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XXXIII

Gant erwachte plötzlich, und sein Blick fiel sofort auf Eliza, die auf dem Stuhl neben seinem Bett saß.

»Du hast geschlafen«, sagte sie leis, ernst lächelnd in einer gradblickenden, fast anklägerischen Art.

»Ja«, sagte er ein wenig heiser atmend. »Wieviel Uhr ist's?«

Es war kurz vor drei Uhr morgens. Sie sah nach der Uhr und sagte es ihm. Er fragte, wo Helene wäre.

»Ei, gleich nebenan im Zimmer«, sagte Eliza schnell. »Ich glaube, sie schläft. Sie sagte, sie war müd, weißt Du, aber wenn Du aufwachtest und sie brauchtest, solle ich sie wecken. Soll ich's tun?«

»Nein«, sagte Gant. »Laß sie schlafen. Sie braucht die Ruhe, das arme Kind. Laß sie schlafen.«

»Ja«, sagte Eliza und nickte. »Und Ruhe ist auch genau, was Du brauchst. Also komm, versuch noch ein bißchen weiterzuschlafen«, redete sie ihm zu. »Schlaf ist, was wir alle brauchen. Keine Medizin ist besser als Schlaf, er wäre das Hauptheilmittel der Natur, hat der weise Mann gesagt«, erklärte sie auf die von ihr beliebte, ans Sprichwörtliche anklingende Art. »So versuche also weiterzuschlafen, und wenn Du nach einem guten Nachtschlaf aufwachst, wirst Du Dir wie ein neuer Mensch vorkommen. Wenn Du Deinen richtigen Schlaf hast, dann ist die Schlacht halb gewonnen, und Du bist auf dem Weg zur Genesung.«

»Nein, ich habe genug geschlafen«, sagte Gant.

Sein Atem ging heiser und schwer, und sie fragte ihn, ob er bequem liege, und ob er einer Handreichung bedürfe. Er schwieg eine Weile, dann murmelte er unterm Atem etwas, das sie nicht ganz deutlich verstehn konnte, das aber wie »kleiner Bub« klang.

»Eh? Was? Was sagst Du? Kleiner Bub –?« fragte Eliza eindringlich, als er nicht antwortete.

»Hast Du ihn gesehn?« fragte er.

Sie sah ihn einen Augenblick besorgt an, dann sagte sie:

»Pah! Mich deucht, Dir hat geträumt.«

Er schwieg, im Raum war kein Laut außer seinem heiseren, ein wenig schwergehenden Atem. Dann murmelte er:

»Ist jemand ins Haus 'reingekommen?«

Sie blickte ihn scharf und forschend an mit besorgten Augen.

»Heh? Was? Ei nein, ich glaube nicht«, sagte sie zweifelsvoll. »Es sei denn, Du hast Gilmer gehört, der vielleicht heimgekommen und auf sein Zimmer gegangen ist.«

Wieder schwieg Gant eine Weile; sein Atem ging heiser und schwer, seine Hände lagen mit ihrer ungemeinen Kraft und Gelassenheit neben ihm auf dem Bett. Alsdann fragte er leis:

»Wo ist Bacchus?«

»Eh? Wer? Meinst Du meinen Onkel Bacchus?« fragte sofort Eliza überrascht.

»Ja«, sagte Gant.

»Ei pah! Mr. Gant!« rief Eliza lachend aus, und im selben Augenblick fragte sie sich verwundert, ob ›seine Gedanken unterwegs‹ seien, aber ein einziger Blick in seine stillen Augen und außerdem die ruhige Vernünftigkeit im Ton seiner Stimme versicherten ihr, daß er ›bei sich selber‹ wäre. »Pah!« wiederholte sie, legte einen Finger an den breiten Nasenflügel und lachte schlau. »Tatsächlich, Du mußt seltsame Sachen geträumt haben!«

