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Auf eine merkwürdige und unbestimmbare Weise hatten sich die Gruppen in der Diele voneinander gesondert. Die reicheren Leute und angesehenen Bürger – William, James und Crockett Pentland, Mr. Sluder und Eliza – standen in ernstem Gespräch in der Nähe der Haustür. Die andere Gruppe – Handwerker, die Gant gut kannten, für ihn und mit ihm gemeinsam gearbeitet hatten, der Uhrmacher Jannadeau, die Steinmetzen Alec Ramsay und Saul Gudger, der Gipser Ollie Gant, ein Neffe Gants, der Installateur Ernest Pegram und der Bauunternehmer Mike Fogarty, der vielleicht Gants bester Freund war, – diese andre Gruppe, die also aus Männern bestand, die ihr Leben lang schwer mit den Händen geschafft hatten und die wirklich Gant am besten kannten, hielt sich abseits von der Gruppe der Reichen und Angesehenen, die sich so ernsthaft mit Eliza unterhielten.
In dieser unbewußten Scheidung, der beengten, unbehaglichen Stimmung und dem unbeholfenen Schweigen dieser Handwerksleute, die in ihren guten Anzügen und nervös an ihren Hüten herumfingernd dastanden, war etwas ungemein Rührendes. Diese Männer sahen genauso aus, wie von jeher auf der Welt Handwerker und Arbeiter ausgesehen haben, wenn sie sich plötzlich auf der Ebene gesellschaftlicher Vertrautheit mit ihren Brotherren oder Mitgliedern der herrschenden Klasse versammelt fanden. Helene, die in diesem Augenblick aus dem Krankenzimmer kommend eintrat, spürte das Getrenntsein dieser beiden Gruppen stärker, als sie es je zuvor gespürt oder bemerkt hatte, sie empfand es so körperlich heftig, als wären diese Gruppen mit einem Messer auseinandergetrennt worden. Es muß zugegeben werden, daß ihr erstes Bestreben nun ein menschlich unwürdiges war, nämlich ein instinktiver Wunsch, sich zu der Gruppe der »Wichtigen« zu gesellen, sich mit jenen »Einflußreichen« zu unterhalten, die für sie eine »höhere« Stufe der Gesellschaft darstellten.
Sie wurde sich dessen bewußt, als sie auf die Gruppe der reicheren und angesehenen Bürger zusteuerte und von der Gruppe der Handwerker, die ihres Vaters beste Freunde gewesen waren, hinweg. Als sie aber das ziegelrote Gesicht des Alec Ramsay und die mächtige Gestalt des Mike Fogarty sah, dachte sie, halb ungläubig vor eine plötzliche Offenbarung des wahren Sachverhalts gestellt: »Wie? Wie? Wie? Ja, diese Männer sind doch seine nächsten Freunde! Nicht reiche Leute wie Onkel Will oder Onkel James oder selbst Mr. Sluder. Sondern Männer wie Mike Fogarty und Jannadeau und Mr. Duncan und Alec Ramsay, Ernest Pegram und Vetter Ollie ... aber ... aber ... Guter Himmel, nein! ...«, wehrte sie sich verzweifelt, »... das sind doch sicher nicht seine nächsten Freunde! Wie? Wie? Natürlich sind das anständige, ehrliche Männer, gewiß ... aber schließlich sind sie doch bloß gewöhnliche Leute ... ich habe sie immer bloß für Handwerker und Arbeiter gehalten ... und ... und ... und ... mein Gott!« Jenes furchtbare Gefühl der Selbstentdeckung überkam sie, das uns immer überkommt, wenn wir uns jählings so sehn, wie andere uns sehen müssen. »Mein Gott!! Sollten am Ende die Leute in der Stadt dasselbe von Papa denken? Sollten sie ihn am Ende immer bloß für einen gewöhnlichen Handwerksmann gehalten haben? O nein! Natürlich nicht!« Sie versuchte ungeduldig, den lästigen Gedanken loszuwerden. »Papa ist doch kein Handwerker! Papa ist ein Geschäftsmann, ein in der Stadt wohlangesehener Geschäftsmann. Papa hat immer zu den Eigentümern gehört, er hat immer seine eigne Werkstatt gehabt ...« Der Begriff Werkstatt mißfiel ihr, sie ersetzte ihn eilig durch Firma. »... er hat immer seine eigne Firma gehabt, droben auf dem Stadtplatz ... und ... und ... er hat doch immer Mieter gehabt und ist der Vermieter gewesen ... er ist ... er ist ... aber natürlich! Papa ist einfach ein anderer als Ernest Pegram und Ollie, oder Jannadeau und Alec Ramsay ... ei, sie sind einfache Handwerker, sie schaffen mit den Händen ... Ollie ist ein gewöhnlicher Gipser und Stuckarbeiter ... und ... und ... Mrs. Ramsay ist weiter nichts als ein Steinmetz.«
