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LXXXIII

Der Wagen, den die vier für eine viermonatige Reise gemietet hatten, wurde um neun vors Haus gebracht. Ein paar Minuten später waren sie unterwegs nach Reims.

Elinor steuerte; Eugen saß neben ihr; Ann und Starwick saßen hinten im Wagen. Es war ein guter Wagen, ein Panhard, und Elinor fuhr schnell, schön und mit der großartigen Gewandtheit, mit der sie alle Dinge tat. Sie überholte jedermann, übertraf selbst die geschwind ausweichenden, wespenhaft dahinschießenden Taxifahrer und tat das alles so leicht und gefällig, daß man es eigentlich gar nicht recht merkte.

Es schien eine Art Zauberei, wie sie durch das große dichte Gewebe, durch die monumentale Verworrenheit der Pariser Binnenstadt glitten. Und wie stets teilte Elinor allem und jedem das herrliche Selbstvertrauen ihres autoritativen Wesens mit. In ihrer Gegenwart und unter ihrer Verwalterschaft wurde diese fremde, ausländische Welt einem augenblicklich so vertraut wie die Main Street der Vaterstadt, und selbst das bestürzende, feindurcheinandergefädelte Gewühl der schwärmenden Masse erschien einem ganz natürlich und leichtverständlich. Paris wurde merkwürdig amerikanisch unter der magisch verwandelnden Berührung dieser Frau, und Eugen erlebte es in einer schönen Bezauberung, die ihn an die fernen Visionen mahnte, in denen er sich als Kind Paris vorgestellt hatte.

Es war erstaunlich. Die ganze Stadt hatte plötzlich die klaren, beruhigenden Proportionen angenommen, die sie auf Plänen hatte, – wie sie sie auf einem jener schönen und schlichten und tröstlichen Stadtpläne hat, die an Reisende verkauft werden, Stadtpläne, auf denen alles so reizend und bunt, so zum Liebkosen und spielzeughaft aussieht, und auf denen alle Sehens- und Kennenswürdigkeiten, die berühmten »interessanten Sachen«, zum Beispiel der Eiffelturm, die Madeleine, Notre Dame, der Trocadéro und der Arc de Triomphe, ganz reizend und in lebhaften Farben gemalt stehen.

Paris war an diesem Morgen in der Tat zu einem glänzenden, lieben und blanken Spielzeug geworden. Es war ein Spielzeug, wunderbar geschaffen zur Ergötzung für so zwei glänzende, witzigwissende Amerikaner wie Elinor und Eugen. Es war ein Spielzeug, das man augenblicklich verstehn, an dem man sich sofort erfreuen, das man auf eine Weile aufbewahren und dann wieder vornehmen konnte, ein Spielzeug, mit dem sich nach Herzenslust spielen ließ, ein Spielzeug, wie es keinen von den beiden auch nur auf einen Augenblick verwirren oder ihm unverständlich vorkommen konnte, denn auch Eugen konnte beruhigt sein; auf alle Fälle war Elinor da, die ihm jederzeit irgend etwas Unfaßbares an dem Spielzeug erläutern und das Ding wieder zum Gehen bringen konnte.

Es war unglaublich. Vergangen waren Verwirrungsblindheit, Verzweiflungskränke und Verlassenheitsleere, wie sie Eugen während seines ersten Monats in Paris erlebt hatte, vergangen auch der blindlings und bestürzt geführte Kampf gegen Masse und Zahl einer aufgebäumten Welt, die zu verwickelt für das Erfassen, zu fremd und ausländisch für das Verständnis war, vergangen auch die alten Gefühle eines Ertrinkens im Entsetzen, die Empfindung atomischen Alleinseins, die er bei seinem blinden Streunen durch die fremden zahllosen Horden dunkler Fremdlingsgesichter gehabt hatte, die Vorstellung, ein augenloses, krabbelndes, dahinschießendes Zappeltierchen zu sein in den Meerestiefen einer furchtbaren, ozeanischen, nach Ausmaß und Gefüge, Eigenschaft und Sinn unbegreiflichen Welt. Vergangen waren alle die Empfindungen von Kampf, von uneinträglicher, fremder, unschöpferischer Vergeblichkeit, – jene Widersacherei, die den Menschen mit Leib und Seele zum Wrack macht, die ihn an den lebendigen Sehnen mit bebender Erschöpfung und ihn im Herzen mit der Kränke der Verzweiflung schlägt, – jenes grauenhafte Gefühl des Versprengtseins in eine planetarische Leere, alle hohen Hoffnungen und das Zielwollen des Geists und die Unversehrbarkeit des Herzens verloren zu haben, zerborsten, verschüttet und verspritzt zu sein in ein greuliches, hoffnungsloses Nichts, wo aller Geistesmut des Menschen modrig wird und verfault wie ein vorjähriger Apfel, wo alle hochfliegenden Pläne, ein großes Werk zu schaffen, schwächlicher erscheinen als die Kratzspur eines Hunds an einer Wand, – ein Entsetzen, wie es einen Menschen in der großen Dschungel einer unbekannten Stadt und auf beschwärmten Straßen anpacken kann, ein Horror, der bei weitem furchtbarer ist, als es das unbekannte Geheimnis irgendeiner Amazonasdschungel auf Erden sein kann.

