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Helene war stundenlang im Dunkel wachgelegen, schlafsüchtig-überwach im Bann eines furchtbaren Entsetzens, in einem seltsamen Zustand krankhaften Sinnentrugs, in dem sie – obschon ringsum nichts zu hören war außer den Atemzügen des Gatten an ihrer Seite – ständig bestimmte Geräusche zu vernehmen wähnte. Sie lag, die Augen weit aufgesperrt, im Dunkeln; sie petzte sich geistesabwesend das große, grübige Kinn, und wie ein Kind, Einbildung für Wahrheit haltend, dachte sie: ... ›Was war das? ... Jemand kommt! ... Eben hat das Auto gehalten! ... Sie kommen die Stufen 'rauf! ... Jemand klopft! ... O mein Gott! ... Wegen Papa! ... Er hat einen Anfall gehabt! ... Sie holen mich! ... Er ist tot!! –‹ »Hugo! Hugo! Wach auf!« stöhnte sie heiser und krallte sich an den Arm des Gatten. Und Hugo Barton erwachte, sein dünnes Haar war wirr, er brummelte unwirsch.
»Hugo! Hugo!« flüsterte sie besessen. »Papa stirbt! ... Sie sind drunten an der Tür! ... Oh, um Gottes willen!« schrie sie auf, »steh doch auf und sieh nach! Lieg doch nicht da wie ein Holzklotz! Steh doch auf und geh 'nunter an die Tür und sieh nach, ob jemand da ist! Papa ist am Sterben, es kann doch sein, daß er stirbt! Sieh doch nach an der Tür, ob sie da sind! Taugst Du denn zu nichts? Du bist doch ein Mann! Soviel kannst Du doch tun, um Gottes willen!« Sie war außer sich. Sie stöhnte.
»Ja, ja, ja, schon recht«, brummte er leicht aufgebracht. »Ich gehe ja! Laß mich nur erst Pantoffeln und Bademantel anziehen!«
Er tappte mit den bloßen Füßen nach den Pantoffeln, fand sie, fuhr vorsichtig hinein. Er griff nach dem Bademantel, zog ihn an und trat, die Kordelschnur knüpfend, vor den Spiegel. Da stand er, lang, schmal, knochendürr. Er strich sich das Haar mit den Händen glatt. Er zog die Schultern hoch, es war wie ein Achselzucken. Und Helene, die ihm gequält und gereizt zusah, funkelte mit den Augen und ächzte:
»Langsam, langsam, langsam ... mein Gott, etwas Langsameres als Dich gibt's nicht ... Ich wär derweil von hier nach Kalifornien gegangen!«
»Ich geh' ja! Ich geh' ja!« begehrte er mürrisch auf. »Ich bin ja schon unterwegs! Ich kann doch nicht nackt an die Tür gehn!«
»Geh! Geh! Geh!« schrie sie. »Sie sind jetzt eine Viertelstunde drunten und hämmern uns die Tür ein! Um Gottes willen, so gehe doch und sieh nach, ob sie wegen Papa gekommen sind, ich flehe Dich an, geh!«
Er ging; aber obschon er sich beeilte, verlor er die würdige Haltung nicht, als er im Bademantel, die von den Hosen des Schlafanzugs umschlotterten Beine behutsam setzend, hinausstelzte. Als er zur Haustür kam, war nichts los. Es war niemand da, die Straße war leer und stumm, die Häuser lagen dunkel und schlafbeschwichtigt in der ungeheuren und stillen Gelauschigkeit der Nacht, die Bäume standen aufrecht und ernst und schlank mit ihrem noch junijungen Laub ... und so kam er denn zurück und brummelte sauertöpfisch: »Niemand da! ... Du hast Dir das alles nur eingebildet.«
Nun kam ein Ausdruck dumpfer Beruhigung in ihre Augen, sie kratzte sich das große, grübige Kinn und sagte in einem geistesabwesenden Ton: »Ah-ah! ... Na, da komm wieder ins Bett, mein Honig, und schlaf weiter!«
»Ah, weiterschlafen! Du hast gut reden!« grollte er, die Stirn ärgerlich herunterrunzelnd, während er den Bademantel auszog. »Was für Aussichten habe ich denn, zu meinem bißchen Schlaf zu kommen, wenn Du mir die halbe Zeit mit Deinen verrückten Einbildungen zusetzt!« Er entledigte sich seiner Pantoffeln.
Sie kicherte heiser, sie petzte sich das Kinn, sie dachte an etwas anderes. Dann, als er sich neben sie legte, küßte sie ihn und umarmte ihn mit einer bemutternden Gebärde.