Und eine kleine, eindringliche Stimme in ihr fragte nun ganz, ganz leise: »Und dein Vater?«
Und plötzlich dachte Helene an Gants große Hände der Stärke und Kraft, und sie dachte daran, wie diese Hände neben ihm ruhig auf dem Bett lagen, wie sie lebten und nicht sterben konnten, obgleich alles andere an Gant schon dem Tod anheimgefallen war, und sie dachte an die tausend Nachmittage, an denen sie den Vater in der Werkstatt besucht, an denen sie ihn, den Steinmetzen im langen gestreiften Schurz, bei der Arbeit betroffen hatte, über den Steinblock auf dem Holzbock gebeugt, behutsam Buchstaben ausmeißelnd, den schweren hölzernen Hammer und den Meißel in den großen Händen, und bei dieser Erinnerung kam reich und dicht die ganze lebendige Vergangenheit in ihr Bewußtsein, und ihr ward froh und zärtlich und schrecklich zumute, und mit dieser Wallung kehrte die stolze und bittre Ehrlichkeit in sie zurück. Sie dachte: »Ja, er war ein Steinmetz, er war kein andrer als diese Männer da, und diese Männer waren seine wirklichen Freunde.«
Sie ging stracks auf den alten Ramsay zu, sie griff nach seinen dicken, stupsigen Fingern, deren Nägel immer an den Rändern ein wenig weiß vom Steinstaub waren, und sie begrüßte ihn in ihrer großen, ausschweifenden Art: »Mr. Ramsay«, sagte sie, »ich möchte gern, daß Sie wissen, wie froh wir darüber sind, daß Sie kommen konnten. Und das gilt für Sie alle, – Mr. Jannadeau und Mr. Duncan, Mr. Fogarty und für Dich, Ernest, und auch für dich, Ollie – Sie sind die besten Freunde, die Papa hat, an Sie denkt er am meisten, und es gibt keinen Besuch, der ihm lieber ist.«
Mr. Ramsays ziegelrotes Gesicht und ziegelroter Nacken wurden noch röter, ehe er antwortete, und die blauen Strahlaugen hinter seinen angegrauten Brauen wurden plötzlich rauchblau. Er fuhr sich mit der stumpfen Hand an den Schnurrbart und zupfte ihn, und dann sagte er in einer rauhen, ruhigen, sachlichen Stimme:
»Ich glaub' schon, daß wir den Will so gut kennen wie sonst jemand, Miß Helene. Ich habe mit Unterbrechungen dreißig Jahre lang für ihn gearbeitet.«
Im gleichen Augenblick hörte Helene Ollie Gants behäbigtiefes Lachen, sah sie ihn, wie er langsam mit seiner groben Pfote die Zigarette zum Munde führte. Sie sah Jannadeaus großes gelbes Gesicht mit der massiven, gewölbten Stirn, und sie hörte, wie er mit freundlichen Kehllauten in der Stimme erklärte: »Ah! Ich sag' Dir, das Mädchen hat immer schön nach ihrem Vater geguckt, war die einzige, die ihn behandeln konnte, schon als sie erst zwölf war.« Und sie wurde sich überwältigend bewußt der Gegenwart eines Bergs von einem Menschen, der neben ihr stand, des Mike Fogarty mit den klarblauen, herrlichen Augen, und sie hörte die fast schnurrende Musik seiner Stimme, als er ihr einen Augenblick die große Pranke auf die Schulter legte und sprach: »Ah, Miß Helene, ich weiß nit, wie's der Will alle diese Jahre geschafft hätt' ohne Sie! Das hat er mir selber tausendmal gesagt, ei ja, das hat er tausendmal gesagt.«
