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XLI

Während dieser ganzen Zeit, in der er besessen hoffend, täglich auf den Gipfel wahnwitziger Gewißheit getrieben und täglich in den Abgrund der Verzweiflung gestürzt, auf jenen magischen Brief aus New York wartete, der ihm augenblicklich alles Ersehnte, das Glück, den Ruhm und den Triumph brächte, sahen ihn seine Angehörigen mit besorgten Augen an. Sein zukünftig sicherer Erfolg als Theaterschriftsteller, an den er begeistert glaubte, schien ihnen ein entrücktes Wunschbild zu sein. Und vielleicht hatten sie recht damit, wenn auch der Grund, aus dem sie so dachten, verkehrt war.

Obgleich sie nur selten mit Eugen über dessen Pläne sprachen und dann, wenn sie es taten, sich in gutgemeinten Ermutigungen ergingen, so spürte er doch ihren Zweifel und ihren Unglauben deutlich heraus. Zuweilen, wenn er unerwartet heimkam, hörte er, wie sie sich besorgt über ihn unterhielten. So hörte er eines Tages Helene, die bei ihrer Mutter in der Küche saß, fragen:

»Mama, nun sage mir doch, was der Eugen eigentlich vorhat. Hat er mit Dir davon gesprochen?«

»Ei ... nein«, erwiderte Eliza nachdenklich und betroffen. »Richtig ausgesprochen hat er sich nicht. Er sagt eben, er wolle Theaterstücke schreiben ... Ich nehme an, er wartet zunächst mal auf Bescheid aus New York wegen des Stücks, das er eingereicht hat«, fügte sie hastig hinzu.

»Ich kenne das«, meinte Helene verdrießlich. »Das ist ja alles schön und gut, wenn er es leisten kann. Aber guter Himmel! Mama!« rief sie aufgebracht, »man kann doch nicht von so einer Hoffnung leben! Eugen ist Einer unter einer Million von Bewerbern! Siehst Du das nicht ein? Die Leute haben doch auch mal geglaubt, ich hätte das Zeug zur Opernsängerin«, sie lachte ironisch in einem heiseren, hohen Falsett, »und ich hab's selber geglaubt, aber offenbar hat mich dieser Glaube nicht weitergebracht, nicht wahr? Nein«, erklärte sie entschieden, »es gibt Tausende, die es genauso wie Eugen vorwärtsbringen und sich einen Namen machen möchten. Und warum sollte er sich für was Besseres halten? Es kann Jahre dauern, bis mal ein Stück von ihm aufgeführt wird, und wenn es wirklich so weit kommt, wie will er dann wissen, ob es auch wirklich einschlägt? Und wovon gedenkt er mittlerweile zu leben? Wie will er sich durchbringen, bis es soweit ist? Du weißt doch, Mama, der Eugen ist kein kleiner Bub mehr! Sei Dir bitte völlig klar darüber«, bekräftigte sie heftig, so, als habe Eliza die Richtigkeit dieser Behauptung bestritten. Sie lachte ironisch, ihre Stimme klang heiser. »Nein, nein, entschieden nicht! Dein Baby ist ein erwachsener Mann, und es ist höchste Zeit für ihn, einzusehen, daß er von nun an für sich selber sorgen muß. Mama, hast Du bemerkt, daß schon mehr als vier Monate verstrichen sind, seit er von der Harvarduniversität abgegangen ist? Soweit ich weiß, hat er noch keinen Finger gerührt wegen irgendeiner Anstellung. Also was hat er eigentlich vor?« fragte sie ärgerlich. »Du weißt doch, so wie jetzt kann er nicht sein Lebtag lang herumlungern! Früher oder später muß er sich Arbeit suchen.«

