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Während dieses ganzen Oktobers – des letzten, den er zu Haus verbringen sollte – wartete Eugen Tag für Tag mit der Verzweiflung eines wilden Hoffens auf einen magischen Brief ... auf einen jener magischen Briefe, auf die junge Menschen zu hoffen pflegen, weil sie glauben, so ein Brief brächte das Glück, den Ruhm und die Herrlichkeit, nach denen ihre Herzen hungern und ihre Seelen dürsten; und solcherlei magische Briefe kommen nie.
Wenn er morgens aufstand, pochte ihm das Herz, die Hände zitterten und die Lippen bebten ihm, und dann wartete er, fiebrig, wie ein Gefangener in der Zelle auf die Begnadigungsbotschaft wartet, auf den Briefträger. Wenn der Briefträger dann kam, wenn er auch nur erst in der Nachbarschaft war, wenn Eugen bloß die Pfeife schrillen hörte, rannte er hinaus auf die Straße, riß dem Erstaunten den Stoß Post aus der Hand und durchfingerte ihn sofort nach dem Brief, der ihm die Verkündigung von Ruhm, Glück und strahlendem Erfolg brächte. Eugen war dreiundzwanzig Jahre alt, ein Verrückter und ein Narr, aber es gibt niemanden auf der Welt, der nicht einst ebenso verrückt und närrisch gewesen ist.
Dann, wenn sich herausstellte, daß der wunderbare Brief nicht dabei war, wurde ihm das Herz schwer wie ein Bleiklumpen, und alle Goldhelle und aller Gesang schienen aus der Welt entwichen zu sein. Er stapfte vor sich hin murmelnd zurück ins Haus; er war krank vor Elend und Verzweiflung und dachte, das Leben habe nun bestimmt keinen Sinn mehr für ihn. Er konnte nicht essen, nicht schlafen, sich nicht hinsetzen und sich ausruhen, er konnte nicht zusammenhängend reden, war außerstand, seine Aufmerksamkeit fünf Minuten lang auf eine Sache zu sammeln. Er schlich stöbernd und murrend im Haus herum; er ging ins Städtchen, lief die Hauptstraße auf und ab und blieb vor der großen Drogerie stehen, wo er sich mit den Bummlern unterhielt; er stieg auf die ringsum gelegenen Hügel und Berge und blickte ungläubig entsetzt auf das Städtchen herab. Das Städtchen hatte in den Jahren seiner Abwesenheit eine schrecklich-traumhafte Unwirklichkeit für ihn bekommen; das Städtchen und alle seine Einwohner schienen ihm nun vertraut wie seiner Mutter Angesicht und fremder als ein Traum; er hatte ein Gefühl, als könne diese Welt nie das pralle Leben und das gefüllte körperliche Dasein wiedergewinnen; es ging ihm ganz so, wie es einem Menschen geht, der seine Jugend im Traum wieder erlebt, und so schien ihm auch das Städtchen klein geworden, verschrumpft, zerbrechlich und spielzeughaft, und oft, wenn er durch eine Straße ging, war ihm, als seien die Häuserwände aus Papier, und er könne sie mit dem Ellenbogen durchstoßen, als seien die Gebäude aus Stroh gemacht, und er könne sie einreißen.
War er dann von einem solchen Gang in die Stadt nach Haus zurückgekehrt, dann schlich er dort wieder stöbernd und murrend umher, und das Haus hatte die gleiche unwirklich-wirkliche Vertraut- und Fremdheit, die die Stadt für ihn hatte, und er schien sein Leben in ihm wie in einem Traum verbracht zu haben. Dann fing er an, pochenden Herzens und fiebernder Hoffnung auf die nächste Post zu warten, und wenn die Post dann dagewesen war, freilich ohne den ersehnten Brief zu bringen, dann begannen das Umherschleichen und die wütige Getriebenheit wieder von vorn. Seine Angehörigen erkannten seine Verrücktheit im Licht seines Blicks, in seinen unbezogenen Bewegungen, in seiner zusammenhanglosen Sprechweise. Er hörte, wie sie zusammen flüsterten, und manchmal, wenn er aufsah, ertappte er sie dabei, daß sie ihn mit besorgten und bestürzten Mienen anblickten. Er aber war sich seiner Verrücktheit nicht im geringsten bewußt und vermochte nicht, sich vorzustellen, wie er ihnen erschien.
Während dieser ganzen verrückten und verzweifelten Zeit waren seine Angehörigen so gütig und duldsam gegen ihn, wie es Menschen nur sein können, und besonders war es seine Mutter, die, dem Gesetz ihrer ewig hoffnungsvollen, mächtig brütenden und vielversponnenen Art folgend, ihn mit Güte und Duldsamkeit behandelte, die lippenschürzend, saumselig zaudernd mit ihrer verworrenen, aber den Faden immer wieder aufgreifenden Nachdenklichkeit sich mit seinen Hoffnungen beschäftigte und sogar selber eine Art von Hoffnung für ihn aufbrachte, obschon sie auf dem Grund ihres Herzens nicht glaubte, daß Eugen gerade auf dem Gebiet, auf dem er etwas zu leisten gedachte, Erfolg haben könne.
Manchmal sprach er ihr von seinen Plänen, er verstieg sich von einer kühnen Hoffnung zur andern, seine Begeisterung riß ihn mit, und er malte ihr, trunken von Visionen, ein Bild des Ruhms und des Wohlstands und des Glanzes, in dem er sicherlich wohnen könne, sobald nur sein Stück aufgeführt werde. Und seine Mutter hörte ihn gedankenvoll an, schürzte von Zeit zu Zeit erwägend die Lippen und erklärte schließlich mit einem stolzen, bebenden und dennoch scherzhaften Lächeln, so, als hätte ihr gerade ein Kind seine verwegensten Zukunftsträume anvertraut:
»Hm, Junge! Ich will Dir was sagen. Das sind große Reden, die Du da führst. Wirklich, wie man so sagt, große Reden für so kleine Leute ...« Ihr Ton war ein wenig neckisch; sie saß vorm Feuer, die Hände lose vor dem Leib verschränkt, und nun legte sie einen Finger an den Flügel der breitangesetzten, roten Nase, lachte schlau-vergnügt vor sich hin, schwieg eine Weile und sprach dann wieder in einem nachdenklich-hoffnungsvollen Ton: »Nun ja, möglich ist es schon, daß Du's fertigbringst. Es sind schon tollere Dinge auf der Welt wahr geworden. Und andre Leute haben ja auch Erfolg mit ihrer Schriftstellerei gehabt, das ist unbestreitbar wahr.« Sie war überzeugt; sie machte mit ihrer altmächtigen, losen, männischen Hand, den Zeigefinger ausstreckend, eine Gebärde, die für ihre ganze Familie charakteristisch war. »Das ist doch unbestreitbar wahr!« rief sie. »Und was ein Mensch fertiggebracht hat, das vermag dann auch ein andrer fertigzubringen, wenn er den Mut und die Entschlossenheit dazu hat.« Sie hatte den ganzen Nachdruck ihres beträchtlichen Lebenswillens in diese Worte gelegt. Nun schwieg sie wieder, und dann fing sie an, bedächtig Erinnerungen auszukramen. »Ei ja, ei ja«, sagte sie, »habe ich erst neulich nicht so was gelesen? Ja, erst vor ein paar Tagen war es ... auch von so einem großen Schriftsteller ... ja, von Irvin S. Cobb war es ... ja, der war es ...« Sie schürzte andächtig die Lippe. »Also da stand, daß auch er, genauso wie alle andern Menschen, zuerst seine liebe Müh und Not gehabt hätte ... ei ja, der Artikel war von ihm selber geschrieben ... er gab es unumwunden zu und erzählte, daß er jahrelang Geschichten schrieb und sie an alle möglichen Leute, an Schriftleiter und Verleger, schickte, und daß das Zeug immer wieder zurückkam. So standen die Dinge anfangs für ihn, und nun? Guck Dir ihn an! Er kriegt sicher hundert Dollar für eine kleine Geschichte, und dann sind die Leute noch froh, wenn er sie ihnen zum Abdruck gibt.«