»Ist er da?«

»Nein, aber beschwören will ich's!« rief sie aus. »Was denkst Du denn?! Der Onkel Bacchus ist weit draußen im Westen in Oregon. Es sind zehn Jahre, seit er zum letztenmal hier war, weißt Du, das war in dem Sommer, als die Teilnehmer von der Schlacht bei Gettysburg dort das Kriegertreffen hatten.«

»Ja«, sagte Gant, »nun erinnere ich mich.«

Er verstummte wieder und starrte ins Halbdunkel, seine Hände lagen ruhig neben ihm, sein Atem ging heiser, aber er hatte keine Schmerzen. Eliza saß neben ihm und sah ihn mit verwunderten Augen an, sie hatte die Hände lose vor dem Bauch verschränkt, sie schürzte die Lippe und dachte: ›Mich wundert, wie er auf den Onkel Bacchus gekommen ist. Wie kann er nur darauf gekommen sein, an ihn zu denken! Seine Gedanken sind doch nicht unterwegs, das ist ganz sicher. Er weiß genauso gut, was er sagt, wie ich weiß, was ich sage. Also muß er wohl geträumt haben, daß der Bacchus hier wäre ... aber es ist sicher merkwürdig, daß er es gerade so vorbringt.‹

Er war so still, daß sie dachte, er sei wohl wieder eingeschlafen, er lag regungslos da, die Augen ins Halbdunkel gerichtet, die Hände ungeheuer und untätig neben ihm. Aber plötzlich sprach er zu ihrer Überraschung abermals, und zwar so leis und ruhig, daß es fast schien, als spräche er mit sich selber.

»Mein Vater starb im Jahr vorm Bürgerkrieg«, sagte er. »Damals war ich neun. Ich hab ihn nie recht kennengelernt. Ich glaube, meine Mutter hatte es recht schwer, sieben Kinder großzuziehen. Und nichts als die kleine Farm zum Leben ... und ein paar von uns waren noch zu klein, um ihr recht an die Hand zu gehn ... und Georg zog dann auch noch in den Krieg ... Sie fuhr uns manchmal sehr scharf an, aber ich glaube, sie hatte es sehr schwer. Wir hatten es sehr schwer, wir alle«, murmelte er, »wirklich, das kann ich Dir sagen.«

»Ja«, sagte Eliza, »das muß es wohl gewesen sein. Ich weiß auch noch, wie sie mir davon sprach, ich habe mich doch damals auf unsrer Hochzeitsreise, weißt Du, mit ihr unterhalten ... ei! wie das damals war!« Sie lachte leis auf und legte, schlau wie sie es immer tat, einen Finger an den breiten Nasenflügel. »Manchmal hatte ich rechtschaffen meine Müh und Not, um das Gesicht nicht vor Lachen zu verziehen, ei, Du weißt doch, die Art, wie sie redete und die Ausdrücke, die sie an sich hatte ... na, sie nahm kein Blatt vor den Mund, manchmal mußte ich wirklich das Gesicht wegwenden, damit sie nicht merkte, wie mir das Lachen ankam ... da sagte sie mal, weißt Du: ›Ich ward Witwe mit sieben Kindern zum Großziehen, aber ich habe nie von niemanden keine Mildtätigkeit angenommen; und wie ich ihnen gesagt habe, bin ich mein Leben lang dem Hund unterm Bauch hergekraucht, und nun glaube ich, daß ich ihm auch von allein über den Hintern komme.‹«

»Ja«, sagte Gant und grinste matt. »Das habe ich sie oft sagen hören.«

»Und damals eben, weißt Du«, erklärte Eliza, »erzählte sie mir auch von Deinem Vater, und wie schwer er sein Leben lang geschafft hatte auf der Farm, und wie er gestorben war, an der – nun, ich nehme an, es war Schwindsucht.«

»Ja, das war's«, sagte Gant.

»Und natürlich habe ich sie nicht gefragt danach«, fuhr Eliza nachdenklich fort, »ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen, aber aus dem, was sie mir ungefragt erzählte, würde ich schließen, daß er – nun, ich nehme an, ein Trinker war.«

»Ja, das war er wohl«, sagte Gant.