All das war nun vergangen, – der verschlingende Hunger, das Ertrinken im Entsetzen, die blinde Verwirrung des alten, vom Geschwärm heimgesuchten Menschengemüts, der fruchtlose Streit des faustischen Lebens, – und statt dessen hatte Eugen nun das glitzernde Spielzeug, das Spielzeug der Legende, der Bezauberung und des geschwinden Besitzens.

Die Franzosen, ja, sie waren eine reizende Rasse, – so heiter, so leicht und so verbesserlich, – so kindlich, so etwas Ähnliches wie eine reizende Spielzeugrasse.

Elinor machte das Verhältnis zu all diesen guten Leuten, die ringsum auf den Straßen einherschwärmten, wunderbar leicht und klar und angenehm. Nun war nichts Fremdes mehr an diesen Menschen; zwar ließ sich ihr Tun und Lassen, nachdem sie nun mal Franzosen waren, nicht voraussagen, aber sie waren vollkommen verständlich. Elinors Einstellung zu ihnen, wie sie sie in einem schnellen, heiteren, halbhingewandten Gerede ausdrückte – gewissermaßen als ein laufender Kommentar zu dem Leben ringsum, das sie beim Fahren vorbrachte – machte das schlechthin deutlich. Diese Leute waren eine putzige Bande, eine drollige Bande, eine unvergleichliche Bande, – sie waren reizend, aufregend, unverantwortlich, eine wunderliche Spielzeug- und Kinderrasse, – sie waren eben »Franzosen«.

»Schon recht, mein Guter«, murmelte sie vor sich hin, als ein fetter Taxifahrer in einem verwegnen Schlangenbogen vor ihr her fuhr und zu einem sieghaften Halt kam, »tu ganz, was Du für recht hältst, mein Liebling, ganz, was Du für recht hältst, ich werde Dir nicht dreinreden.« – »Gott!« rief sie und warf lachend den Kopf zurück, »schau doch den alten Knaben da drüben am Tisch an, den mit dem lustigen Schnurrbart! Hast Du gesehen, wie er den Bart zwirbelte und dem Mädchen, das grad vorbeiging, Schalksaugen machte? Einfach unglaublich!« rief sie, lachte wieder, biß sich die Unterlippe und schüttelte fein erstaunt den Kopf. – »Thank you!« murmelte sie höflich, als der Verkehrspolizist pfiff und mit dem kleinen, weißen Direktionsstab das Zeichen zum Fahren gab. »Monsieur l'Agent, vous êtes bien gentil!« Sie stellte das Getriebe lautlos in einen schnelleren Fahrgang ein und schoß an dem Verkehrspolizisten vorbei.

Auf diese wundervolle und berauschende Weise defilierte Paris an den Fahrenden vorbei und war ein großes glitzerndes Spielzeug, eine reiche, glanzvoll aufgestellte Anlage mit Luxusläden und großen Cafés, ein schönes, lebendes Bild mit einer Million heitrer, faszinierender Leute, die alle auf ihr Vergnügen aus und von Freudigkeit erfüllt waren und etwas so lebhaft Helles, so eigen Unvergleichliches an sich hatten, daß das große Ganze sich in tausend bezaubernde und glänzende Teilbilder musterhaft gliederte, Teilbilder, deren ein jedes wundervoll und unvergeßlich war, und die sämtlich in das einzige Gefüge, die schlicht-großartige Klarheit des geplanten Ganzen paßten.

Sie fegten dahin durch die ungeheure Wabe der Binnenstadt, durch die große, schäbige Verworrenheit der östlichen Stadtbezirke, durch die lumpigen, häßlich hingefläzten Vorstädte.

