »Ah, gehn Se fort, schlappes Gerede! Krieg ich ja Bauchweh 'von! Ihnen geht's ja genauso wie mir, aber keiner hat den Murr, es zuzugeben.« »Ah, Sie sind ja bloß gekränkt, weil diese englischen Buben hier nichts mit Ihnen zu tun haben wollen, das ist doch alles!« »Ei was! Sie reden sich wohl ein, die hätten sich höllisch was aus Ihrem Verkehr gemacht? Was?! Nicht mal, als Sie versuchten, mit englischem Akzent zu reden.« Und Sterlings Stimme: »Sie verdammter Lügner! Ich habe nie versucht, mit englischem Akzent zu reden!« Und Fried: »Aber sicher hamm Se das! Jedermann hat Se gehört! Sie trugen den Akzent so dick auf, daß man ihn mit 'm Beil hätte kleinhacken können! Wissen Se noch, damals, als Sie mit dem Klübchen im Christ's College 'rumzogen.« Und Sterling: »Wer behauptet das von mir!« Und Fried: »Ich behaupte's. Ich bin Derjenige-Welcher! Sie und der Tommy Woodson ...« Und Sterling: »Bringen Sie mich nicht mit Tommy Woodson unter einen Hut! Mit diesem Wendehals möchte ich nicht zusammen genannt werden.« Und Fried: »Ei wa-a-as? Seit wann nennen Se ihn denn 'nen Wendehals?« Und der andre: »Ich hab' ihn immer so genannt. Er ist einer.« Und Fried: »Da hamm Se vollkommen recht! Aber in Ihr'm ersten Jahr hier hamm Se das noch nicht gewußt, was? Da war'n Se sein Busenfreund, und von uns andern wollten Se nix wissen! Da dachten Sie, er könnte Sie einführen, was? Un' dann hamm Se gesehn, wie schnell der Sie abgehängt hat, als er mit diesen Jungen im Christ's College in den Dreh kam. Da hat er Se dann ganz groß fallenlassen, nicht wahr? Und seit er Ihnen die kalte Schulter zeigt, nennen Se ihn Wendehals!« Der andre: »Das ist gelogen! Es war gar nicht so!« Und Fried: »Aber sicher! Ganz genau so war's!«
Das Gefauch und Gekreisch der Durcheinanderredenden wurde lauter und schärfer; die Rhodes Scholars machten ihrem gekränkten Herzen Luft, warfen in ihrem Elend einander allen möglichen Schimpf vor, und als sich der Lärm schließlich legte, war es hauptsächlich deshalb, weil die Streitenden erschöpft waren. Als der Tumult nachließ, sagte Sterling – zwei hektisch-rote Flecken brannten auf seinem bleichen Gesicht, von seiner vorherigen, affektierten, kalt-eleganten Verächtlichkeit war keine Spur mehr zu merken – in einer hohen, erregten, fast hysterischen Stimme zu Fried:
»Ihre Angriffe sind einfach stupid! Das führt doch zu nichts. Und ist so krud! So raucous! Schließlich besteht doch kein Grund, daß Sie immer so ruppig sind.« Seine Hände zitterten, die beiden roten Flecken auf seinen dünnen, bleichen Wangen brannten wie Feuer, und das Wort raucous (ruppig) sprach er raw-kus aus, und in all dem und in der Bitterkeit, mit dem er raucous amerikanisch aussprach, lag letzten Endes etwas Erbärmliches und Vergebliches.
Als die schrillen Schreie ganz verklungen waren, sah sich der Jude mit der dunklen, verbitterten Visage verdrossen in der Runde um; er hatte die andern wieder in seiner Gewalt. Nun war es ganz augenscheinlich, daß die andern ohne weiteres einräumten, daß dieser wilde, enttäuschte Mensch eine harte Integrität des Geistes habe, eine Überzeugung, deren er sich nicht schämte, einen häßlichen, fauchenden, aber offenen Mut zur Wahrheit, den sie nicht besaßen. Sie saßen da und sahen ihn stumm an, und in ihrem Schweigen lag nicht nur ein bitter und widerwillig gezollter Respekt für ihn, sondern auch das bare Eingeständnis ihrer Unterlegenheit und der Tatsache, daß Fried recht habe.
Als Fried nun wieder sprach, sprach auch er verdrossen und bitter resigniert und ganz so, als wisse er um die Vergeblichkeit seines Siegs über die andern, als wisse er, daß es sinnlos sei, weiterhin Anwürfe, Flüche und Bezichtigungen ins Gesicht von Leuten zu schleudern, die ja um die bittre Wahrheit seiner Behauptungen genauso gut wußten wie er selbst.