Diese Worte Helenens entsprangen nicht so sehr einer Feindseligkeit gegen Eugen, als der rastlos-triebhaften Wut ihres nervös überreizten Wesens. Sie war ein Mensch, der nicht mit sich in Einklang lebte, eine großangelegte, ungemein freigiebige, aber unglückliche Natur; sie war gequält und besessen von ihrer inneren Unruhe, und so war sie imstande, in einem Augenblick Güte und Zuneigung an jemanden zu verschwenden, den sie im nächsten Augenblick mit Schelte und Kritik überhäufte. Ihren Gatten pflegte sie anzufahren, daß er zuviel im Haus herumlungere, daß er sie keinen Augenblick allein lasse, und dann, wenn er sich seinen Geschäften widmete, ein Buch las oder nur zu einer flüchtigen Mahlzeit im Hause erschien, warf sie ihm heftig vor, er vernachlässige sie.

Helenens arme, gemarterte und unglückselige Natur, deren Größe, Tapferkeit und Liebesfülle Eugen sehr wohl kannte, hatte seit Gants Tod keine Arznei gefunden für die große, irrsinnige Unrast, die sie dauernd und drangsälig trieb, keinen Führer oder Heiland, für den sie, in sich selber unerlöst, das Wunder der Hingabe und Erlösung bewirken konnte, und so wandte sie sich mit der Geißel gegen die Welt, begehrte nach einem Alleinsein, das sie keine drei Tage lang hätte ertragen können, forderte Frieden und Ruhe vor ihrer eigenen Wut und begehrte die Aufhebung des Unrechts, das sie über sich selber verhängt hatte. Es war aus diesem Grunde, eben weil sie aus ihrer eignen Unrast und Drangsal dauernd gegen die Welt aufbegehrte, heute überschwenglich lobend und morgen zornig verdämmend und das Leben und die Leute bezichtigend, sie hätten ihr ein Unrecht angetan, das sie sich selber angetan hatte, ... es war aus diesem Grund mehr als aus irgendeinem andern, daß Helene nun bei Eliza über Eugen loszog.

Und weil Eugen, der im Korridor stand und sie losziehen hörte, auf dieselben Drähte gezogen, aus demselben Lehm geformt war und nach Art, Anlage und Eigenschaft denselben Gesetzen gehorchte wie sie, verkrampfte sich sein Gesicht und wurde blaß, zitterten ihm die Glieder vor Zorn, zogen sich ihm die Eingeweide zusammen vor Übelkeit, schnürte ihm der Groll über das angetane Unrecht die Kehle. Er stürmte in die Küche, um Krach zu machen.

»Nun ja«, hörte er seine Mutter in einem diplomatisch-hoffnungsvollen Ton sagen, der ihn irgendwie nur noch mehr aufbrachte, »laß uns doch abwarten und zusehn! Vielleicht kriegt er morgen Nachricht, daß die Leute dort sein Stück angenommen haben. Es kann schließlich doch sein, daß alles von selber recht kommt.«

»Recht kommt!« kreischte Eugen, der gerade in diesem Augenblick in die Küche gestürmt kam. »Da hast Du gottverdammt recht, wenn Du sagst, daß es recht kommt! Ich will Dir sagen, wann und wie es recht wäre!« stöhnte er, denn das Herz hämmerte ihm an die Rippen, als wäre er einen steilen Berg hinaufgerannt, und der Atem ging ihm in kurzen, harten Stößen. »Wenn es sich um einen verdammten Grundstücksmakler handelte, dann wäre es recht! Wenn es sich um einen billigen Winkeladvokaten handelte, dann war es recht! Wenn es sich um einen Gauner handelte, der droben in der Bank sitzt und Dich um Dein Hab und Gut beschwindelt, dann war es recht!« Er fauchte. Er war sich bewußt, daß seine Worte weder Sinn noch Zusammenhang hatten, aber da er außerstande war, das vorzubringen, was er vorbringen wollte, entlud sich sein Groll in diesen Anwürfen, die heiß und erstickend in ihm aufwallten. »Ja!! Der große Bankdirektor! Der Frömmler! Der hervorragende Mitbürger! Nicht wahr?! Mr. Scroop Pegram! Wenn es sich um den handelte, dann war es recht! Dann würdest Du in die Knie fallen und auf allen vieren krauchen und ihm danken, daß er Dich Dein gutes Geld in seiner Bank anlegen läßt und es an eine Bande von gottverdammten Immobilienschwindlern weiterverleiht!« Er knirschte: »Ja, danke schön, würdest Du sagen«, obschon ihm bewußt war, daß seine Behauptungen überhaupt mit der Sache nichts zu tun hatten, und obschon er sah, daß Eliza schnell und erregt die Lippen schürzte und Helenens grobknochiges Gesicht vor Ärger rot wurde.