Sie saß eine Zeitlang da und starrte ins Feuer; sie schürzte langsam und versonnen die Lippen, die Nachdenklichkeit wanderte wie ein vielarmiger Polyp durch ihr Wesen. Als sie schließlich wieder sprach, sprach sie langsam und erklärte: »Also, es mag sein, daß Du's fertigbringst. Und ich hoffe, es glückt Dir. Es sind schon tollere Dinge auf der Welt wahr geworden. Und eine Sache ist sicher«, meinte sie mit Nachdruck, »nämlich, daß Du eine gute Bildung gehabt hast. Deine Schule und die Universitäten haben mehr gekostet, als für uns andere alle zusammen an Schulgeld ausgegeben worden ist, und da solltest Du sicher genug wissen und gelernt haben, um eine Geschichte oder ein Theaterstück schreiben zu können. Ei gewiß, ja, Junge, ich will Dir was sagen«, sagte sie wieder in dem alten, scherzhaft verspielten Ton, so, als spräche sie zu einem Kind, »wenn ich Deine Bildung genossen hätte, dann hätte ich gute Lust, mich auch einmal als Schriftstellerin zu versuchen. Ei gewiß! Ich würde recht gern mal die Plackerei hier im Haus aufgeben und mir mein Brot auf eine leichte und bequeme Art verdienen, darauf kannst Du Deinen letzten Dollar wetten! Aber sag mal!« rief sie mit gespieltem Ernst, »ich hab' da einen guten Gedanken!« Sie zwinkerte ihn an. »Wie war denn das, wenn wir es so machten, daß ich Dir die Geschichten erzähle und Du schreibst sie? Ei, das machen wir! Wenn ich Deine Bildung genossen hätte und die Sprache so beherrschte wie Du«, erklärte sie, die die Sprache in einer Weise beherrschte, die aller Welt wünschenswert wäre, »ei, dann könnt' ich, glaub' ich, eine wirklich hübsche Geschichte schreiben ... und wenn wir zwei uns zusammentun«, sie zwinkerte ihn abermals an, »dann wette ich drauf, ja, dann wette ich drauf, daß wir eine Geschichte hinbringen, die das Zeug, was ich in der Zeitung lese, weitaus übertrifft.« Sie schürzte fest und unbesiegbar überzeugt die Lippen. »Und ich wette drauf, daß die Leute diese Geschichte kaufen würden und ins Theater gingen, um sich das Stück anzusehn. Ich weiß nämlich, was man den Leuten vorsetzen muß, und was sie gerne hören möchten.«
Einen Augenblick schwieg sie still und starrte gedankenvoll ins Feuer. Dann sagte sie wieder langsam: »Also, es mag sein, daß Du's fertigbringst. Und daß Du's fertigbringst, das ist bestimmt möglich.« Sie zückte den mächtigen Zeigefinger gegen ihn. »Und nun, Junge, möchte ich Dir noch was sagen. Dein Großvater Tom Pentland war ein bemerkenswerter Mann, und wenn er Deine Bildung genossen hätte, dann hätte er's weit gebracht. Jeder Mensch, der ihn gekannt hat, hat das von ihm gesagt ... Oh, Geschichten und Gedichte und Artikel hatte er manchmal in der Zeitung, mich wundert einfach, warum die Leute nicht jede Woche etwas von ihm gebracht haben. Und er ist es natürlich, von dem Du diese Begabung hast ... Aber sag mal«, fuhr sie nach einer kurzen Pause in einem überzeugenwollenden Ton fort, »... ich hab' mir die Sache hin und her überlegt, und da fiel es mir gerade so bei, ob es vielleicht nicht ein guter Gedanke wäre, wenn Du Dir irgendeine Arbeit suchtest, ich meine eine leichte und bequeme Arbeit, die Dir genügend Zeit läßt, nebenher in aller Ruhe Deine Schriftstellerei zu betreiben. Du weißt ja, Rom ist nicht in einem Tag gebaut worden, und es mag sein, daß Du Dein Stück erst an verschiedene Theater schicken mußt, bis sich der Mann findet, der es so aufführt, wie Du es wünschst. Und da wär es doch nun gar kein schlechter Gedanke, wenn Du Dir einstweilen etwas zu tun suchtest, ein bißchen leichte Arbeit an einer Zeitung zum Beispiel, oder eine Lehrerstelle irgendwo ... pah! so etwas würde Dir doch kinderleicht fallen! Ich selber hab' ja auch Schule gehalten, ehe ich Deinen Papa heiratete, und ich hab' da überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt, obschon ich überhaupt keine Ausbildung genossen hatte. Pah! Alle Schulbildung, die ich empfangen habe, war ein halbes Jahr Unterricht in einer kleinen, hinterwäldlerischen Schule! Und nun, das ist doch klar, wenn ich es gekonnt habe, dann könntest Du es mit Deiner Bildung doch erst recht! Das also war eine Sache. Und an Deiner Stelle würde ich da mal sofort zusehen.«
Eugen sagte nichts. Seine Mutter sah eine Weile ins Feuer. Plötzlich wandte sie ihm ihr Gesicht zu, ihre Miene war besorgt und kummervoll, und Tränen standen ihr in den altersschwachen Augen. Sie streckte den Arm aus und legte ihre starke, rauhe Hand auf seine.
»Kind! Kind!« sagte sie und schüttelte leicht den Kopf. »Ich mache mir solche Gedanken um Dich! Es ist mir entsetzlich, sehn zu müssen, daß Du so unglücklich bist! Ei, was willst Du denn machen, wenn es den Leuten gar einfällt, Dein Stück nicht anzunehmen? Du hast doch ein ganzes Leben vor Dir, und wenn es Dir jetzt nicht gelingt, dann kann es doch sein, daß Du später im Leben mit Deinen Sachen Erfolg hast. Und wenn es Dir überhaupt nicht gelingen sollte, ei, um Gotteswillen, Junge, was liegt denn daran? Du bist ein junger Mann und hast Dein ganzes Leben vor Dir, und wenn Du Dich auf diesem Gebiet nicht durchsetzen kannst, dann gibt es doch genug andre Dinge auf der Welt für Dich zu tun! ... Dein Leben ist doch nicht am Ende, weil Du vielleicht herausfindest, daß Du nicht dafür geschaffen bist, Theaterstücke zu schreiben! Es gibt doch tausend Berufe, die ein junger Mann wie Du ergreifen kann. Ei gewiß, ich würde mich das nicht verdrießen lassen! Nicht einen Augenblick!« rief sie.
Und so saßen sie einander gegenüber, sie, unbesiegbar in ihrer Kraft, ihrem Hoffen, ihrer Festigkeit, mit ihrem Willen, der stärker als der Tod, und ihrer Stete, die gediegen wie ein Fels war, und er, an Hoffnungen ärmer und elender als je im Leben. Er wollte ihr tausend Dinge sagen und sagte sie nicht; er las in ihren Augen, daß sie nicht glaubte, er könne je das leisten, was er so verzweifelten Herzens zu leisten begehrte.