»Und ich weiß auch noch, woraus ich das schloß«, sagte Eliza. Sie lachte wieder und fuhr sich mit dem Finger an den breiten Nasenflügel. »Sie erzählte, daß er mal nach der Stadt ging – Brant's Mill glaube ich, sagte sie – und sie hatte Dich und Deinen Bruder Wes mitgeschickt, ihr solltet zusehen, daß er auch richtig und zur rechten Zeit heimginge ... dann aber muß er doch in der Stadt ein paar Kumpane getroffen haben, und mir scheint, er hat dann getrunken und ist zu lange geblieben ... und dann hat er wohl Angst vor der Schelte gehabt, die es zu Hause setzen würde ... und aus diesem Grund hat er wohl die Uhr gekauft ... diese Uhr da, die jetzt hier auf dem Kaminsims steht ... so muß es doch wohl ganz sicher gewesen sein, er dachte, das würde Frieden stiften, und sie würde ihn dann nicht schelten, weil er so lang geblieben war und getrunken hatte.«

»Ja«, sagte Gant, der reglos an die Decke starrend zugehört hatte, »ich erinnere mich wohl, genauso war es.« Ein mattes Grinsen spielte um seine Mundwinkel.

»... und dann auf dem Heimweg muß er den Pfad verloren haben«, fuhr Eliza fort. »... es hatte geschneit, und ich nehme auch an, daß es dunkel geworden war, und daß er über den Durst getrunken hatte, und so ist er, anstatt auf den Weg einzubiegen, der nach Eurer Farm geht, weitergegangen, bis er an Jakob Schäfers Farm vorbei kam ... und ich nehme an, der Wes und Du, armes Kind, ihr müßt einfach mitgelaufen sein, wohin er Euch führte und Euch gedacht haben, es war schon so recht ... und dann, als er merkte, daß er den Weg verfehlt hatte, sagte er, er wäre müde und müßte sich ein wenig ausruhen und – beschwören will ich's, das läßt sich kaum vorstellen, was er dann tat! –« Eliza lachte. »Er legte sich einfach nieder in den Schnee, die Uhr neben sich, und schlief fest ein.«

»Ja«, sagte Gant, »und etwas an der Uhr ging kaputt.«

»Ja«, sagte Eliza, »das hat sie mir auch erzählt, und auch, wie Ihr dann ganz leise und verstohlen an jenem Abend gegen neun Uhr ins Haus gekrochen kamt, als sie und ihre andern Kinder schon zu Bett waren ... und wie sie hören konnte, wie er dem Wes und Dir zuflüsterte, Ihr möchtet ja leise sein ... und wie Ihr mucksmäuschenstill die Treppe 'raufgeschlichen kamt ... und wie er dann auf den Zehenspitzen 'reinkam und so tat, als wär gar nichts los, und die Uhr aufs Bett legte ... und da nehme ich nun an, daß nur das Glas an der Uhr zerbrochen war, und daß er es sicher in der Hoffnung tat, sie würde morgens beim Aufwachen die Uhr auf dem Bett liegen sehn und ihn dann wegen seines Ausbleibens nicht schelten ...«

»Ja«, sagte Gant, aufmerksam und noch immer leicht grinsend, »und dann fing die Uhr zu schlagen an.«

»Ja«, lachte Eliza und legte den Finger unter die breitangesetzte Nase. »Und ich erinnere mich noch, wie sie lachen mußte, als sie es mir erzählte, und sie sagte, Ihr hättet alle drei Gesichter gemacht wie die Hämmel, als die Uhr zu schlagen anfing, und sie hätte dann nicht das Herz gehabt, Euch zu schelten.«

Und Gant grinste wieder, und trocken vor sich hin lachend sagte er leis: »Bei Gott!« und dann bemerkte er: »Ja, genauso war's. Der arme Kerl.«