»Nun möchte ich Dir was sagen«, begann Eliza und streckte streng den Zeigefinger aus. »Meinetwegen kannst Du Dich über Scroop Pegram lustig machen, so lang Du willst, aber er ist und bleibt ein Mann, der Zeit seines Lebens für alles, was er hat, gearbeitet hat.«

»Ja«, sagte Eugen bitter, »und auch für alles, was Du hast, denn er ist's, der es am Ende kriegen wird.«

»Er hat sich von Kind auf selbst durchgebracht«, fuhr Eliza streng und unentwegt fort, »niemand hat etwas für ihn getan, und das ist ganz sicher, denn in seiner Familie war niemand in der Lage, ihm zu helfen. Was er erreicht hat, hat er aus eigenen Kräften erreicht, ohne Hilfe und ohne –« sie erwähnte es nachdrücklich »– eine teure Erziehung, denn er hat nicht mal drei Monate Schulbildung genossen. Und heute gehört er zu den angesehensten Männern in der Gemeinde.«

»Ja, und zu den reichsten obendrein, denn den meisten seiner Mitbürger hat er schon das Geld aus der Tasche gelockt!« rief Eugen.

»Du hast gar keinen Grund, so groß daherzureden«, erklärte nun Helene. »An Deiner Stelle würde ich mich nicht so dicktun! Nörgle nicht an andern Leuten herum, ehe Du gezeigt hast, daß Du selbst etwas Tüchtiges leisten kannst!«

»Ah Du! Du! Dir werd ich's schon zeigen!« stöhnte Eugen. »Hinter meinem Rücken über mich losziehen, das kannst Du. Warte nur mal ab und sieh zu! Dir werde ich's schon zeigen!«

»Schon gut, ich werde abwarten und zusehen«, sagte Helene hart und feindselig. »Ich hoffe, Du leistest etwas. Aber Du mußt mir eben zeigen, daß Du das Zeug in Dir hast. Es ist Zeit, daß Du von dieser Narretei abläßt und Dir Arbeit suchst. Und dann, wenn Du gezeigt hast, daß Du das Zeug in Dir hast, um Dich selber durchzubringen, dann magst Du an andern herumnörgeln.«

»Wir haben alles für Dich getan, was in unsern Kräften stand«, sagte Eliza streng. »Du hast die beste Bildung, die Du Dir nur wünschen kannst, genossen, und nun liegt alles bei Dir. Ich habe kein Geld mehr, um es an Dich zu hängen, und so kannst Du Dich nun darnach richten, daß Du in Zukunft für Dich selber sorgen mußt.«

Und in der warmen, lebendigen Stille der Küche sahen sich nun alle drei einander mit harten, bitteren Augen und schweratmend an.