Die Tür ging auf, Lukas trat ein, und Eugen und seine Mutter sahen ihn erstaunt an. Lukas stand da und blickte die Mutter und den Bruder an mit seinen rastlos-verquälten, grauen Augen. Ein Ausdruck der Geplagtheit lag auf seinem schönen, großmütigen Gesicht, und sein nervös heftiges, unbeholfenes Atmen war ständig hörbar. Er fuhr sich mit den stupsigen, zappeligen Fingern zerstreut durch das dichte, hellbraune Schimmerhaar, das ihm in unglaublichen Strudeln und Schraubengewinden engelhaft leuchtender Locken um den ganzen Kopf hing.
»Hah? Was hast Du gesagt?« fragte die Mutter schnell, obschon Lukas überhaupt noch kein Wort gesagt hatte. Sie wandte ihm vogelhaft hurtig ihr weißes Gesicht zu, in das ein Ausdruck aufmerksamer Sammlung gekommen war.
»W-w-wie?!« begann Lukas zerstreut, fuhr sich mit der großen, ungeduldigen Hand wieder durch das unglaublich leuchtende Haar und blickte mit dem flackernden Blick eines Gehetzten abwesend umher. »Ich da-da-dachte grade«, erklärte er wirr, wollte fortfahren, aber plötzlich fiel sein Blick auf das weiße, bestürzte Gesicht seiner Mutter. Er schlug sich heftig mit dem Daumenballen gegen die Schläfe und schrie: »Wah!« in einem Ton von so blödsinnig überschwenglichem Jubel, daß es unmöglich ist, mit Worten die grenzenlose und erdhafte Vulgarität dieser humorigen Äußerung wiederzugeben. Er war näher getreten und gickste nun mit seinen plumpen Zeigefingern seine Mutter in die Rippen, worüber sie aufgebracht quiekte und dann in einem verdrossen nörgelnden Ton erklärte:
»Beschwören will ich's, Junge! Du benimmst Dich regelrecht wie ein Schwachsinniger. Wenn ein Mensch nicht mehr Verstand hat und hingeht und seiner Mutter so einen Streich spielt, dann sollte er sich schämen. Ja! Schä-ä-men sollte er sich.« Sie zog einen Runzelmund und schüttelte den Kopf in verächtlich tadelndem Zorn. »Ja, schämen sollte er sich, es vor aller Welt zu zeigen, daß er ein Narr ist«, flüsterte sie empört.
»Whah! Wahaha!« schrie Lukas, und sein wildes, maßlos übermütiges Lachen war so verheerend, in seiner blödsinnigen Daseinslust, daß es alle Worte und Vorwürfe, allen Tadel und jeglichen Einspruch der Vernunft augenblicklich zunichte machte. »Uih!« rief er. Er gickste die Empörte abermals in die Rippen, und sein schönes Gesicht klaffte von seinem großen, frohlockenden Lachen. Dann, so, als bewahre er etwas heimlich und unsäglich Komisches in seinem blödsinnigen Humor, schlug er sich vor die Stirn, rief abermals »Whah! Whah!« schüttelte geheimnisvoll den Kopf, bog sich vor Lachen und sagte mit der Ironie des gezierten Vornehmtuns: »Uih! Go-od-dam!«
»Was in aller Welt ist denn in Dich gefahren?« rief die Mutter verärgert. »Beschwören will ich's, daß Du Dich wie ein regelrechter Simpel benimmst.«
»Whah! Whah!« machte Lukas maßlos begeistert.
»Nun, ich weiß wahrhaftig nicht, wo Du das herhast«, urteilte Eliza mit absichtlich nachdenklichem Sarkasmus, so, als hätte sie sich gerade allen Ernstes überlegt, woher Lukas diese verrückte Art geerbt haben könne. »Aber eine Sache ist sicher. Von meiner Seite ist es nicht. Meine Leute waren alle richtig bei Verstand und hatten ihre fünf Sinne völlig beisammen. Da kann man sagen, was man will«, sagte sie, machte einen Runzelmund und starrte ins Feuer. »Ich habe nie gehört, daß bei uns in der ganzen Familie irgendwo Fälle von Schwachsinn vorgekommen wären ...«
»Whah! Whah!« machte Lukas.
»... und also kannst Du es nicht von meiner Seite geerbt haben«, erklärte sie mit entschiedenem Nachdruck. »Nein, ganz bestimmt nicht.«
»Whah-h!« Er gickste sie wieder in die Rippen, und dann, ganz unvermittelt, sagte er in einem sehr ernsten Ton:
»Ich da-da-dachte gerade, es wär ga-ga-gar kein schlechter Gedanke, wenn wir alle jetzt mal ein bi-bi-bißchen spaziernfahren täten. F-f-f-frank und frei, meiner Meinung nach könnte das k-k-keinem von uns schaden.« Er sah Eugen mit einem ernsten Blick aus seinen rastlosen, verquälten Augen an. »Wir haben es nötig, glaub' ich«, versicherte er und fragte unvermittelt, sich dabei heftig durchs Haar fahrend: »Wa-wa-was sagt Ihr denn dazu?«
»Ei ja!« erwiderte die Mutter mit augenblicklicher Bereitwilligkeit und erhob sich sofort aus dem Sessel. »Das ist genau, was wir brauchen. Ein bißchen frische Luft, ganz wie der weise Mann sagte ...«, sie wandte sich an Eugen, fuhr sich mit dem Finger an die Nase und lachte schlau, »... kostet nichts, ist das Hauptheilmittel der Natur und ist Menschen und Tieren zuträglich.« Und nun erging sie sich in absichtlicher Schönrednerei, so, als richte sie ein feierliches Warnwort an eine ungesehene Zuhörerschaft im Weltraum: »Eine Sache ist sicher: Niemand kann den Gesetzen Gottes oder der Natur zuwiderleben, oder, so sicher wie er geboren ist, wird er dafür büßen müssen. Ja«, wiederholte sie flüsternd, »so sicher, wie er geboren ist.« Und plötzlich fing sie an, etwas aus ihrem Gedächtnis auszukramen. »Ei ja ... nun also ... gewiß ... Also hör mal, weißt Du, da hab' ich doch neulich ... war das nicht erst gestern oder vorgestern? ... da hab' ich doch so was gelesen ... da stand doch in der Zeitung, weißt Du ...« fuhr sie ungeduldig fort und so, als wären ihre bruchstückhaften, dunklen Anspielungen für jedermann sofort verständlich, »... ja in der Zeitung war es, in einem Artikel von Doktor Royal S. Copeland ...« Klangvoll sprach sie den Titel aus, denn jemanden bei seinem Titel oder seinen akademischen Distinktionen zu nennen, bereitete ihr stets Vergnügen. Sie nickte nachdrücklich befriedigt und fuhr fort: »Er also war es, ganz recht, und er schrieb, frische Luft wäre etwas, das jedermann haben müsse, und daß wir uns alle bemühen sollten –«
»M-m-m-mama!« sagte Lukas, der ihr überhaupt nicht zugehört, sondern nervös schnaufend, ungeduldig sein Haar durchfingernd, sich mit rastlos flackernden Augen, ohne etwas zu sehen, umgeblickt hatte, »w-w-wenn wir wegfahren wollen, da-da-dann müssen wir uns f-f-fertigmachen. Ich m-m-meine nämlich nicht nächsten M-m-mittwoch, ich meine nämlich nicht d-den dreizehnten Juli nächsten Jahres, sondern ...« – die großen Hände, wie Klauen gezückt, die Finger zappelnd, einen teuflischen Wahnsinnsblick in den Augen, kam er auf sie zu – »... jetzt!« flüsterte er heiser. »Diese Woche! Heute! Diesen Nachmittag! Sof-f-f-fort!« bellte er, sprang komisch auf sie zu, fuhr sich aber dann, anstatt sie anzupacken, mit beiden Händen durchs Haar und wiederholte in verdrossenem, gereiztem Ton:
»M-m-mama! willst Du Dich bitte fertigmachen! Ich f-f-flehe Dich darum an«, bat er dringlich.