Und nun – es schien schnell zu gehn wie im Traum – waren sie draußen in der offnen Landschaft, sausten sie voran auf den von hohen Pappelreihen eingefaßten Landstraßen unter einem feuchtgrauen Himmel, in dem ein weißes, milchiges, seelisch beunruhigendes Licht glomm.

Elinor war sehr aufgelaunt, quecksilbrig, voll von plötzlichem, spontanem Gelächter, kleinen Trällermelodien, tiefer Gewichtigkeit, schnellem, unerklärlichem Entzücktsein. Ann verblieb in ihrer mürrischen Stille. Starwick war anscheinend die ganze Zeit nah am Kollaps. In Château-Thierry erklärte er, er könne nicht länger mitmachen; sie hielten, brachten ihn in ein kleines Café oder Estaminet, stärkten ihn mit etwas Brandy. Er versank in eine erschöpfte Halbohnmacht, aus der er nicht zu erwecken war. Zu allem Flehn und allem guten Zureden schüttelte er bloß den Kopf und murmelte unwirsch:

»Ich kann nicht! – Laßt mich hier! – Ich kann nicht weiter!«

Es dauerte drei Stunden, bis sie ihn wieder auf die Beine brachten, aus dem Gasthaus heraus und zurück in den Wagen. Ann, heftig errötet vor grollendem Zorn, legte wütend los:

»Du hattest kein Recht, Elinor, ihn zu dieser Fahrt zu zwingen! Du wußtest, daß er nicht durchhalten konnte. Er ist ja wie tot auf den Beinen. Ich meine wirklich, wir sollten ihn nun nach Paris zurückbringen.«

»Tut mir leid, meine Liebe«, erklärte Elinor spröd mit einem feinen, hellen Lächeln, »aber hier wird nicht umgekehrt! Wir fahren weiter!«

»Frank kann doch nicht länger!« rief Ann zürnend aus. »Und Du weißt es genau! Es ist eine elende Schande, ihn in einer solchen Verfassung mitzuschleifen.«

»Demungeachtet fahren wir weiter«, erklärte Elinor mit grimmiger Freudigkeit. »Und Mr. Starwick fährt mit. Er wird nun bis zum bittern Ende durchhalten. Und wenn er unterwegs stirbt, kriegt er ein Soldatenbegräbnis auf dem Felde der Ehre ... Allons, mes enfants, avancez.« Und heiter und leicht, die Melodie von ›Marlborough se va-t'en guerre‹ vor sich hin trällernd, stellte sie den Fahrgang ein, und der Wagen schoß wieder glatt und schnell voran.

Es war eine entsetzliche Reise, eines von jenen Erlebnissen, die, weil sie sich so grimmig und hoffnungslos in die Länge ziehen, ihr alpdruckhaftes Erinnerungsbild unauslöschlich ins Gemüt prägen. Das graue Licht des kurzen Wintertags war schon am Schwinden, als die vier Château-Thierry verließen. Und als Reims vor ihnen lag, begann es bereits dunkel zu werden, die Lichter der Stadt zwinkerten auf, hie und da eines, fern, in provinzialer Trostlosigkeit. Keines von den vieren wußte, warum sie nach Reims führen, keines verstand den Sinn der Fahrt, keinem war klar, was sie zu sehen gekommen waren, – es erkundigte sich auch keines danach.

Als sie in die Stadt kamen, war es schon fast Nacht. Elinor fuhr sofort zur Kathedrale, hielt an, stieg aus dem Wagen.

»Voilà, mes amis«, sagte sie, »wir sind da!«

Sie deutete mit erhaben schwunghafter Gebärde auf die große, trümmerhafte Baumasse, die im letzten, trüben Graudämmer des Tags gerade noch zu erkennen war, – ein riesenhaft aufragendes Denkmal aus zerschmetterten Bögen und beschädigten Strebepfeilern; ein Klöppelwerk aus furchtbarem Stein, löcherig, zackig, gegen einen ganz matten Widerschein von Licht, die versehrten Fassaden mit den Bildern von alten Heiligen und Königen und die von Granaten angefetzten Türme, – Zwielichtruine einer Zwielichtwelt.