»Wenn man sich aber vorstellt«, fuhr Eliza fort, »daß er sich einfach in den Schnee hinlegte und schlief, während Ihr beiden Buben ihm zusaht, da muß man sagen, daß er da wohl kaum alle seine Sinne beisammen hatte. Und ich erinnere mich noch, wie sie mir erzählte, daß sie Dich und den Wes am nächsten Tag ausfragte, und ich nehme auch an, sie legte los und wollte Dich schelten, weil Du nicht besser auf ihn achtgegeben hättest ... und sie sagte mir auch, wie Du drauf geantwortet hast: ›Also, Mutter, ich dachte, das wär' schon recht so. Ich bin hingegangen, wo er hinging, ich dachte, er weiß doch den Weg.‹ Und daraufhin, sagte sie, hätte sie nicht das Herz gehabt, Dich zu schelten ... Armes Kind, Du kannst ja auch kaum mehr als acht oder neun Jahr alt gewesen sein, so ein kleiner Bub, und da hast Du gedacht, es wär' schon recht, wenn Du Deines Vaters Fußtapfen folgtest.«

»Ja«, sagte Gant und grinste wieder matt. »Ich habe meine Beine tüchtig strecken müssen, um meine Füße in seine Tapfen zu setzen. Ich hatte meine liebe Not, um Schritt mit ihm zu halten ... Herrgott!« sagte er dann mit ganz matter, leiser Stimme, »wie genau mir das alles denkt. Das war gerade in dem Winter, ehe er starb.«

»Und Du hast immer seitdem diese Uhr gehabt«, sagte Eliza. »Diese Uhr, die jetzt hier auf dem Kaminsims steht ... jedenfalls aber hast Du sie immer gehabt, seit ich Dich kenne, und ich nehme an, daß Du sie schon zuvor gehabt hast, denn Du hast mir mal erzählt, Du hättest sie mit in den Süden gebracht. Die Uhr da muß also mindestens sechzig Jahre alt sein.«

»Ja«, sagte Gant. »Ganz so alt.«

Und dann wieder schwieg er und lag so still und regungslos da, daß im Zimmer kein Laut war außer seinem matten, mühsamen Atem, dem leisen Hauch der kühlen Nachtbrise in den Gardinen, dem Ticken der Standuhr im Holzgehäus. Und als dann Eliza bereits dachte, er sei wieder eingeschlummert, sprach er wieder in derselben fernher klingenden, gleichmütigen Stimme wie zuvor:

»Eliza«, sagte er – und ihr Name, bei dem er sie in vierzig Jahren nur zweimal genannt hatte, klang ihr so ungewohnt, daß sie wie ein überraschtes Tier schnell aufschreckte und ihn mit ihrem weißen Gesicht und den altersschwachen, braunen Augen betreten ansah. »Eliza«, sagte er leis, »Du hast es schwer mit mir gehabt, es ist Dir hart geworden. Ich möchte Dir sagen, daß es mir leid tut.«

Sie saß starr vor Erschütterung da, er hob seine große rechte Hand und legte sie ganz sanft auf die ihre. Sie blieb steif, wie erfroren, das Entsetzen stand in ihren Augen, ihr war, als wäre ihr alles Blut vom Herzen weggeströmt, ein fahles Lächeln bebte ungewiß und albern um ihre Lippen. Alsdann versuchte sie ungeschickt, ihm ihre Hand zu entziehen, sie fing an, drollig verlegen zu stammeln, zügelte sich und sagte: »Ah-a-ah, nun, Mr. Gant, nun ist's schon recht, ja, ich glaub' ...« Und da taten ihr plötzlich seine wenigen, einfachen Worte des Bedauerns und der Zuneigung das an, was er mit all seiner Schelte und Gewalttätigkeit, mit all seinem Unrecht und seiner Trunksucht ihr in vierzig Jahren nicht anzutun vermocht hatte: – sie mußte weinen. Sie entwand ihm ihre Hand, ihr Gesicht verzog sich zu jener grotesken und kläglichen Grimasse des Kummers, in die Frauengesichter sich in Augenblicken des Grams seit Beginn aller Zeit verzogen haben, und mit einer rührenden Kindergebärde die zur Faust geballten Hände auf die geschlossenen Augen pressend, senkte sie den Kopf und weinte bitterlich.