»Schon recht! Schon recht!« erklärte die Mutter im Ton herzhaftversöhnlicher Bereitwilligkeit. »In fünf Minuten bin ich fertig. Ich zieh' mir bloß schnell einen Mantel an, so daß mich die Leute nicht in diesem alten Kleid sehen. Pah! Darüber, daß ich nicht fertig wäre, brauchst Du Dich wahrhaftig nicht aufzuregen«, sagte sie plötzlich, so, als wäre sie nachträglich ein wenig verletzt über seine Ungeduld. »Wenn abgefahren wird, bin ich stets zur Stelle.« Sie machte eine nachdrückliche Gebärde mit ihrer männischen Rechten. Ich bin immer noch vor Dir fertiggewesen ... ja, und wenn es sich um eine Verabredung handelte, dann bin ich noch nie zu spät gekommen, und das ist mehr, als Du von Dir behaupten kannst, denn ich habe es öfters erlebt, daß Du Verabredungen verpaßt hast.«
Lukas, der die ganze Zeit schwerschnaufend und sich das Haar raufend dastand, hatte einen Stoß Briefumschläge und Zettel aus der Tasche genommen, blätterte nun diesen Stoß durch und las, was er sich auf diesen mit Daumenspuren befleckten Papieren in seiner unleserlichen Kritzelschrift aufgeschrieben hatte: »Die-die-dienstag ... Blackstone, Süd-Karolina ...« murmelte er zerstreut, so, als hätte er den Namen nie im Leben gehört. »... ja, aha! ... Livermore treffen ... vormittags im Hotel ...« er sang es in seiner vollen Tenorstimme heraus, fuhr sich mit der Hand durchs Haar, starrte wild vor sich hin. »Die-die-dienstag nachmittag nach Gadsby, wegen diesem Ku-ku-kunden da ...« Er pfiff plötzlich, weil er ein Wort nicht lesen konnte. »... ah ... wegen dem neuen Satz Batterien für ein Beleuchtungssystem X Stil 37 ... das dieser billige Pfennigfuchser von einem Bastard für nichts haben möchte ... Mittwoch vormittag zurück nach Blackstone ... Do-do-donnerstag, ei-ei-ei ...« Er blickte besessen auf, fing dann an, erregt mit der dicken Pfote durch den Stoß Papier zu blättern. »... Donnerstag ... ah ... 'nüber nach Cavendish fahren und diesen Hundsknochen von einem rothaarigen Niggerbaptisten bereden, da-da-daß er sich selbst d-den größten Gefallen tut, wenn ... w-w-we-wenn er seinen ganzen veralteten Krempel auf den M-müllhaufen schmeißt und sich die neue Transmission Modell X 50 Stil 46 anschafft ...«
»M-m-m-mamma!« rief er plötzlich und wandte sich gereizt und flehentlich an die Mutter. »W-willst Du bitte so gut und liebenswürdig sein und Dich meiner erbarmen und so großmütig sein und be-be-ginnen, Dich f-f-fertigzumachen? Wir w-w-wollen noch vor Mitternacht fahren!« fauchte er bitter.
»Schon recht! Schon recht!« rief die Mutter beschwichtigend und schickte sich an, mit linkischen, zerstreuten, gleichsam gezügelten Bewegungen hinauszugehen, was ihr jedoch nicht gelang, denn da das Zimmer zwei Ausgänge hatte, versuchte sie, es gleichzeitig durch beide zu verlassen. »Schon recht!« wiederholte sie, als sie sich endlich entschieden hatte, durch die Tür zu gehn, die ihr am nächsten war. »Ich geh' bloß nach hinten und zieh' mir 'nen Mantel an. In einem Sekündchen bin ich da!«
»Bitte! Bitte ja! W-w-wir wären Dir sehr verbunden!« erklärte der gequälte Lukas mit ironischer Höflichkeit.
In diesem Augenblick jedoch hielt ein Auto draußen vor dem Haus, jemand stieg aus und gleich darauf ließ sich auch schon Helenens Stimme vernehmen:
»Schon recht, Hugo! Schon recht!« rief sie. »Ich komme ja schon!« versicherte sie gereizt und verdrossen, obschon sie doch durchaus nicht zu ihrem Gatten kam, sondern auf das Haus zuging. »Also, sei so gut und laß mich einen Augenblick allein. Guter Himmel! Kann ich denn keinen Augenblick Frieden haben?! Also, ich komme ja schon! Laß mir bloß fünf Minuten Zeit, sonst werde ich verrückt.« Ihre Stimme klang hysterisch, gereizt, überspannt, dann aber rief sie in einem humorvollen, ruhigen Ton: »Schon recht, Mr. Barton! Bezähm Deine Ungeduld ein Weilchen, Du weißt ja, unser Haus brennt nicht ab, ehe wir heimkommen.«
Auf Bartons hagerem, versorgtem, ergebenem Gesicht erschien widerwillig und langsam ein Grinsen, in dem irgendwie Unterwürfigkeit, Treue und Seelengüte zu erkennen waren, und Helene wandte sich um, kam über die Veranda vorm Haus und trat ins Wohnzimmer zu ihren Angehörigen. Ihr hageres, großes, freimütiges Gesicht war gespannt von nervöser Hysterie; in einem gereizten Ton, mit müder, gequälter Stimme legte sie sofort los:
»Mein Gott, wenn sie mich nicht bald in Ruhe lassen, dann werde ich verrückt! Vom frühen Morgen an habe ich keinen Augenblick Frieden! Den lieben langen Tag ist immer jemand hinter mir her und will was von mir! Ei guter Himmel, Mama!« rief sie plötzlich wütend, so, als hätte Eliza ihr widersprochen. »Ich hab' an meinen eignen Sorgen genug und brauche niemanden, der seine Sorgen auf mich ablädt. Muß es denn gerade ich sein, zu der die Leute gelaufen kommen? Haben sie denn zu Haus nichts zu tun? Und soll ich meiner Lebtag anderer Leute Lasten schleppen? Ach, wenn ich nur ein bißchen Frieden hätte! Ich will ja weiter nichts, als dann und wann mal für mich allein sein!« rief sie verzweifelt und fuhr anklägerisch fort: »Ach, Ihr wißt ja gar nicht, was ich auszustehen habe! Ihr braucht Euch ja keine Gedanken zu machen! Ihr braucht ja für nichts einzustehn! Aber wenn dieser Zores nicht aufhört, dann gehe ich zugrund.«
Während Helene diese Rede von den ihr auferlegten Sorgen und dem ihr angetanen Unrecht vom Stapel ließ, hatte Lukas pflichtschuldigst und ergeben, sooft sie atemschöpfend innehielt, die Rolle des Chors in der Tragödie übernommen und Bemerkungen folgender Art gemacht:
»Du-Du-Du plagst D-d-dich eben für jedermann, und die L-leute erkennen es nicht an, da-da-das ist das Schlimmste!« – oder: – »A-a-a-an Deiner Stelle würde ich die Leute höflich auffordern, sich zum T-t-t-teufel zu scheren. W-w-wirklich, das ist meine M-m-meinung!« – oder, einen tiefernsten Ausdruck im gequälten Gesicht: – »Nicht mal ein Go-go-gottverdammdich kriegst Du für alle Deine Müh! F-f-frank und frei, ich würde sagen, sie so-so-sollten sich zum Teufel scheren.«
»Wenn ich ab und zu mal ein bißchen Anerkennung sähe, wär ich's schon eher zufrieden«, stöhnte Helene. »Aber glaubst Du vielleicht, diese Leute bekümmerten sich deswegen? Glaubst Du vielleicht, sie ließen sich's einfallen, auch nur eine Hand zu heben, wenn ich mich für sie abschinde? Ei«, ihr großes, freimütiges Gesicht verkrampfte sich, »selbst wenn ich mich für sie zu Tod arbeitete, glaubst Du, sie würden mir ein paar Blumen zur Beerdigung schicken?«
Lukas lachte verächtlich zornig. »Z-z-zum Lachen ist's! Z-zum Lachen! Nichts würden sie schicken! Nicht mal ein Bündel Rübenblätter!«
Hugo Barton hatte draußen ungeduldig und heftig gehupt. Helene steckte den Kopf zur Tür 'naus und rief: »Schon recht, Hugo! Ich komme ja schon! Guter Himmel, das macht mich noch verrückt! Kannst Du mich denn nicht fünf Minuten in Ruhe lassen?!« Sie kam wieder ins Zimmer, sie schnaufte, der gespannte Ausdruck der Hysterie lag auf ihrem Gesicht. Aber dann löste sich die Miene, ein Lächeln erschien um die Winkel ihres freigiebigen Munds.