»Herrlich! Erhaben! Süperb!« rief Elinor aus. »Frank! Frank! Du mußt aussteigen und Deine Augen an diesem edlen Monument laben! Ich hab Dich doch so oft seine Schönheit rühmen hören ... Aber, mein Lieber, freilich, Du mußt unbedingt!« rief sie fein, als er matt und mutlos aufstöhnte, und redete ihm gut zu: »Sieh mal, Du würdest es Dir selber und auch mir nie verzeihen können, wenn Du die ganze Strecke bis nach Reims gefahren wärst, ohne der Kathedrale auch nur einen Blick zu gönnen.«

Trotz seines verdrossen gemurmelten Protests packte sie ihn beim Arm und zog ihn aus dem Wagen. Und dann, eine kleine Weile nur, als er mit blinden, unsehenden Augen auf den großen, grauen, zwielichtigen Bau stierte, mußte sie ihn stützen, während Eugen ihn von der andern Seite festhielt.

Dann stiegen sie alle wieder ein, und Elinor fuhr sie nach dem besten Gasthof der Stadt. Starwick wäre beinahe zusammengebrochen, als er abermals aussteigen mußte; seine Knie versagten, und er wäre hingefallen, wenn Ann ihn nicht schnell aufgefangen hätte. Sein Zustand war erbarmungswürdig. Er konnte den Kopf nicht mehr hochhalten, er wackelte ihm betrunken hin und her auf dem Hals wie eine Blume, die für ihren Stiel zu schwer ist. Seine Augen waren glasig und bleiern. Er konnte nicht ungestützt ins Café-Restaurant des Hotels gehen. Seine Füße hob er und schleppte sie gleichsam hinter sich her wie Bleigewichte. In dem großen, glänzenden Speisesaal fand Elinor alsbald einen freien Seitentisch. Starwick taumelte zu dem gepolsterten Wandsitz und sank sofort in sich zusammen. Von diesem Augenblick an war er nie mehr ganz bei Bewußtsein. Ann setzte sich neben ihn und hielt ihn im Arm. Sein Kopf lag an ihrer Schulter wie der Kopf eines schlafenden Kindes. Ann war rot vor Zorn im Gesicht, sie starrte Elinor grollend an, aber Elinor verriet mit keinem Wort und keiner Gebärde, daß sie an Starwicks Zustand oder an Anns Benehmen irgend etwas Außergewöhnliches bemerke.

Sie schwatzte vielmehr munter drauflos, witzig und in bester Laune unterhielt sie sich mit Eugen, sie unterhielt ihn so, als wäre er eine ganze Tischgesellschaft, und er hatte sie nie quecksilbriger, schneller, heiterer, reizender erlebt als an diesem Abend. Sie verkündete lustig, sie sei die Gastgeberin und diese Mahlzeit ihre Einladung, sie bestellte in Hülle und Fülle, ein köstliches Mahl und dazu Champagner aus den berühmten Kellern des Gasthofs. Und jedermann – sozusagen – aß tüchtig mit einem Hunger, wie er ihn von der langen Fahrt durch die kalte Luft mitgebracht hatte, – jedermann, das heißt jedermann außer Ann, die sehr wenig aß und verärgert und stumm, einen Arm um Starwicks Schulter gelegt, dasaß, und außer Starwick, der überhaupt nichts aß, weil es unmöglich war, ihn aus seiner tiefen Verdumpfung zu wecken.

Es war nach neun Uhr, als sie aufbrachen. Elinor zahlte. Sie unterhielt sich immer noch so wohlgemut, als ob das ganze Unternehmen ihr und ihren Gästen nichts als ungemischte Freude bereitet hätte. Sie ging voran. Starwick wurde von Ann und Eugen, unter dem Geleit mehrerer tiefbekümmerter Kellner hinausgeschleppt und geschleift und schließlich in den Wagen gesetzt. Dann, als Ann und Eugen eingestiegen waren, rief Elinor vergnügt: »Sind wir fertig, Kinder?« und ließ den Motor anlaufen für die lange Rückfahrt nach Paris.

Eine schauderhafte, eine unvergeßliche Reise wurde aus dieser Rückfahrt. Ihr Schreck und Graus schien kein Ende zu nehmen. Die Zeit dehnte sich aus zu Unendlichkeiten, zu Unglaublichkeiten, zu Jahrhunderten. Den Fahrenden war es schließlich, als könnten sie nie ankommen, als rollten sie, ohne doch vorwärts zu kommen, in raumloser Leere dahin, als hingen sie, in bewegungsloser Bewegung, in unstiller Stille, in wandellosem Wandel gefangen im gräßlichen planetarischen Äther, als drehten die vier Räder am Wagen sich vergebens.