»Es ist schwer gewesen, Mr. Gant, sehr schwer gewesen«, flüsterte sie. »Nicht so sehr das Verfluchtwerden und die Trinkerei ... an das gewöhnte ich mich, aber ich glaube, ich war ein zu unwissendes Mädchen, als wir uns kennenlernten ... und ich hatte keine Vorstellung davon, wie das Leben in der Ehe ist ... das andere hätte ich schon ertragen können, die Schimpfwörter und auch all die bösen Worte, wenn ich wieder ein Kind bekommen sollte ... aber das damals, als der Grover starb, als Du mir vorgeworfen hast, ich wäre an seinem Tod schuld, weil ich die Kinder mit nach Saint Louis auf die Weltausstellung genommen hatte ...« Als sie jener Vorwürfe gedachte, war es, als finge eine kaum verharschte Wunde wieder an zu bluten, und sie weinte heftig auf. »... das war das Schlimmste ... und manchmal habe ich zu Gott gebetet, er möge mich nicht wieder aufwachen lassen ... er war so ein feiner Bub ... der Beste, den ich geboren habe ... ganz so, wie es damals in der Zeitung über ihn stand, hatte er wirklich den Verstand und die Reife, als wäre er doppelt so alt ... er war mir so ans Herz gewachsen, ich dachte immer, aus ihm würde ein Führer und Beistand für seine andern Geschwister werden ... und als er starb, war mir, als war mein Alles dahin ... und daß Du dann das damals zu mir gesagt hast ...« Die Stimme versagte ihr, sie hielt inne. In einer ergreifenden Gebärde wischte sie sich die Augen mit dem Ärmel ihrer alten, ausgefransten Strickjacke. Sie schämte sich bereits ihrer Tränen und erklärte hastig:

»Nicht daß ich Vorwürfe machen möchte, Mr. Gant ... wir waren beide schuld ... und sind beide zu tadeln ... wenn ich alles noch mal zu tun hätte, würde ich vieles besser machen ... aber ich war so jung und unerfahren, als wir uns kennenlernten ... ich wußte rein nichts von der Welt ... und immer war etwas so Fremdartiges an Dir, das ich nicht verstand.«

Und dann, da er schwieg und still und reglos an die Decke starrte, trocknete sie ihre Tränen ab und sagte schnell mit lebhafter und augenblicklicher Freudigkeit, wie es dem unantastbaren Optimismus ihrer ewig hoffnungsvollen Natur entsprach:

»Schon recht, Mr. Gant. Das ist nun alles vorüber, und das Klügste, was wir tun können, ist, das alles zu vergessen ... Wir haben beide unsre Fehler gemacht ... Irren ist menschlich ... und nun wollen wir aus der Erfahrung Nutzen ziehn ... das Schlimmste ist nun herum, und die Hauptsache ist –« Sie schürzte die Lippe und blinzelte ihm munter zu, »– die Hauptsache ist, an Deine Genesung zu denken. Nimm Dir also vor, wieder gesund zu werden, das ist alles, was Du tun mußt, und dann ist die Schlacht schon halb gewonnen. Denn«, sie sagte das, wie man ein Sprichwort anführt, »die Hälfte unsrer Krankheiten und Plagen ist lediglich Einbildung. Und wenn Du Dir also fest vornimmst, wieder gesund zu werden, dann wirst Du's fertigbringen.« Sie sah ihn munter an und nickte. »Wir haben ja beide noch Jahre vor uns zum Leben ... soweit wir wissen, mögen es die besten Jahre unsres Lebens sein ... und so wollen wir aus den Fehlern der Vergangenheit die Nutzanwendung ziehen und das Beste aus den Jahren machen, die uns noch bleiben.« Und dann bestätigte sie sich nochmals und sagte: »Also das ist ganz genau das, was wir tun werden.«