»Nun ja, Eugen, ich weiß schon«, sagte Helene. »Bemüh Dich, es zu vergessen. Alles wird anders aussehen, wenn Du ein paar Jahre älter wirst«, erklärte sie gemüdet. »Wir sind alle einmal so gewesen, haben diesen wunderbaren Ehrgeiz gehabt und berühmt werden wollen. Aber das ändert sich. Ich hatte ja auch vor, eine große Opernsängerin zu werden, aber darüber bin ich längst weggekommen. Vergiß es!« riet sie leise. »Es kommt einem so wunderbar vor, man denkt, man könne ohne das nicht leben, aber dann vergißt man's. Und so wird's auch Dir gehn, oh, freilich! Freilich! Du wirst es vergessen!« Sie hatte Eugen an den Schultern gepackt, sie schüttelte ihn, und ihre Stimme hatte wieder den alten, herzhaften, befehlerischen Klang. »Ich hau' Dich durch, wenn Du Dich so benimmst! Was willst Du denn machen, wenn Dein Stück nicht angenommen wird?! Ich wette, daß es tausend Leuten schon so gegangen ist! Ich will sogar wetten, daß es anfangs allen Leuten so gegangen ist! Und dann sind sie hingegangen und haben weitergearbeitet, und später ist der große Erfolg von selber gekommen! Ei, wenn diese Leute mein Stück nicht nähmen, würde ich mich hinsetzen und ein anderes schreiben, so ein gutes Stück, daß sich diese Leute vor sich selber schämen müßten. Ei, Du bist ja noch so jung!« rief sie wütend, schüttelte Eugen und sah ihn finster an, die Stirn heruntergerunzelt, die Zungenspitze herausgestreckt und ein Grinsen auf dem grobknochigen, freimütigen Gesicht. »Weißt Du es denn nicht?! Du hast noch eine Unmenge Zeit! Das Leben liegt noch ganz vor Dir. Und natürlich wirst Du was leisten! Aber natürlich! Bloß, laß Dich nicht von so einer Sache unterkriegen! Wenn Du in zehn Jahren daran denkst, wirst Du drüber lachen, daß Du so ein Narr warst. Natürlich wirst Du das.« Und da soeben ihr Gatte draußen vorgefahren war und gehupt hatte, sagte sie nochmals: »Also, Eugen, vergiß es. Das Leben ist zu kurz. Ich weiß schon, ich weiß«, meinte sie geheimnisvoll.

Sie brach auf und sagte im Weggehn beiläufig: »Also, Lieberchen, komm zum Nachtessen 'rüber! Das heißt, falls Du Lust hast. Es liegt bei Dir. Tu ganz, was Dir paßt, wirklich, fühle Dich durchaus nicht verpflichtet zu kommen«, erklärte sie in dem nachdrücklich-gleichgültigen Ton, in dem sie stets solche Einladungen vorbrachte.

»Was möchtest Du gerne essen?« forschte sie nachdenklich. »Ein schönes, dickes Lendensteak, was?« Sie blinzelte ihn an. »Ich hab auch noch ein halbes Backhuhn von gestern im Eisschrank, das kannst Du haben, wenn Du kommst. Also, es liegt bei Dir!« sagte sie beinah hart und herausfordernd, so, als hätte er Unwillen oder Ablehnung gezeigt. »Ich dränge es Dir nicht auf, aber wenn Du erscheinst, wirst Du willkommen sein. Wie wär's denn mit einer großen Schüssel voll grüner Bohnen? Kartoffelbrei dazu, gedämpftem Mais und Spargeln? Große Tomatenscheiben mit Mayonnaise? Und ich habe einen großen Pudding, einen Pfirsich-und-Apfel-Cobbler, im Ofen, meinst Du, der würde dampfend heiß mit 'nem Stück Butter und einem Schnitzen Amerikanerkäse munden?« Sie blinzelte ihn an, schmatzte komisch mit den Lippen. »Träfe das vielleicht den rechten Fleck, was?« fragte sie und gickste ihn in die Rippen. Dann verfiel sie darauf, in einem heiseren, burlesken, durch die Nase gezwängten Ton stark übertrieben ein Mädchen aus ihrer Bekanntschaft nachzuahmen, das nach New York gegangen war und wieder zurückgekehrt nur noch in dem bescheidwissenden, hanebüchen sicheren, nasalen Ton der New Yorker sprach.

»Äh, fein, Jungs!« sagte Helene in diesem Ton. »Fein! Ganz, wie man's in New York kriegt!«

Dann wandte sie sich gleichgültig ab, ging die Verandastufen hinunter und über den Vorgartenpfad auf Bartons Wagen zu. In einem harten, streitsüchtigen Ton rief sie zurück:

»Also, ganz wie es Dir paßt! Niemand heißt Dich kommen, wenn Du nicht willst!«

Dann stieg sie ins Auto. Barton fuhr schnell den Hügel hinunter, der Wagen bog an der Ecke ein und war verschwunden.