Gleich zu Anfang schon wußten sie nicht, ob sie auf der rechten Straße wären, und sofort hinter Reims hatten sie die Richtung vollkommen verloren. Es war eine rauhe Nacht spät im Februar. Ein dicker Nebeldunst, der ständig undurchdringlicher wurde, hatte die Erde verhüllt, und in der weißen Undurchsichtigkeit der Schwaden glomm der ertrunkene Mond mit einem Gespensterlicht, das die Nebelwüste in ein grenzenloses, milchiges Meer verwandelte, und in diesem Nebel lauerte verstohlen eine elende, ruppige, grausam bissige Kälte, die einem durchs betäubte Fleisch bis auf die Knochen ging.

Durch diesen Milchozean antarktischen Nebels, der Frankreich bedeckte, krochen die vier Leute im Wagen die ganze gräßliche Nacht dahin, und ihnen war, als wären sie Hunderte von Meilen gefahren und hätten das im Nebel vergangene und vergessene Paris längst verfehlt und sie müßten bald die äußeren Vorstädte von Lyon oder von Bordeaux erreichen oder aber die tröstlichen Lichter am Ärmelkanal sehn oder aber sie kämen nach einer Fahrt durch ganz Belgien bald zu den Ufern des Rheins.

Von Zeit zu Zeit fuhren sie durch ein gespenstisches Dorf. Hart an der Straße, vom Nebel umhangen, standen öd und schnöd mit weißen Mauern die alten Häuser, aus denen kein Laut kam. Dann lief die Straße wieder durch Landschaft, aber was für eine Landschaft das wäre, wo und in welcher Gegend sie läge, das wußte keins von den Fahrenden, wagte keins von ihnen zu sagen. Und plötzlich, zur Linken, tiefstehend, fast an der Erde, sahen sie den Mond. In einem blinden Loch in der Nebelwand erschien der Mond, und das war ein Mond, wie ihn kein Sterblicher je sah. Es war ein alter, verrückter, ruinierter Krater von einem Mond, ein vorzeitliches, abgenutztes, irrsinniges Ding, das rot glomm wie eine verlöschende Kohle und wie der alte, ruinierte Mond in einem phantastischen Traum war. Und da hing dieser Mond zur linken Hand gerade am Rand eines niedrigen Hügelzugs, ganz tief, vollkommen auf gleicher Höhe und so gespenstisch nah, daß man ihn schier greifen konnte.

Gegen Mitternacht kamen sie in eine gespenstischweiße Phantomstadt, die Elinor plötzlich, ganz wie ein Mensch, der die Stätten seiner Kindheit besucht, als Soissons erkannte. Sie kannte die Stadt aus dem Krieg; das Sanitäts-Depot, für das sie anderthalb Jahr lang einen Ambulanzwagen gefahren hatte, hatte dort seinen Standort gehabt. Starwick war halb bei Bewußtsein. Er hockte zusammengekauert auf dem dunklen Rücksitz des Wagens, den Kopf an Anns Schulter gelehnt. Er stöhnte erbärmlich und sagte, er könne nicht mehr weiter, sie müßten halten. Sie fanden ein Hôtel-Café, das noch auf hatte, und schleppten Starwick hinein. Sie gaben ihm Brandy, sie versuchten, ihn zu sich zu bringen; er sah wie ein Toter aus und sagte, er könne nicht weiter, die andern müßten ihn hierlassen. Und nun wurde Elinors Ton zum erstenmal besorgt und ängstlich und ernst; auch ihr Blick war nun nicht mehr hart, sondern weich und bekümmert. Sie blieb fest; sanft aber entschieden sagte sie nein. Starwick verlor wieder das Bewußtsein. Sie sah Eugen und Ann mit bekümmerten Augen an und sagte ruhig:

»Wir können ihn nicht hierlassen. Wir müssen ihn nach Paris zurückbringen.«

Nachdem sie zwei schauderhafte Stunden lang versucht hatten, ihn wiederzubeleben, ihn zu bereden und seine ohnmächtigen Glieder zu einer endgültigen Anstrengung rüstig zu machen, gelang es, ihn in den Wagen zurückzubringen. Ann wickelte ihn in Reisedecken ein und hielt ihn im Arm, wie eine Mutter ihr Kind hält. Im matten Gespensterschimmer des Lichts glänzte ihr Antlitz dunkel und schwermütig; sie starrte unentwegt geradeaus aus dunklen, reglosen Augen.