Als sie die Worte gehört hatte und die starke Ruhe, die von diesen mächtigen Männern ausging, spürte, war es Helenen augenblicklich so zumute, als hätte sie irgendwie eine zaubrische Welt wiederbetreten, die sie auf immer verloren geglaubt hatte. Es wurde ihr ungemein wohl und zufrieden ums Herz. Und im gleichen Augenblick entdeckte sie zu ihrer Verwunderung eine erstaunliche Tatsache, die ihr bisher immer entgangen war, obschon sie deren tausendmal hätte gewahr werden können: – es war dies die Tatsache, daß von allen Leuten, die Gant nahe kannten und ihm ehrlich und tief zugetan waren, ihn nur zwei – nämlich Mr. Fogarty und Mr. Ramsay – beim Vornamen nannten. Und soweit sie sich nun entsinnen konnte, war Gant (abgesehen von seiner Mutter, seiner Schwester Auguste, seinen Brüdern und ein paar Jugendbekannten aus seiner Heimat in Pennsylvanien) nie von sonst jemandem beim Vornamen genannt worden außer von diesen beiden Männern. Diese plötzliche Erkenntnis warf ein eigenes und beunruhigendes Licht auf die große, hagere Gestalt des Steinmetzen, und Helene war mächtig bewegt von einer Rührung, die sie nie zuvor für ihren Vater empfunden hatte. Und am sonderbarsten erschien ihr nun die Verschiedenheit der Namen, mit der diese verschiedenen Leute ihren Vater anredeten.
Für Eliza zum Beispiel war der Gatte immer »Mr. Gant« geblieben. Hätte sie ihn je vor ihren Kindern anders genannt, dann hätten es die Kinder als eine kaum zu ertragende Schande und Unziemlichkeit empfunden, aber in der Tat war es undenkbar, daß sie sich so vergessen hätte, denn Eliza hätte eher homerisches Griechisch reden als Gant beim Vornamen nennen können, und hätte sie es versucht, dann hätten es ihre Zungenmuskeln unmöglich gefunden, das Wort auszusprechen. Und diese Tatsache wirkte irgendwie, besonders nun, da Gant im Sterben lag, ungeheuer pathetisch. Sie verlieh Elizas Leben mit ihm eine mitleidig-rührende Würde, war gewissermaßen eine Abgeltung für die Last der Schmähungen und all das Unrecht, das ihrem stolzen und verwundeten Wesen von Gant angetan worden war. Sie war vierundzwanzig gewesen, als sie ihn traf, eine junge Frau vom Lande in aller Unschuld und Unwissenheit vom Leben; sie hatte nichts von der Grausamkeit, der Gewalttätigkeit, der Trunksucht und der Rohheit gewußt, deren Männer fähig sind; sie hatte diesem Mann fünfzehn Kinder zur Welt gebracht, von denen acht lebten oder gelebt hatten; sie hatte vierzig Jahre lang das Brot aus Blut und Tränen und Freud und Gram und Entsetzen gegessen; sie hatte sich nach Zuneigung gesehnt und war gescholten, geschmäht und verächtlich behandelt worden, und irgendwie hatte es ihr stolzes und verwundetes Wesen unter Seelenqualen, aber mit unerschütterlicher Festigkeit vermocht, all das Unrecht und all die Grausamkeit zu ertragen, deren er ihr gegenüber sich schuldig gemacht hatte. Und nun, da Gants Ende nahe war, bestand diese mitleidig-rührende Auszeichnung für ihren Stolz, und ihr Wesen hatte unversehrt seine volle Echtheit bewahrt: – sie hatte ihre verwundete Seele nie einer schändlichen Vertraulichkeit preisgegeben, und ihr Gatte war für sie – im Herzen, im Gemüt und im lebendigen Wort – immer der geblieben, der er gewesen war, als sie ihn zum erstenmal traf; der Urheber ihres Kummers und ihres Elends, der Mensch, der ihr ständig Leid antat, der hagere und einsame Fremdling, der von fremden Leuten und aus fremdem Lande her in ihre Berge gekommen war, dieser von der Lebenswut besessene, ausgehagerte, einsame Fremdling, mit dem ihr Geschick unlösbar verknüpft worden war, ja, jenseits von Haß oder Liebe oder Geburt oder Tod oder Irrtum oder menschlicher Wirrsal durch eine unabänderliche Fügung verknüpft, und mit dem sie gelebt hatte, Gattin, Mutter und eine Fremde für ihn, der bis zu seinem Ende ein Fremdling für sie blieb, eben »Mr. Gant«.