 

Das Argument, das in den Gemütern von Eugens Angehörigen arbeitete und ihnen seinen Erfolg fraglich erscheinen ließ, betraf in der Tat einen Punkt, der ganz und gar zu Eugens Gunsten sprach. Aber damals dachten weder er noch seine Familie so. Sie stellten sich vor, ein Schriftsteller müsse eine wunderliche, geheimnisvolle und entrückte Person sein, vor allen Dingen aber eine, die sie nicht kannten, wie etwa Irvin S. Cobb. »Dieser Junge aber, unser Sohn und Bruder«, folgerten sie, »ist weder wunderlich, noch geheimnisvoll, noch entrückt. Wir kennen ihn genau, er ist unter unsern Augen aufgewachsen, und man braucht wahrhaftig keine Worte darüber zu verlieren, daß er zur selben Menschenart gehört wie wir. Sein Vater war Steinmetz, war auf einer Farm geboren, hat sein Leben lang mit den Händen gearbeitet. Und fünf von seinen Vatersbrüdern waren ebenfalls Steinmetzen und haben sich ebenfalls im Schweiße des Angesichts ihr Brot verdienen müssen. Und seine Mutter ist eine Frau, die sich rechtschaffen gerackert und abgeplackt, die die Pfennige zusammengekratzt und gespart hat, um ihre vielen Kinder großzuziehen und dem Betrieb in ihrem Boardinghouse vorzustehen. Über ihre Familie weiß jedermann in der Gegend Bescheid. Die Pentlands sind alle gute, ehrliche, anständige Leute, die auf sich halten; niemand kann behaupten, dem wäre nicht so, – aber einen Schriftsteller hat der Stamm nicht hervorgebracht. Genauso wenig wie Ärzte oder Rechtsanwälte. Einen oder zwei Geistliche hat's in der Familie gegeben, das stimmt. Der Onkel Bascom zum Beispiel ist auch Prediger gewesen, ein hochgebildeter Mann, muß man sagen, steckte immer die Nase in ein Buch, ging aufs Harvard College ... ja, und da fällt uns nun freilich ein, daß er immer ein bißchen querköpfig war, genau wie der Eugen ... Er mußte bekanntlich aus der Kirche austreten, weil er zum Agnostiker wurde, und er schrieb auch immer Gedichte und sonst so Sachen. Ja, er und Eugen sind die gleiche Sorte, große Bücherleser ohne praktischen Geschäftsverstand, und so scheint uns, der Eugen sollte sich nach einer Lehrerstelle umsehen, oder er könnte vielleicht an einer Zeitung passende Arbeit finden, oder er hätte, das wäre vielleicht nicht schlecht gewesen, doch Rechtswissenschaft studieren sollen.«

So also liefen die Überlegungen der Familie über diesen Gegenstand. Das Argument jedoch, daß Eugen zur selben Menschenart gehöre wie sie und in keinem Sinne eine entrückte, wunderliche oder geheimnisvolle Person sei, dies gerade hätte das Hauptargument sein sollen, das zu seinen Gunsten sprach. Aber freilich sahen sie das nicht ein. Sie hielten dafür, daß an ihnen nichts Wunderliches oder Geheimnisvolles sei, und er, Eugen, dachte das Gegenteil. Sie konnten nicht verstehen, daß – wenn er überhaupt etwas vor anderen voraushabe – es dies war, daß er aus demselben Zeug gemacht war wie sie, aus demselben Fleisch und Blut stammte und dieselben Charaktereigenschaften und dieselbe Wut besaß wie sie. Wäre ihnen das klar gewesen, dann hätten sie auch den Grund begriffen, weshalb er Bücher las. Er las nämlich nicht, wie sie alle dachten, weil er ein Bücherwurm war, sondern er las aus demselben Grund, aus dem seine Mutter so wahnsinnig auf Besitz aus war, ständig über Grundstücke sprach, an Grundstücke dachte, nach Grundstücken trachtete, von Grundstücken träumte und die Erde genauso besitzen wollte, wie er die Welt zu verschlingen begehrte. Fernerhin war die Lebenswut, die ihn zum Bücherlesen trieb, genau dieselbe, die seine Geschwister ständig und ungeheuer und drangsälig rastlos machte und sie hieß, sich mit Bäckern, Metzgern, Kaufleuten, Rechtsanwälten, Ärzten, griechischen Gaststättenbesitzern und italienischen Obsthändlern so lange zu unterhalten, bis sie über das Leben dieser Leute im Bilde waren.