»Ach Du mein Gott, Mama«, sagte sie verdrossen und lächelte. »Kannst Du mir bitte sagen, was ich da tun soll? Ist es Dir denn auch so gegangen, als Du mit Papa zusammen lebtest? Ist das eben so, wenn man verheiratet ist? So, daß man nie seinen Frieden und überhaupt kein Privatleben mehr hat? Das möcht ich wirklich gern wissen. So, daß heiraten einfach heißt, für den Rest seines Lebens auf seinen Frieden und sein Privatleben verzichten? Es gibt doch schließlich ein paar Dinge, die man gern allein tut, nicht wahr?« Ihr Lächeln wurde anzüglich. »Mit mir ist's so weit, daß ich mich kaum noch ins Badezimmer traue ...«
»Hu-uh!« kreischte Eliza, lachte, legte sich einen Finger unter die Nase.
»Tatsächlich«, sagte Helene, und das Lächeln spielte locker um ihren Mund, »mit mir ist's so weit, daß ich mich fast hinzugehen fürchte, denn ich weiß ja nie, ob nicht im nächsten Augenblick jemand 'reinkommt, um mir Gesellschaft zu leisten.«
»Hu-uh!« lachte Eliza. »Da mußt Du ein Schild ›Besuche verbeten‹ aufhängen. Genau so! Das würde ich an Deiner Stelle sofort tun«, erklärte sie.
Helene kicherte heiser und begann, sich das Kinn zu petzen. »Aber, oh! Wenn sie mich nur eine Stunde am Tag allein ließen! Wenn ich nur eine Stunde für mich hätte!«
»W-a-a-warum kommst Du nicht mit uns?« fragte Lukas. »O-o-offen gestanden, ich glaub', das tät Dir nichts schaden. Es wär mal 'ne Abwechslung.«
»Wieso? Wo geht Ihr denn hin?« fragte sie dumpfneugierig.
»Wir waren ge-ge-gerade dabei, ein bißchen spazierenzufahren ... Mama!« barst er plötzlich gereizt los. »Bi-bi-bi-bitte, willst Du dich fertigmachen?! Es wird ja Nacht, ehe wir wegkommen!« fauchte er, so, als wäre Eliza es gewesen, die den Aufenthalt verursacht habe. »Ich bi-bi-bitte Dich, ich fleh Dich an, so g-g-gütig zu sein und Dich f-f-f-fertigzumachen, D-dich unverzüglich fertigzumachen! Um Go-go-gottes willen fleh ich Dich an!« Er wandte sich mit verzweifelter Miene an Helene, ein Schauder überlief ihn, er fuhr sich durchs Haar und stöhnte: »A-a-h-h! Mein Gott! Mein Gott!«
»Schon recht! Schon recht!« erklärte Eliza munter in tröstlichem Ton. »Ich zieh' mir nur den Mantel an und setz' einen Hut auf, und in fünf Minuten ...«
»Bi-bitte, Mama, dann tu's!« sagte Lukas mit gequälter Miene und einer ironisch-höflichen Verbeugung.
Schließlich hatten sie alle das Haus verlassen und standen abfahrtbereit draußen auf dem Bürgersteig. Lukas, heftig-unbeholfen schnaufend, ging um sein altes, verdellertes Auto herum, maß es mit trübselig-gedankenvollen Blicken, trat mit seinen Plattfüßen in die Reifen, packte das wackelige Gefährt, rüttelte daran und versetzte ihm mit der flachen Hand solche Schläge, daß der Zusammenbruch drohend nahe schien. Eliza stand derweilen gediegen aufgepflanzt da und kehrte der Gesellschaft den Rücken, denn sie betrachtete ihr Haus. Sie hatte die Hände lose vorm Bauch gefaltet, und ihre vollen, feingeschnittenen Lippen waren andächtig geschürzt, während sie ihr Eigentum besichtigte. Diese Handlung war charakteristisch für sie: jedesmal, wenn sie wegging oder zurückkam, blieb sie stehen und betrachtete das Haus mit einer Miene der unverkennbaren, mächtigen Besitzlust. Während diese unumgänglichen Zeremonien stattfanden, saß Barton unbeteiligt in seinem Wagen, machte ein saures Gesicht und wartete mit resignierter Geduld. Helene aber hatte Eugen beim Arm genommen und ging ein paar Schritte mit ihm die Straße hinunter. Sie redete unablässig auf ihn ein, zerstreutes und unzusammenhängendes Zeug, etwa so:
»Das siehst Du doch ein, nicht wahr? ... Da siehst Du es doch wieder, was ich auszustehen habe, nicht wahr? ... Bei Dir ist die Sache ja nicht so schlimm, Du bist ja nur auf kurze Zeit hier, aber ich muß es doch die ganze Zeit aushalten, die ganze Zeit!« Plötzlich sah sie ihm stracks in die Augen und fragte ruhig, aber mit einer eigenartig verstörten Stimme:
»Weißt Du eigentlich, was heut für ein Tag ist?«
»Nein.«
»Bist Du Dir klar darüber, daß Ben heute vor fünf Jahren starb? Ich habe gestern dran denken müssen, als sie das Zimmer für die neuankommenden Hausgäste fertigmachte«, murmelte sie bitter verdrossen. Ihre Gesichtszüge hatten sich gespannt, ihr Blick war dunkel und glanzlos und krankhaft geworden, sie petzte sich zerstreut das große Kinn. »Kannst Du verstehen, wie sie es fertigbringt, das Zimmer zu betreten? Daß sie imstande ist, es einem beliebigen, billigen Zimmerherrn zu vermieten? Weißt Du überhaupt, daß sie sogar das Bett noch hat, in dem der Ben gestorben ist? Sogar dieselbe Matratze?« Sie lachte leis und gickste Eugen in die Rippen. »Nächstens wird sie Dich drauf schlafen lassen!«
»Verdammt will ich sein, wenn sie das tut!«
»K-k-k-k!«
»Hältst Du's für möglich, daß ich zur Zeit drauf schlafe?« erkundigte sich Eugen jäh entsetzt.