»Nah!« sagte er ruhig, »der Teufel soll's holen! Was hat's denn für 'n Sinn, sich was vorzuflunkern. Ihr wißt ja, wie die Dinge liegen! Da kommt Ihr da 'rübergefahren und bildet Euch ein, daß Ihr jetzt ziemlich weit oben auf dem Gipfel des Lebens sitzen werdet. Ihr stellt Euch vor, daß diese Leute hier Euch strahlend entgegenkommen, Euch in ihre Arme schließen und auf beide Wangen küssen, weil sie die Amerikaner so gern haben. Und was dann geschieht, braucht mir keiner von Euch zu erzählen.« Er lachte herb. »Da könnt Ihr drei Jahre hier 'rumlaufen, und keiner von den Kerlen macht Euch zulieb auch nur 'nen Finger krumm. Es kann Euch das Herz ausfressen, und denen ist das vollkommen piepe, und wenn Ihr wieder abreist, wißt Ihr und kennt Ihr und versteht Ihr genauso viel von der Gesellschaft wie damals, als Ihr herkamt. Und was habt Ihr bewerkstelligt? Was kriegt Ihr dafür? Worum dreht sich der ganze Zinnober? Und was zum Teufel findet Ihr denn so wundervoll dran?«
»Ich dachte«, wandte hier ein junger Mann ein, der in seinem ersten Oxforder Studienjahr stand, »man wäre hier, damit man –« er sagte das mild und ein bißchen fromm, so, wie jemand einen Katechismus zitiert – »zu einem besseren Verständnis der Beziehungen zwischen den zwei großen Englisch sprechenden Nationen kommt.«
»Die zwei großen Englisch sprechenden Nationen«, entgegnete Fried barsch und lachte höhnisch. »Mensch! Da hamm Se 'n guten Witz gemacht! Was für zwei Englisch sprechende Nationen meinen Se denn da?« raunzte er streitsüchtig. »Die Engländer und – wen noch?« fragte er. »Bilden Se sich etwa ein, daß wir dieselbe Sprache sprechen wie diese Leute da? In meinem ersten Jahr hätte das, was hierzuland gesprochen wird, meinthalb Siamesisch sein können; jedenfalls, zu den Sprachen, die ich je sprechen gehört hatte, gehörte das nicht ...« Fried schwieg eine Weile, dann fuhr er verdrossen fort: »Ach ja, ich weiß schon. Den Schwindel hab ich auch aufgetischt gekriegt, eh ich 'rüberkam ... Englisch sprechende Nationen ... Rückkehr ins alte Heimatland! ... Hei! ja! ... Aber ich hab mich hier nie zu Hause gefühlt. Hätten sie mich nach Sibirien geschickt, dann wär's mir wahrscheinlich mehr wie 'n Zuhause vorgekommen ... Zuhause! Na, wenn's Euch Spaß macht, könnt Ihr Euch ja vorflunkern, daß Ihr hier zu Hause wärt ... Ich weiß schon, wie Ihr das machen werdet«, murmelte er. »Ihr werdet Eure drei Jahre hier studieren und den Betrieb genauso hassen, wie wir andern ... Un' dann werdet Ihr heimfahren, und alle Leute dort 'n bißchen von oben herab behandeln und erzählen, wie wunderbar es hier war, und was Ihr hier für drei herrliche Jahre verbracht habt und wie schwer Euch der Abschied geworden ist ... Da mache ich nicht mit! Ich fahre heim und freue mich drauf, daß ich dort mal dann und wann 'nen Bekannten sehn kann, der sich nicht zu gut ist, sich mit mir zu unterhalten und der sich auch ab und zu mal die Müh macht, zu verstehn, was ich ihm sage ... und darauf, daß ich wieder meinen kleinen Nickel für die große Fahrt in der Untergrund berappen kann ... und daß ich wieder hören kann, wenn die Kinder drunten auf der Straße spielen ... und wieder schlafen gehn kann, wo mir die Hochbahn in die Ohren donnert ... Dort bin ich zu Hause!« rief er aus. »Und so ein Zuhause genügt mir.«
»Eine Hölle von einem Zuhause«, sagte jemand ruhig.
»Glaub'n Se, das wüßt' ich nicht selber?« fauchte Fried. »Es ist aber doch das einzige Zuhause, das ich hab. Und besser als überhaupt keins!«
Eine Weile saß er da, dunkel und bitter, er rauchte und schwieg.
»Nah! Der Teufel soll's holen! Den ganzen Betrieb hier«, knurrte er. »Ich werde froh sein, wenn dieser Fall hier für mich überstanden ist. Mir tut's leid, daß ich überhaupt kam.«
Dann schwieg er, und die andern sahn ihn an und hatten weiter nichts zu sagen und schwiegen auch.