Hätten sie gewußt, daß in ihm dasselbe Wesen war, das auch sie alle in sich hatten, dann hätten sie seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, verstanden, – und auch eine unangenehme Sache, in die er sich in jenen Tagen verwickelte, und die ihm wie eine furchtbare Schande erschien, wäre ihnen gar nicht so schlimm vorgekommen, denn sein Vater, einer seiner Brüder und mehrere von seinen Verwandten waren in die gleiche Lage geraten wie er, und niemand hatte es merkwürdig gefunden. Aber nachdem ihm, den sie für einen Gelehrten und Bücherwurm hielten, die Mißlichkeit zustieß, war es ihnen, als sei der führende Dekan der Kirche von einer Polizeipatrouille in einem Bordell erwischt worden.

Letzthin fand Eugen auch später die Tatsache recht ironisch, daß in seinem Konflikt mit der Familie die ganze Substanz und Energie des menschlichen Dramas gebrauchsfertig für ihn vorlag. Das einzig Wundervolle und einzig Wichtige bestand darin, daß sie alle von der Leidenschaft, Dummheit, Kraft, Hoffnung und Torheit lebendiger Menschen getrieben wurden, daß sie alle Narren und Engel, Schuldlose und Schuldige gleichzeitig waren, weder rühmenswert noch tadelswürdig, sondern schlechthin Blut, Knochen, Mark, Leidenschaft und Gefühl. Was ihm also zur Verfügung stand, hätte er es nur erkannt und zugegriffen, war bewegungsvoll und großartig lebendig und mit Irren und Wirren die ganze Daseinsverstrickung. Und was die eingebildeten Schmerzen und den harten Kampf des jungen Künstlers gegen die dumpfen, rohen Spießer anlangt, nun, das hatte, wie er später einsah, mit der Sache überhaupt nichts zu tun, war keinen Pfifferling wert, taugte in der Tat nicht mehr als jene in Professor Hatchers Kursus geschriebenen Stücke, in denen eine theatralische Formel für die Lebensvorgänge an Stelle des Lebens vorgetragen wurde. Der Konflikt nämlich, die Komödie und die Tragödie, dazu der Schmerz, der Stolz, die Narrheit und die Fehlsetzungen, – sie hätten sich genauso ergeben können, wenn Eugen beispielsweise Flieger, Tiefseetaucher, Brückenbauer, Lokomotivführer oder berufsmäßiger Sargträger hätte werden wollen. Das Zeug, aus dem das Leben gemacht ist, war in überwältigender Fülle da: wenn er dies erkannt hätte, hätte er nur zuzugreifen brauchen, aber statt dessen stöberte und schnupperte er hinter den Kulissen der verhurten, schöpfungsfremden Bühne herum und verwechselte die glattzüngige, aus verfälschten Gefühlen zusammengebraute Mache mit dem Fleisch und Bein der Wirklichkeit. Aber jedem jungen Menschen, der je die Erde beging, ist es ja wahrhaftig genauso gegangen.