Woher das kam? Welcher Art das seltsame und bittre Geheimnis war, das Gant fast allen Menschen zu einem Fremdling gemacht hatte, vor allem aber und am meisten zu einem Fremdling für seine eigne Frau? Eine Teilantwort läßt sich vielleicht in den eignen, unbewußten Worten Elizas finden, in denen sie beschrieb, wie Gant bei ihrer ersten Begegnung vor vierzig Jahren auf sie wirkte.
»Es war nicht eigentlich, daß er alt war«, erklärte sie. »Er war erst dreiunddreißig. Aber er sah alt aus, seine Art war alt, er hatte soviel unter alten Leuten gelebt. Pah!« machte sie und schürzte die Lippe, »wenn mir damals jemand gesagt hätte ... ich meine an jenem ersten Abend, als er da mit Lydia und der alten Mrs. Mason vor mir saß ... es war derselbe Tag, an dem sie in das Haus eingezogen waren, der Abend, an dem er noch das große Dinner gab ... Lydia war damals noch am Leben, freilich, sie war zehn Jahre älter als er, das mag auch dazu beigetragen haben ... also, ich sah ihn mir so an, als er dasaß, und freilich, er war müd und abgeschafft und trübselig und versorgt über all das, was er durchgemacht hatte, ehe er hierher kam, in Sidney, wo er alles verloren hatte, und er wußte auch, daß es mit Lydia zu Ende ging, und das verstörte ihn wohl ... also, alt sah er aus, dürr wie ein Stecken und fahl und abgearbeitet, und er hatte diese alte Art, die er, wie ich vermute, im Verkehr mit Lydia und mit der alten Mrs. Mason und solchen Leuten angenommen hatte, und ich saß da und sah ihn mir so an, wie er mit ihnen zusammensaß, und da sagte ich zu mir: ›Nun, das ist ein alter Mann, ganz bestimmt!‹ ... Pah! Wenn mir damals jemand gesagt hätte, daß ich eines Tags mit diesem Mann verheiratet sein würde, ei, ich hätte ihn einfach ausgelacht, denn ich hätte das Gefühl gehabt, ich würde dann einen alten Mann heiraten ... und genau das ist es auch gewesen, was eine Menge Leute dachten, als es später bekannt wurde, daß ich ihn heiraten würde ... es denkt mir noch, wie Martha Patton zu mir gelaufen kam, ganz aufgeregt und außer Atem, und zu mir sagte: ›Eliza! Du wirst doch nicht diesen alten Mann heiraten wollen?! Doch ganz sicher nicht!‹ ... und so war es also, seine Art war so alt, er sah alt aus, zog sich an wie ein alter Mann, benahm sich wie ein alter Mann, alles, was er überhaupt tat, war alt, es war wirklich immer, schien es, etwas Fremdes und Altartiges an ihm, so, als wäre er so geboren worden ...«
So also war es gewesen, als Eliza ihn zum erstenmal traf und betrachtete; der »Mr. Gant«, ein ungeheuer langer, hagerer, leichenhaft aussehender Mann mit einem traurig-ernsten, sorgenvollen Gesicht, dürr, mit herabhängendem Schnurrbart, rotbraunem Haar und kaltgrauen, starrenden Augen, war zwar gar nicht so alt gewesen, erst dreiunddreißig, aber, wie sie sich ausdrückte: »er sah alt aus, benahm sich alt, seine Art war alt, und man hielt ihn für einen alten Mann.« Und dies denn war ein Bild des »Mr. Gant« in seinem dreiunddreißigsten Lebensjahr, und obschon sich seitdem seine Vermögensverhältnisse und seine Position im Leben geändert hatten, so hatte dies seine Art kaum verwandelt.