Und leise, gütig, ohne sich zu bewegen, mit dem gleichmütigen und maßlosen Bedauern eines Mannes, der weiß, daß es kein Zurück gibt, antwortete er:

»Ja, Eliza. Das ist's, was wir tun werden.«

»Nun aber«, redete sie ihm zu, »ist es das beste, daß Du versuchst, weiterzuschlafen, nicht wahr? Schlaf ist das Beste zur Genesung ... der weise Mann sagt, Schlaf wäre das Hauptheilmittel der Natur und mehr wert als alle Ärzte und Arzneien.« Sie zwinkerte ihm zu, und dann schloß sie mit fröhlicher Endgültigkeit: »Somit versuche ein bißchen zu schlafen, und morgen wirst Du Dir wie neugeboren vorkommen.«

Er verneinte abermals; mit einem fast unmerklichen Kopfschütteln sagte er:

»Nein, nicht jetzt. Ich kann nicht schlafen.«

Er schwieg, sein Atem ging heiser und mühsam, er räusperte sich leis, und so als zwängte ihn dort etwas, fuhr er sich mit der Hand an die Kehle.

Eliza sah ihn besorgt an und fragte:

»Was ist? Hast Du dort Schmerzen?«

»Nein«, sagte Gant. »Es ist bloß etwas in der Kehle. Kannst Du mir ein Glas Wasser geben?«

»Ei gewiß, ja, sofort!« Sie stand hastig auf, blickte sich verwirrt um, sah die Wasserkaraffe mit dem Glas auf seiner alten Walnußkommode und sagte: »Eine Minute!« Sie ging durchs Zimmer.

Und in demselben Augenblick wurde Gant gewahr, daß jemand das Haus betreten hatte, durch die Diele auf ihn zukam und gleich bei ihm sein würde. Er wandte den Kopf nach der Tür, er wurde sich bewußt, daß etwas mit der Geschwindigkeit des Lichts und der Schnelle des Gedankens sich näherte, und augenblicklich erfüllte ihn ein Gefühl unaussprechlicher Freude, ein Gefühl des Sieges und der Sicherheit, das er nie gekannt hatte. Etwas ungemein Helles und Schönes floß zusammen zu einem flackernden Lichtgebilde, und im Nu verschwamm das Zimmer um ihn. Seine Augen hielten sich fest an dem Lichtgebilde in der Tür, und plötzlich stand das Kind dort und blickte ihn an.

Er versuchte sich aus den Kissen aufzurichten und seiner Frau zu rufen, aber im gleichen Augenblick verspürte er etwas Dickes und Schweres in der Kehle, das ihn am Sprechen hinderte. Er versuchte nochmals, ihr zu rufen, brachte aber keinen Laut hervor. Und dann begann etwas Warmes und Feuchtes ihm aus dem Mund und aus den Nasenlöchern zu schießen, er hob die Hände an die Kehle, das warme, feuchte Blut strömte ihm über die Finger. Er sah es und empfand Freude.

Denn nun sprach das Kind – oder sonstwer im Hause. Er wurde gerufen, er hörte große Fußtapfen, sacht und doch donnernd, aus nächster Nähe und doch unendlich fern, und er vernahm eine Stimme, die ihm wohlbekannt war und die er dennoch niemals gehört hatte. Er rief sie an, ihm schien, sie antwortete ihm. Er rief sie gläubig und freudig an, sie solle ihm Hilfe, Kraft und Leben geben, und da ward ihm die Antwort, der Irrtum, das Altern, der Schmerz und der Kummer des Lebens seien alle nichts wie ein böser Traum; er, der verloren gewesen, sei nun wiedergefunden, seine Jugend würde ihm wieder geschenkt werden, und er würde nie sterben, und er würde den Pfad wieder finden, den er vor langem einmal in einem dunklen Wald nicht genommen habe.