 

An einem grauen Spätoktobertag kam endlich der Brief, und augenblicklich, als Eugen ihn aufgerissen und die Eingangsworte: »Wir bedauern« gelesen hatte, ward ihm das Gemüt grau wie jener graue Tag, und ihm war, als könne er nie wieder Herz und Hoffnung und die lebendige Freude des Schaffens empfinden. Das Fleisch wurde ihm tot und kalt und stockig an den Knochen, und dennoch las er mit jener stumpfsinnigen Miene, mit der man gewöhnlich schlechte Nachrichten aufnimmt, die geläufig-verlogenen Phrasen und versuchte sogar, ein Hoffnungsfädchen zu finden, einen mageren, mutlosen Trost zu saugen aus harten, aber öligen Worten wie: »... Wir sehen Ihrem nächsten Stück mit größtem Interesse entgegen und hoffen, daß Sie es gleich nach Vollendung uns zustellen werden ... Die Meinungen im Ausschuß waren geteilt, vier Mitglieder stimmten dafür, Ihr Stück unter Umständen zu erwägen, fünf Mitglieder stimmten dagegen, und so müssen wir, obschon die Frische und Lebendigkeit der Darstellung und die Kraft einiger Szenen unbestreitbar sind, uns widerwillig für die Ablehnung entscheiden ... Sie sind einer von den jungen Leuten, deren Schaffen wir mit größter Anteilnahme verfolgen ...« Diejenigen, denen das Gewicht der unbeschönigten Scham auferlegt ward, die dieses gräßliche Grau in den Eingeweiden gespürt haben, werden nicht geruhsam und getrost lächeln können, wenn ihnen ihr Gedächtnis dient.

Scham und Entsetzen, ungeheuer, nackt und unerträglich, lasteten nun auf Eugen mit dem fühlbaren, erdrückenden Gewicht der nassen, grauen Herbsthimmel. Das gräßliche Grau erfüllte ihn vom Hirn bis in die Eingeweide, gräßliches Grau war überall und allenthalben, er atmete es ein mit der Luft, er spürte, wie es ihn von den Wänden und aus den Gesichtern der Leute anstarrte, er schmeckte es auf den Lippen, er spürte, wie es ihm an seinen zehntausend gemarterten Nerven zerrte, so sehr, daß er nicht mehr stillsitzen und ausruhen noch auch irgend Vergessen finden konnte vor der wilden Unrast, die ihn ständig trieb. Er ging nur zu Bett, um alsbald wieder aufzustehn und auf den nassen, schnöden, nächtigen Straßen herumzulaufen; er aß und erbrach sofort alles, was er zu sich genommen hatte, und aß dann abermals, geelendet wie ein dumpfes, gepeinigtes Stück Vieh.

Er erlebte die Erde durch kranke Augen, mit krankem Herzen, krankem Fleisch und schmerzenden Nerven, er war wie in Scham und Entsetzen ertrunken, und ihm schien, er könne diesem Zustand nie mehr entrinnen und die Musik der Gesundheit, der Freude und der Macht wieder vernehmen, und ihm schien auch, er könne in diesem Zustand nicht sterben, sondern müsse so gräßlich und elend den Rest seiner Tage hinbringen wie ein Mensch, dem es ständig in Herz, Hirn, Eingeweide, Fleisch und Geist zum Kotzen übel ist.

Ihm schien, als wäre alles verloren, als hätte er jahrelang in einem Narrentraum gelebt, wäre nun roh geweckt worden und sähe sich selbst in Wirklichkeit, einen nackten Narren, der kein Quentchen Talent besaß und für den kein Quentchen Hoffnung bestand, einen Verrückten, der Geld vergeudet habe und kostbare Jahre, in denen er einen Beruf hätte erlernen können, der zu seinen Fähigkeiten gepaßt und ihn mit dem Leben der Durchschnittsmenschen in Einklang gebracht hätte. Und ihm schien, seine Angehörigen hätten mit ihrer Einstellung furchtbar und erbarmungslos recht gehabt, und er wäre einfach zu töricht gewesen, es einzusehen. Das Gefühl des Zusammenbruchs und des Mißlingens war vollständig, abgründig und erdrückend.


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