»K-k-k-k!« kicherte sie. »Gelt, das würde Dir so passen, wie? Du könntest bestimmt besser schlafen, wenn Du das wüßtest, wie? ... Nein«, sagte sie dann leise und schüttelte den Kopf. »Uh-uh! Ich halte es für ausgeschlossen. Die Matratze ist noch oben im selben Zimmer. Ich nehme an, sie hat die Bettstelle frisch gestrichen, aber sonst hat sie wohl nichts im Zimmer geändert. Bist Du eigentlich jemals drin gewesen, seit der Ben starb?« fragte sie neugierig.
»Mein Gott, nein! Du?«
Sie schüttelte den Kopf. » Ich nicht!« erklärte sie mürrisch entschieden. »Ich hab' seit jenem Morgen nicht mehr den Fuß in den ersten Stock gesetzt ...« Sie blickte zu ihrem Gatten hinüber. »Hugo kann das Haus einfach nicht ausstehen«, murmelte sie. »Es ist ihm sogar gräßlich, hier draußen mit dem Wagen zu warten, und er weigert sich, 'reinzukommen.«
Sie schwiegen eine Weile und sahen das Haus an. Am Vorderzimmer im ersten Stock, in dem Ben gestorben war, hing der häßliche schmale Erker, das ganze alte Haus stand finsterlich und hart und öde da, die Ahornbäume im Vordergarten waren schon halb entlaubt, und gelbe, welke Blätter segelten still zu Boden. Und Eugen sah das alte, häßliche Haus, wie er es nie zuvor gesehen hatte; es sah verwittert und hinfällig aus, der Anstrich hatte sich in großen Placken abgeschält, und der Eindruck war dennoch der einer unglaublichen, natürlichen Vertrautheit, und augenblicklich regten sich in Eugen, traumhaft befremdend und traumhaft vertraut, die Gespenster von Schmerz, Gram und Kummer, die Erinnerungen an Freuden, Bezauberungen und verlorne Zeit, und die tausend Geschichten vom Geschick entschwundener Menschen, die er einst, als dies Haus sie barg, gekannt hatte.
Und nun, als sie beide zu dem düstern Erkerfenster von Bens Sterbezimmer aufblickten, streifte die Erinnerung an Bens Tod wie ein schwarzes Entsetzen, über ihre Seelen, und jene müde Schicksalsergebenheit, die Bens Sterben sie gelehrt hatte, blieb. Ein Ausdruck von uralt-gleichgültigem Verdruß und Kummer kam in Helenens Augen, sie blickte Eugen an, ein mattes Lächeln spielte um ihren Mund, und sie fragte ruhig:
»Hat er Dich je nachts heimgesucht? Hörst Du ihn im Haus herumgeistern, wenn der Wind heult? Ist er Dir erschienen? K-k-k-k!« Sie kicherte heiser und gickste Eugen mit steifem Finger in die Rippen. Dann schüttelte sie den Kopf, und mit düsterer Abwehr in der Stimme, so, als wäre es Eugen gewesen, der von Gespenstern gesprochen habe, sagte sie: »Vergiß es! Die Toten kommen nicht wieder, Eugen! Ich hab' mal geglaubt, sie täten's, aber ich weiß nun, daß sie es nicht tun! Er wird nicht kommen«, murmelte sie und schüttelte den Kopf. »Vergiß es also!« Sie musterte Eliza mit einem trübselig-resignierten Blick. »Und denk auch nicht, es wäre ihr Fehler gewesen. Ich hab' früher immer geglaubt, man könnte die Menschen ändern. Aber das ist ausgeschlossen. Uh-uh!« Sie petzte sich das große, grübige Kinn. »Vollständig ausgeschlossen. Menschen ändern sich nicht.«
Lukas stand am Rinnstein, er war zerstreut, er schnaufte laut, er fuhr sich mit den stupsigen Fingern heftig durch das dichte Schimmergelock seines unglaublichen Haars, »Nun, ah, nun d-d-denk ich ... M-m-mama! Bi-bi-bitte!« sang er volltönig heraus mit einer ironischen Höflichkeit in der Stimme.
Eliza stand immer noch unentwegt hingepflanzt auf dem Bürgersteig, völlig dem Anblick ihres Hauses hingegeben, und auf ihrer Miene lag der Ausdruck eines mächtigen Grübelns. Die ganze furchtbare Legende von Blut und Hunger war in diesem Ausdruck zu erkennen, die Klaue, die sich an Eigentum und Besitz klammert, jene verzweifelt-zäh und fest eingekrallte Klaue, die für sie die Klaue des Lebens selber war. Diese große Klaue – eine Macht, wesensmäßig stärker in ihr als Leben oder Tod oder Muttertum – war es, die sie an allem und jedem, was sie je besaß, verzweifelt festhalten ließ, seien es auch nur alte Flaschen, Papier, Bindfadenstücke, alte Handschuhe ohne Finger, ausgefranste Sweater, die ein abgereister Zimmerherr zurückgelassen hatte, Postkarten, Reiseandenken, Meermuscheln, Kokosnußschalen, abgestoßene Handkoffer, unbrauchbar gewordene Möbel- und Einrichtungsstücke, Wandkalender aus dem Jahr 1906, auf denen alberne Jüngferlein unter steifen, aufgespannten japanischen Sonnenschirmen züchtig-blöde zur Seite blickten – kurz, eine ganze Anhortung von Gerümpel, für die das alte Haus nun als Museum diente. Dieselbe Macht aber konnte sie auch veranlassen, im Nu Tausende von Dollars in eine schwindelhafte Bodenspekulation zu stecken, und zwar mit Gewinnhoffnungen, mit denen verglichen das Wetten eines Betrunkenen, der beim Rennen leidenschaftlich auf ein aussichtsloses Pferd setzt, zur Äußerung eines kaltklugen, berechnenden Verstands wurde.
Als sie nun so, die Lippen geschürzt und hochbefriedigt vor sich hin grübelnd, ihr Haus betrachtete, starrte ihren Kindern ein weiterer Beweis ihrer sinnlosen Besitzsucht ins Gesicht. Hinterm Haus an der Böschung, am Ende des Zufahrtswegs, stand ein alter, baufälliger, aus weißgetünchten Brettern gezimmerter Schuppen, der voreinst als Kutschenremise gedient hatte. Durch die offene Tür sah man in diesem Schuppen eine hohe und staubige Reliquie stehen: Elizas Automobil. Sie hatte diesen Kraftwagen vor vier Jahren einer augenblicklichen Eingebung folgend für zweitausend Dollar baren Geldes gekauft, und warum sie ihn damals anschaffte, konnte niemand verstehen, am wenigsten aber Eliza selber. Von jenem Tag an nämlich hatte das Auto nie jenen Schuppen verlassen. Jahraus, jahrein, trotz der Einwände, des Flehens und der Flüche ihrer Kinder, hatte sie den Wagen nicht benutzt und es auch niemandem erlaubt, ihn zu benutzen. Und was mehr ist, als ihr einmal ein gutes Angebot für den Wagen gemacht wurde, hatte sie sich geweigert, ihn zu verkaufen. Sie hatte die Lippen geschürzt, neckisch gelächelt und eine Ausrede gemacht: »Nun, ich werde mal zusehen und mir die Sache überlegen!« hatte sie gesagt. »Ich muß da erst noch einmal über das Ganze nachdenken, und dann werde ich Ihnen Bescheid geben.« Ihr Benehmen hatte den Eindruck gemacht, als rechnete sie damit, das Doppelte ihres Kaufpreises zu erzielen, wenn sie lange genug an dieser vom Rost angefressenen Maschine festhielte.