Und nun plötzlich, als sie so den Handwerkerfreunden ihres Vaters gegenüberstand, Männern, die ihn gekannt, gern gemocht und geachtet hatten, wußte Helene den Grund für Gants Einsamkeit, verstand sie, warum so wenig Leute, am wenigsten aber Eliza, es je gewagt hatten, ihn beim Vornamen zu nennen. Mit einer jähen Eindringlichkeit, die den Sachverhalt enthüllte, fielen ihr ein paar Worte ein, die sie Gant hatte tausendmal murmeln hören, wenn er von seiner Kindheit sprach. »Wir hatten es sehr schwer, wirklich, das kann ich Dir sagen«, hatte er erklärt, und nun verstand Helene zum erstenmal, was diese Worte bedeuteten. Und plötzlich, mit demselben namenlosen und schnellen Mitleid, erinnerte sie sich an alle Bilder aus Gants Jugendjahren, die sie kannte. Es gab deren ein halbes Dutzend in dem großen Familienalbum unter den Bildern der Pentlands und Gants, kleine, fünfzig Jahre alte Daguerreotypien unter Glas in schmalen, verblaßten Plüschfassungen und mit jenem blaßrosa Hauch getönt, mit dem die Lichtbildner damals die gelbliche Blässe ihrer Arbeiten übermalten. Das älteste dieser Bilder zeigte Gant als kleinen Buben, das nächste als einen Jungen von zwölf, wie er neben seinem Bruder Wesley stand, der steif, mit einem hölzernen Lächeln auf einem Stuhl saß. Das nächste dann war ein Bild Gants aus seinen Lehrjahren in Baltimore: neben einer Marmorvase stand der junge Steinmetz, die Füße gekreuzt und sich elegant an eine Steinplatte lehnend; und das nächste zeigte ihn in seinen ersten Mannesjahren vor seiner kleinen Werkstatt in Sidney. Und schließlich war da ein Bild von Gant aus der Zeit kurz nach seiner Heirat mit Eliza: der Mann mit dem hageren Gesicht und dem dünnen, herabhängenden Schnurrbart stand vor seiner Werkstatt auf dem Altamonter Stadtplatz neben seinem damaligen Geschäftspartner Will Pentland.
Auf allen diesen Bildern, vom ersten bis zum letzten, vom kleinen Buben bis zum Mann mit dem herabhängenden Schnurrbart, hatte der Dargestellte immer denselben Ausdruck: das schmale, scharfzügige Gesicht war ernst und kummervoll, die seichten kaltgrauen Augen starrten kalt und traurig aus dem knochigen Schädelgehäus, und der Gesamteindruck war der einer trübseligen Einsamkeit. Und zwar war es nicht die Einsamkeit des Träumers, des Dichters oder des verkannten Sehers, sondern einfach die kalte und furchtbare Einsamkeit des Menschen schlechthin, jedes Menschen und des verlorenen Amerikaners, der unter ungeheuren und einsamen Himmeln nackt zur Welt gekommen ist, sich selber durchbringen und blindtappend seinen Weg gehen muß durch die gleichviel nackte Unsicherheit und durch das wirrsälig-rohe, chaotische Dasein, blindhin über den Kontinent wandernd, immerdar einem Ziel nachjagend, einem Wall, einer warmen und gefriedeten Wohnstatt, einem Licht, einer Tür.
Und aus diesem Grund verstand nun Helene etwas von ihrem Vater, verstand sie etwas an der großen, hageren Steinmetzengestalt, was sie nie zuvor verstanden oder auch nur bedacht hatte. Sie verstand nun auf einmal seine Ordentlichkeit, seinen Sinn für das Ziemliche und Anständige bei allen Erledigungen; sie verstand seine Liebe zur Reinlichkeit, seine Liebe für die Üppigkeit und Fülle des Lebens und seine schornsteinerschütternden Feuer, seine widerliche Trunksucht, seine Gewalttätigkeit und sein wütiges Geheul, seine nackte Scham und seine bebende Reumut, seine schweren, dicken, monumentalen, stets gut gebügelten Tuchanzüge, seine sauberen, gestärkten Hemden mit den flügeleckigen Kragen, seine Liebe für Hotels, Schiffe, Eisenbahnzüge, für Gärten, für Neuland, Städte und weite Reisen. Sie wußte plötzlich, daß Gant anders war als irgendein Mann, der je gelebt hatte, und daß jeder Mann, der je gelebt hatte, ihm glich. Und des kalten, trauervolles Blicks seiner seichten, harten, starrenden, kaltgrauen Augen eingedenk, verstand sie plötzlich, warum diese Augen so blickten, wußte sie es besser als je zuvor, und sie verstand nun auch, warum so wenige Menschen ihn je beim Vornamen genannt hatten, warum er für alle Welt »Mr. Gant« war.