Ein besorgter Kellner hatte ihnen beschrieben, wie sie fahren müßten, und so fuhren sie nun weiter auf einer Straße, die mutmaßlich nach Paris führte. Die Nacht zerdehnte sich zur Endlosigkeit, die weiße Nebelhülle wurde dichter und dichter, sie kamen wieder durch gespenstische Dörfer, die plötzlich und schroff wie im Traum, fremd, stumm und benommen aus der Spukhaftigkeit des Alpdrucknebels auftauchten. Der alte rote Krater von einem Mond schwand schließlich hinter einer Bodenwelle ab. Sie sahen nun überhaupt nichts mehr, die Straße war vollkommen wie ausgelöscht, die Scheinwerfer am Wagen brannten gegen einen undurchdringlichen, weißen Wall, – schneckenlangsam, den Weg ertastend, kamen sie voran.

Sie fuhren Schritt für Schritt, Eugen stand auf dem Trittbrett und versuchte blindlings durch die Nebelwand lugend den seitlichen Rand des Straßenbetts festzustellen. Die Kälte schlug durch den Nebel, als triebe sie einem Nägel ins Fleisch. Von Zeit zu Zeit stoppte Elinor den Wagen, und Eugen sprang ab, stampfte mit betäubten Füßen, schwang die erfrornen Arme und blies sich munter die steifen Finger warm. Und dann begann der unendlich mühselige Schneckenfortschritt wiederum.

Irgendwie, irgendwo kam eine Morgenstimmung in diesem blinden Nebelmeer auf. Die Gespenster von Städtchen und Dörfern erschienen nun häufiger, – es waren nun auch größere Städtchen, und gelegentlich fuhr Elinor gegen Rinnsteine, ehe noch der Warnruf ihres Auslugers sie davor bewahren konnte. Zweimal, auf unbekanntem Asphalt fahrend, stießen sie gegen Baumstämme. Es war nun ein Schienengleis auf der Straße, sie fuhren über holpriges Pflaster, sie spürten, daß die Umwelt komplizierter geworden war.

Und plötzlich vernahmen sie den Laut, der von allen Morgenlauten am meisten erregt und gemahnt: – das einsame Klappern beschlagener Hufe auf dem Pflaster. Im dünnen Geisterlakenlicht sahen sie den Gaul und den Marktwagen, – einen Karren mit zwei hohen, knarrenden Rädern, beladen mit dem süßen, reinen Grün-und-Gold von Karottenbündeln, deren jedes sauber gebunden war wie ein Blumenstrauß. Elinor und Eugen konnten den matten Gespensterschein auf dem Gesicht des Fuhrmanns erkennen, konnten sich denken, daß der große schwerfällige Apfelschimmel, der voranklapperte, den Weg zum Pariser Zentralmarkt wußte.

Sie kamen hinein nach Paris, und der Nebel hob sich. Im ungeheuren Gewand des sich zerlösenden Dunsts erschien mit ihren alten Gebäuden die Stadt – gespenstisch, hager, bleichgeboren im ungewissen Graulicht. Ein Mann ging schnell auf einem terrassierten Steig; er ging gebeugten Haupts, die Hände tief in den Taschen, – die Gestalt des Arbeiters, seit die Welt begann. Im zunehmenden grauen Morgenlicht sahen sie einen Kellner in einem Café, der, die Schürze hochgesteckt, die auf den Tischen aufgestapelten Stühle herunterhob und zurechtstellte. An den hellahornbraunen Fassaden von Läden und Bars wurden die Zeichen leserlich: – Bière, Pâtisserie, Tabac. Plötzlich tauchten die großen, beschwingten Massen des Louvre auf; nun war es schon grauer Morgen, und Eugen hörte, wie Elinor leise und aufatmend »Gott sei Dank!« sagte.

Und nun die Brücke, die Seine, wiederum, die frontale Leere der Häuser am Kai, die hager gegen das Licht standen, dann die enge Durchfahrt der Rue Bonaparte und schließlich um die Ecke in die stille, leere Straße, – Elinor hielt vor Eugens Hotel.

Er stieg aus, die beiden Frauen sagten ihm schnell, eilfertig, halbabwesend Lebwohl. Der Wagen fuhr weiter. Die Frauen dachten nun an niemand und nichts mehr außer an Starwick, an des Lebens schicksäligen Liebling, den Seltnen, den Köstlichen, den mit allem Begünstigten. Im grauen Licht, seiner selbst unbewußt lag dieser noch vollkommen eingewickelt in die schweren Reisedecken auf dem Kissen von Anns Schulter.


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