Die Kinder hatten nacheinander den Kampf aufgenommen mit dem polypenhaft-vielarmigen Wesen, dem Elizas Charakter glich; sie hatten ihre ganze Kraft und Energie erschöpft im Ringen gegen diesen Willen, der zwar stets nachgab, aber nie aufgab, den man mit zorniger Hand packen, drücken und abschnüren konnte, bloß um dann zu erleben, daß er sich an anderer Stelle um so toller und heftiger und praller ausbauchte und aufbauschte, – der dahinschwamm, der sich verzog, der ab- und zugab, der wiedererschien, der trotz aller Verwandlung und Bewegung immer derselbe blieb, und der letzten Endes alles, was sich ihm entgegenstellte, niederrang.
Nun fiel Lukas' Blick einen Augenblick auf den Wagen, und die alte, verrückte Verzweiflung packte ihn wieder an. Er raufte sich das Haar, blickte Eliza aus seinen gequälten Augen gereizt an und legte los: »M-m-mama! M-m-m-mama! Ich fleh Dich an, ich f-f–fleh Dich inständig an, i-i-ich d-d-dringe inständigst flehend in Dich, e-e-entweder dieses go-go-gottverdammte Ding zu verkaufen, oder ein wenig N-nutzen aus ihm zu ziehen!«
»Nun ja«, erklärte Eliza schnell und versöhnlich. »Ich werde mir die Sache überlegen.«
»Wa-wa-wa-was w-w-wi-willst D-d-du denn da-da-da überlegen?« stammelte er erbittert. »Da steht Dein Wagen, da, da, da!!!« krächzte er und deutete mit dem stupsigen Finger ein paarmal nacheinander in Richtung auf den Schuppen. »Verst-st-stehst Du denn nicht, da-da-daß das g-g-g-gottverdammte Ding auf den Rädern verrostet und kaputt geht und we-we-weder Dir noch s-s-sonstwem etwas nützt!«
»Nun ja, wie ich Dir gesagt habe«, begann Eliza diplomatisch.
»M-m-mama!« legte er weiter los und raufte sich das Haar. »Ich bitte Dich, ich f-f-fleh' Dich an! V-v-verkauf das Ding oder verschenk's o-o-ooder versuch, es ein wenig zu benutzen! L-laß mich mal damit um den Block herum fahren! B-b-bloß einmal um den Block herum! E-es wäre mir w-w-wi-wirklich eine Genugtuung, zu w-w-wissen, daß Du wenigstens s-s-so viel davon gehabt hast! Wenn Dir das Geld f-f-fürs Benzin zuviel ist, wi-will ich's gern bezahlen? A-a-aber laß mich das Ding nur einmal fahren, u-u-und wenn's b-b-bloß bis an die nächste Straßenecke ist! Bitte!«
»Ei nein, Junge!« rief Eliza bestürzt. »Das geht nicht.«
»Wa-wa-warum denn nicht? In Go-go-gottes Namen warum denn nicht?«
»Ich hab' Angst«, erklärte sie mit einem leichten besorgten Lächeln. »Hm! Ich habe Angst!« Sie schüttelte den Kopf.
»Wa-wa-wa-wa-wa-wa-warum denn Angst!?« gellte er. »Warum in Gottes Namen denn Angst?!«
»Ich habe Angst, Du könntest einen Unfall haben«, meinte sie besorgt lächelnd, »oder jemanden überfahren. Nein, Kind«, erklärte sie und schüttelte ernst den Kopf. »Ich habe Angst, Dich den Wagen fahren zu lassen. Du bist zu nervös.«
»Ah so!« stöhnte er. Er verkrampfte die Hände in seinem Haar, die Augen zuckten ihm wahnsinnig im Kopf. »Ah so! B-b-ba-barmherziger Gott!« murmelte er. Und dann lachte er ein wildes, irres, bitteres Lachen.
Helene, die sich das große Kinn petzte, fragte nun zwar neugierig, aber dennoch mit einer so müden Verdrossenheit in der Stimme, als wüßte sie die Antwort schon im voraus: »Sag mal, Mama, was gedenkst Du eigentlich mit Deinem Wagen zu tun? Wenn er so ungenutzt dasteht, bis er schließlich auf den Rädern verrostet, ist es wirklich schade um das schöne Geld, das Du für ihn ausgegeben hast. Wirst Du ihn nie fahren?«
»Nun ja, wie ich bereits sagte«, begann Eliza, behaglich grübelnd und genüßlich die Lippen schürzend, und blickte in die Luft, »ich warte eigentlich nur auf die Gelegenheit. Eines schönen Tages wird es dann soweit sein. Ich hab' nämlich gute Lust, selber fahren zu lernen.«
»Ei guter Himmel, Mama!« begann Helene. »Du wirst doch nicht ...«
»Ei gewiß werde ich!« rief Eliza munter nickend. »Das kann ich doch lernen! Ich habe noch immer alles fertiggebracht, wozu ich entschlossen war! Sobald ich etwas können mußte, hab' ich es jedesmal gekonnt ... und so wart' ich denn, bis es wieder Frühling wird, und dann kommt mir der Wagen aus dem Schuppen, und ich fahre darin spazieren. Ich fahre da hinauf auf die Berge und gucke mir die Landschaft an und genieße mein Leben. Ja«, versicherte sie mit ihrem kleinen, bebenden Lächeln, »genau so werde ich's machen.«
»Schon recht«, erklärte Helene gemüdet. »Halte es ganz, wie Du willst, und tu, was Du für gut hältst. Schließlich handelt es sich ja um Deine eigene Beerdigung. Bloß vergiß nicht, daß es wirklich schade wäre, den Wagen ungenutzt zerfallen zu lassen, nachdem Du das viele Geld für ihn ausgegeben hast.«
Ein Anflug von Hysterie erschien auf ihrem hochanständigen Gesicht, sie wandte sich resigniert und verdrossen an Eugen und sagte leis:
»Also ... was kann man da tun? Ich dachte einst, man könne sie ändern, aber ich weiß längst, daß das ausgeschlossen ist. Ich habe den Versuch aufgegeben, er ist sinnlos. Vollkommen sinnlos«, murmelte sie. »Ich hab' mir die Finger bis auf die Knochen abgeschafft, um den Alten einen Nickel zu sparen, ich habe wie ein Nigger in der Küche geschafft von meinem zehnten Jahr an ... und nun siehst Du ja, wozu das gut war, nicht? Ich bin auf Tournee gegangen und habe, um Geld zu verdienen, im Tingeltangel gesungen, und wenn ich heimkam, habe ich in der Küche geholfen und bei Tisch bedient, damit die billigen Kostgänger ihr Essen bekamen, und der Lukas hat die Saturday Evening Post verkauft und ist mit heißen Würstchen hausieren gegangen und hat Kinderluftballone feilgehalten, und Du bist morgens um drei aufgestanden und hast Zeitungen ausgetragen, und der Ben hat sich sein Leben lang abgeschafft, bis seine Lunge zum Teufel war und es keine Rettung mehr für ihn gab ... und nun siehst Du ja, wozu das letzten Endes gut war, nicht? Das Geld geht bei Bodenspekulationen drauf, oder sie kauft sich ein Auto dafür, das unbenutzt verrostet. Ich hab's aufgegeben, mich drüber zu ärgern. Menschen ändern sich nicht. Ich habe mal geglaubt, sie tätens, aber nun weiß ich, sie tun's nicht. Uh-uh! Sie ändern sich nicht! ... Na also schön, vergiß es!« sagte sie und wandte sich verdrossen ab.