Seit sie bei den Handwerkerfreunden ihres Vaters stand, hatte Helene jenen mächtigen Trost verspürt und jene körperliche Wohligkeit, mit denen sie die Nähe solcher Männer stets erfüllte. Sie wußte nicht warum, aber im gleichen Augenblick, als sie Mr. Ramsays Hand ergriffen, Mike Fogartys Hünengestalt und dessen blaue Augen angesehen und ihres Vetters Ollie Gant tiefes, träges Lachen gehört hatte, war sie sich eines so ungemeinen Gesichert- und Entlastetseins bewußt geworden, wie sie es seit Jahren nicht empfunden hatte, und da sie ein Mensch von starkem, sinnlichem Wahrnehmungsvermögen war, wurde sie buchstäblich, körperlich und seelisch und mit erstaunlicher Heftigkeit von diesen Empfindungen bewegt. Nicht nur, daß sie sich ungeheuer erleichtert vorkam und sich freute, mit diesen Handwerkern zusammen zu stehen, es machte sie auch nun alles glücklich und froh, was diese Männer taten. Die Art, wie Ollie mit seiner groben Gipserhand die Zigarette zum Mund führte, tiefe Lungenzüge rauchte und dann beim Sprechen den Rauch genüßlich schmachtend aus der Nase kräuseln ließ, wie er gutmütig, tief und träge-gelassen lachte, ... die Art, wie Mr. Duncan die starke, billige Zigarre zwischen den dicken, trocknen Fingern geklemmt hielt, und wie er an ihr paffte, ... die Art, wie Alec Ramsay mit dem ziegelroten Gesicht den Kautabakbatzen im Munde fast unmerklich hin und her schob, so daß sich ein merklicher Klumpen auf seiner Wange herausmodellierte, ... alle diese Dinge, obschon sie doch einfach männlich sind, schienen Helenen nun wunderbar und frisch und lebendig zu sein, und ihr war zumute, als wäre ihr die ganze schlichte, unbezahlbare Herrlichkeit der Erde wieder geschenkt worden.
Später am Abend dann stand sie mit all diesen Männern, den Freunden ihres Vaters, in dessen Zimmer. Die großartige, blutvolle Lebensmächtigkeit der Freunde erfüllte das Zimmer, während Gant wächsern, blutlos und ohne sich zu regen dalag und sie mit einem matten Grinsen um die Mundwinkel anlächelte. Und Helene hörte die tiefen, volltönigen Stimmen dieser Männer, hörte Mike Fogartys schwingig-singiges Irisch, hörte Mr. Duncans dumpfkehlig-rachenrauhes Schottisch, hörte Ollies tiefes, träges, Lachen, hörte Alec Ramsays tiefen, barschen, sachlichen Ton, als er von alten Zeiten erzählte und sprach: »Guter Gott, Will, wenn Du am schlimmsten warst, konntest Du's immer noch nicht mit dem Wes aufnehmen! Heiliges Entsetzen war's, was der anstellte, wenn er besoffen war! Erinnerst Du Dich noch an den Tag, an dem er mit der Faust durch die dicke Fensterscheibe an Deiner Werkstatt fuhr, grad dem Jannadeau ins Gesicht? Und wie er dann heimging und die ganzen Wasserleitungsröhren aus dem Haus riß und die volle Badewanne aus dem Fenster im zweiten Stock 'runter auf die Orchard Street leerte? Wirklich, Will, mit dem Wes konntest Du's nicht aufnehmen.« Und Helene sah Gants dünnes Grinsen, hörte sein leises, rostiges Lachen und sein fast unhörbares: »Bei Gott, der arme Wes!« Und da konnte sie einfach nicht glauben, daß Gant wirklich im Sterben läge; die großen, vollblütigen Männer füllten das Zimmer mit der unerträglich nahen und vertrauten Daseinsmacht, die nun wieder alles reich und lebendig beströmte, und Helene dachte mit einem wunderbar glückseligen Gefühl des Unglaubens: »Oh, der Papa stirbt nicht! Es ist ja nicht möglich. Er kann nicht sterben! Er kann nicht sterben!«