Und noch immer lächelte ihn das Kind an aus der dunklen Tür, das große Stapfen, sacht und mächtig, kam näher und näher, und als die augenblicklich überwältigende Gegenwart der letzten Begegnung unerträglich nahe war, rief er aus durch die Lache des sprudelnden Blutes: »Hier, Vater, hier!« und hörte mit starker Stimme die Antwort: »Mein Sohn!«

In diesem Augenblick zerriß ihn ein heftiger Husten, etwas in ihm wurde losgezerrt, das Todesröcheln rasselte durch sein Blut, und eine Masse grünlichen Eiters schäumte ihm über die Lippen. Dann war die Welt ausgelöscht, ein blinder, blakender Nebel wallte auf und umhüllte ihm das Haupt, jemand packte ihn, er wurde von zwei Armen aufrecht gehalten, er hörte jemandes leise Stimme im Ton des Entsetzens und Erbarmens sagen: »Mr. Gant! Mr. Gant! O armer Mann, armer Mann!« und sein Bewußtsein verging in Nacht. Noch ehe sie ihn in die Kissen zurückgleiten ließ, wußte sie, er war tot.

Elizas geller Aufschrei hatte drei ihrer Kinder, nämlich Daisy, Steve und Lukas und dazu die Pflegerin Bessie Gant, die Frau von Gants Neffen Ollie, eilig aus der Küche, wo sie zu viert zusammen gesessen hatten, herbeigebracht. Im gleichen Augenblick war auch Helene wach geworden. Sie hatte eine Stunde geschlafen, und dieser Schlaf war seit zwei Tagen ihr erster gewesen. Sie hatte sich zuvor in ein kleines Zimmer zurückgezogen, das neben der Diele lag und auch von der Holzveranda auf der Küchenseite des Hauses her betreten werden konnte. Plötzlich hatte sie Elizas Aufschrei geweckt, sie hörte, wie die mit Fliegendraht bespannte Schutztür an der Küche zuschlug, und wie die vier, die in der Küche gesessen hatten, eilig draußen vor dem Fenster vorbeiliefen.

Und nun war sich Helene mehrere Minuten lang ihres Handelns überhaupt nicht bewußt, und später konnte sie sich dessen nicht entsinnen. Eine verzweifelte Gewalt trieb sie, und sie handelte aus einem blinden Gefühlsdrang, der die Vernunft völlig ausschaltete. Im Augenblick, als sie Elizas Aufschrei, die zuschlagende Tür und die vorübereilenden Füße gehört hatte, wußte sie, was geschehen war, und von diesem Augenblick an verspürte sie nur das einzige wahnsinnige Begehren, ihren Vater zu erreichen, ehe er starb.

Der Atem verfing sich heiser und hart in ihrer Kehle in einem nervösen Seufzer; ihr war, als hätte ihr Herz zu schlagen aufgehört und als wäre sie an Leib und Seele gelähmt; dennoch sprang sie vom Bett auf mit einem Schwung, daß die alten Sprungfedern rasselten, und mit einer Sturmeseile, die im Nu aus dem Nirgendwo in sie gefahren war, kam sie über die hintere Veranda; sie stand in der Tür wie hereingeschossen, jähheftig, wie ein durchs Herz getroffener Mensch, sie starrte die stumme Gruppe und die Gestalt auf dem Bett an mit einem dumpf-überspannten, entsetzt-ungläubigen Gesicht.

Sie war sich ihrer selbst nicht bewußt; ihr Atem ging heiser und hart in kurzen Stoßseufzern; auf ihrem großen, grobknochigen Gesicht lag ein fast tierischer Ausdruck von Qual und Überraschung; der Mund stand halb offen, und das starke Kinn hing herunter. Die andern sahen sie an, und sie begann unbewußt aufzustöhnen. »O-oh! O-oh! O-oh«, wie ein Mensch stöhnt, dem ein heftiger Stoß in die Magengrube versetzt wurde. Dann riß sie den Mund weit auf, ein heiserer, gräßlicher Schrei – ein Schrei nicht des Kummers, sondern des Verlusts – entrang sich ihrer Kehle, und sie stürzte vorwärts wie eine Wahnsinnige. Die andern stellten sich ihr in den Weg, versuchten sie zurückzuhalten, aber sie stieß sie von sich, als wären sie Stoffpuppen. Sie warf sich über die Leiche auf dem Bett und tobte wie eine Besessene:

»Oh, Papa, Papa ... Warum haben sie mir's nicht gesagt? ... Warum haben sie mich's nicht wissen lassen? ... Warum haben sie mich nicht gerufen? ... Oh, Papa, Papa, Papa! ... tot, tot, tot ... und sie haben mir's nicht gesagt ... haben mich's nicht wissen lassen ... haben Dich sterben lassen, und ich war nicht da ... Ich war nicht da!« Sie weinte harsch, gräßlich, bitter, sie schaukelte hin und her wie eine Irre, den Toten in den Armen, und stöhnte in einem fort: »... sie haben mir's nicht gesagt ... sie haben Dich ohne mich sterben lassen ... ich war nicht da ... ich war nicht da ...«

Die andern hoben sie auf, sie lösten ihr die Arme aus der verzweifelten Umschlingung, in der sie den Toten umfangen hielt, aber sinnlos und unzurechnungsfähig fuhr sie fort, zu stöhnen und zu der Leiche zu reden, als seien die andern überhaupt nicht da: »Sie haben mir nichts gesagt ... sie haben mir nichts gesagt ... haben Dich allein sterben lassen ... und ich war nicht da ... und ich war nicht da ...«

Nun hatten mittlerweile auch die andern Frauen – außer Bessie Gant – angefangen, hysterisch loszuweinen, sie weinten mehr aus Erschütterung, Erschöpfung und nervöser Spannung als wegen des Kummers; und alsdann ließ sich Bessie Gant vernehmen, die Ruhe und Ordnung im Sterbezimmer schaffen wollte und kalt, scharf und bestimmt auf die anderen einsprach.

»Nun aber hier 'raus mit Euch! Mit Euch allen! Hier gibt's jetzt für keinen von Euch mehr was zu tun! Was zu tun ist, das erledige ich, und dabei kann ich niemanden von Euch brauchen. Komm, Helene, geh wieder ins Bett, und versuche zu schlafen! Dann wird Dir's morgen besser geh'n.«

Helene wandte sich um und starrte Bessie Gant mit glasig-dumpfen Augen dumm an. »Sie haben mir nichts gesagt ... sie haben mir nichts gesagt ...«, stöhnte sie, und dann, als sie Bessie Gant erkannte, fragte sie: »Kannst Du nichts tun? ... Wo ist McGuire? Hat jemand bei ihm angerufen?«

»Nein«, sagte Bessie Gant scharf und ärgerlich. »Und niemand wird bei ihm anrufen. Warum den Mann zu dieser Nachtstunde aus dem Bett jagen, wenn nichts für ihn zu tun ist? ... Also, marsch, hier 'raus, Ihr alle!« Sie schob sie einen nach dem andern zur Tür. »... ich kann Euch jetzt hier nicht herumhaben ... Geht weg ... irgendwohin ... betrinkt Euch ... bloß, daß Ihr mir hier nicht wieder 'reinkommt!«

Das ganze Haus war wach geworden. In der Aufregung, der Erschütterung und der Erschöpfung wurde der Tote, der still mit grotesk verrenktem Körper auf dem Bett lag, vergessen. Ein Mann, namens Gilmer, der seit Jahren in Elizas Lodginghouse wohnte, stand auf, ging aus und kaufte eine Viereinhalb-Liter-Flasche Maiswhisky. Alle Anwesenden tranken ziemlich viel, betranken sich in der Tat ein wenig. Als die Leute des Leichenbestatters kamen, um Gants Leiche abzuholen, war niemand von der Familie anwesend. Niemand sah es. Sie waren alle in der Küche, wo sie um Elizas alten, abgenutzten Tisch herum vor der großen Whiskyflasche saßen. Sie tranken und redeten miteinander den Rest der Nacht hindurch, bis der Tag kam.


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