In jenem Jahr, in dem Eliza das Automobil gekauft hatte, war Eugen achtzehn gewesen. Als er damals – in seinem Juniorenjahr auf der Staatsuniversität – in den Ferien zu Haus war, hatte er seine Mutter gebeten, sie möge ihm das Auto zur Verfügung stellen, weil er fahren lernen wolle. Um diese Zeit war es gerade so weit, daß schon beinahe jedermann im Städtchen ein Automobil besaß; die Welt begann, sich auf Rädern zu bewegen, und wenn Eugen damals in der Stadt Bekannte sah, dann war es so, daß diese Bekannten sämtlich im Wagen an ihm vorüberfuhren, und irgendwie verursachte ihm das ein Gefühl des Nacktseins und der Verlassenheit, so, als gäbe es keinen Ort, an den er hingehn, keine Tür, durch die er eintreten könne. So wollte er denn fahren lernen und hatte seine Mutter um den Wagen gebeten. Als er die Bitte vorbrachte, hatte sie die Hände lose vor dem Bauch verschränkt, den Kopf komisch zur Seite geneigt und ihn eine Zeitlang neckisch angesehn; und um ihren Mund war jenes kleine, bebende und belustigte Lächeln erschienen, das ihn immer rasend machte und ihn gleichviel namenlos beschämte und ihm ein unerträgliches Mitleid mit ihr einflößte, weil er dann immer hinter ihrem Gesicht, hinter der hohen Stirn, hinter den matten, altersschwachen Augen, hinter der Maske der Jahre ihr eigentliches Antlitz sah, das weiße, nackte, kluge, unsterblich-unschuldige Antlitz eines Kindes, das unentwegt hoffend, gläubig und vertrauend in die Welt blickt.
Und nun brachte er zum letztenmal jene Bitte vor, die er schon so oft an sie gerichtet hatte, und augenblicklich, so, als hätte er sie im Traum gefragt, gab sie ihm die Antwort, die sie ihm stets gegeben hatte, die einzige Antwort, die bei dem unbezwingbaren Aufschubbedürfnis ihrer Natur möglich war.
»Hm! Wa-a-aas? Du bist doch mein Baby!« sagte sie, sah ihn spöttisch-ernst an und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein«, sagte sie dann schnell und ruhig. »Ich hätte dauernd Angst, dauernd Angst«, flüsterte sie und schüttelte den Kopf.
»Aber Mama, wovor denn Angst?«
»Ei Kind«, erklärte sie gewichtig und schüttelte nochmals schnell den Kopf. »Uh-uh! Ich hätte Angst, es könnte Dir etwas zustoßen. Ich hätte Angst vor dem Versuch.« Dann setzte sie beschwichtigend hinzu: »Also, wir wollen sehn. Erst möchte ich mich selber mit dem Wagen auskennen.«
So blieb den Kindern in dieser Sache nichts übrig, als zu fluchen und mit den Fäusten gegen die Wand zu trommeln. Und darüber hinaus blieb überhaupt nichts zu tun. Eliza hatte sie alle überwunden, und sie wußten es. Fluchen und Schreien und Gebete halfen da nichts. Eliza hatte sie alle überwunden, und so schwiegen sie denn in Zukunft ihr gegenüber und auch unter sich von dem Wagen, denn der riesenhafte Wahnwitz dieser verrückten Vergeudung erweckte in ihnen allen peinliche, trostlose und tragische Erinnerungen, gemahnte sie an jene blutmäßige und naturgebundene Schicksalsgegebenheit, die unabänderlich ist, an Geschehnes, das sich nicht ungeschehn machen läßt, an das Los, in das sie alle wie in einem Gewebe verstrickt waren. Und sie wußten dann auch, daß es hier weder Schuld noch Unschuld, weder Sieg noch Wandel gab. Sie waren, was sie waren, und weiter war nichts zu sagen.
So war es auch nun, als Eliza vor ihrem Haus stand. Sie war mit den Jahren plumper und unförmig schwer geworden, und als sie nun, die Hände verschränkt, in eine genießerisch grübelnde Andacht versunken, dastand, schien sie schlechthin auf den Bürgersteig hingepflanzt zu sein, und es machte den Eindruck, als ob sogar die Steinfließen unter ihren Sohlen ihr gehörten und ihr bewohnbares Eigentum seien. Ihr gehörte die Straße, ihr gehörten das Pflaster und der Bürgersteig, und vor allem war ihr furchtbares Besitzerverhältnis zu dem Haus so offenbar, als wäre dieses Haus ein Lebewesen, das zu ihr sprechen könne. Für die Kinder barg dieses alte, düstre Haus so viele Erinnerungen an Kummer und Tod, so viel unerträgliches und unheilbares Bedauern, daß sie es insgeheim haßten; Eliza jedoch, obschon ihr in einem seiner düstern Zimmer ein Sohn gestorben war, liebte das Haus wie ein Stück ihres eignen Lebens, und ihre Liebe für es war größer als ihre Liebe für irgendeinen Menschen oder für sonst etwas auf Erden.
Und trotzdem –: wäre dieses Haus, wäre die ganze Welt ringsum in Trümmer gegangen, Eliza wäre heil geblieben. Einen Untergang für sie gab es nicht. Ihr Lebensgeist war immerdardauernd wie die Erde, auf der sie wandelte; er war unantastbar, und – Gram, Tod, tragischer Verlust, Unerfülltheit oder was auch immer anderer Leute Leben vernichten mochte, sie war sieghaft erhaben über der Verheerung von Zeit und Zufall und würde bis zum Tod sieghaft erhaben bleiben. Für sie gab es nichts außer der Erfüllung ihres eignen Schicksals, die sich allen Widerwärtigkeiten zum Trotz unvermeidlich vollzog. Sie hatte zehn Leben gelebt, nun rüstete sie sich abermals für ein weiteres, so war es von allem Anbeginn an vorausbestimmt, und die Schicksalserfüllung war alles, worauf es ihr ankam.
Aber nun rief Lukas, als er sie in der Haltung des allverschlingenden Grübelns hingepflanzt sah, ihr gereizt und flehentlich zu:
»M-m-mama! Bi-bi-bitte! Ich f-f-f-lehe Dich an!«
»Ich bin ja fertig!« entgegnete Eliza schnell und gab die mächtige Betrachtung ihres Hauses auf. »Fertig auf die Minute! Also komm!«
Er fuhr sich durch das schimmernde Haar und murmelte:
»Ei bi-bi-bitte!« Sie gingen auf seinen Wagen zu, den er auf dem Zufahrtsweg neben dem Haus geparkt hatte. Ein paar welke, gelbe Ahornblätter segelten langsam zu Boden.