»Ach, ich weiß es ja, Hugo«, sagte sie ruhig, »daß Dir dieser Betrieb ziemlich zusetzt. Aber eines Tags gehn wir von hier weg, und dann werden wir unser eignes Leben leben. Ich weiß, daß Du nicht die ganze verdammte Familie geheiratet hast, – aber nun nimm es noch ein Weilchen auf Dich. Papa hat nicht mehr lang mitzumachen – Da liegt er da drüben in dem alten Haus – und sie, weißt Du, sie sieht da einfach nicht klar – sie kann sich's nicht vorstellen – sie versteht nicht, daß er stirbt, und wird es auch nicht verstehen, bis er die Augen zugemacht hat. Und da lieg' ich nachts hier und denke und denke – und dann kann ich nicht einschlafen ... und bilde mir lauter so komisches Zeug ein –« Als sie das sagte, kam wieder der dumpf-gespannte Ausdruck in ihre Augen, und sie machte ein gequältes Gesicht. »Du weißt ja, ich werde dann so quer im Kopf, ich denke dann an Papa, und wie er da so allein dort in dem alten Haus liegt, und daß sie kommen, um mich zu ihm zu holen ...« Sie sprach das »sie« in einem so bestürzten Ton aus, als wüßte sie selber nicht, wen sie da eigentlich meine. Ihr großknochiges, freigiebig-offenes Gesicht war nun verzerrt vor Überspanntheit. »Ich denke dann, das Telephon hat geläutet, oder jemand kommt draußen die Stufen herauf, und dann hör' ich, wie sie an die Tür klopfen, und wie sie zu mir reden und sagen, ich solle schnell hinkommen, er brauchte mich – – und dann hör' ich, wie er mich ruft: ›Baby! Oh, Baby, – komm schnell, Baby, um Jesu willen!‹«
»Sie haben Dir das alles aufgehalst«, murmelte er. »Die ganze Bürde haben sie auf Deine Schultern abgeschoben, und nun brichst Du zusammen, weil es einfach zu viel ist. Wenn das nicht aufhört, ziehe ich mit Dir von hier fort.«
Begierig, mit einem besessenen Eifer ging sie auf die Behauptung ein, daß ihr zuviel zugemutet würde. »Du hältst es doch auch nicht für recht, nicht wahr? Guter Himmel, Hugo, ich habe doch das Recht auf mein eignes Leben, dasselbe Recht und denselben Anspruch, den jeder Mensch auf sein eignes Leben hat! Oder glaubst Du nicht? Ich bin doch mit Dir verheiratet!« rief sie aus, so als bestünden da irgendwelche Zweifel an dieser Tatsache. »Ich wollte ein Heim haben für mich, Kinder und mein eignes Leben führen. Guter Gott, wir beide haben doch das Recht dazu, genausogut wie es andre Leute haben! Glaubst Du das nicht?«
»Ja«, sagte er grimmig. »Und ich werde mich drum kümmern, daß wir zu unserm Recht kommen! Ich bin's satt zuzusehen, wie Du Dich aufopferst! Und wenn sie Dich nicht in Ruh und Frieden lassen, dann ziehe ich in eine andre Stadt.«
»Ach, für Papa tu ich ja alles gern«, sagte sie etwas ruhiger. »Guter Himmel, ich würde alles tun, um den armen, alten Mann ein bißchen glücklicher zu machen. Wenn nur die andern – –« Sie brach mitten im Satz ab. »Also, schon recht, mein Honig«, sagte sie. »Vergiß es doch! Es ist schlimm genug, daß Du das jetzt alles mitmachen mußt, aber ewig dauert das ja nicht. Papa hat nicht mehr lang zu leben, und dann ziehen wir uns von allem zurück. Dann haben wir eines Tages die Gelegenheit, unser Leben zu leben.«
»Ach, meinetwegen ist's mir ja nicht«, sagte Barton ruhig. Er schwieg eine Weile; in sein trübseliges, verhagertes Gesicht und in seine versorgten Augen kam der Ausdruck jener reinen Ergebenheit, jener Beständigkeit und Treue, die seine eigentlichste und wesentlichste Eigenschaft war. »Um mich selber ist's mir nicht zu tun, aber ich hasse es, mitansehn zu müssen, wie Du Dich aus lauter Opferbereitschaft krank machst. Ich habe Angst, daß Du mir eines Tages zusammenbrichst, wenn es so weitergeht. Und das ist's, weshalb ich mir Sorgen mache.«
»Schon gut, vergiß es doch! Es läßt sich zur Zeit noch nicht ändern. Versuche drüber wegzukommen, so gut es eben geht! Nun aber mußt Du weiterschlafen, damit Du morgen ausgeruht bist.« Sie küßte ihn.
Er küßte sie ebenfalls; ein gehorsam unterwürfiger Ausdruck kam auf sein hageres Gesicht. Er sagte: »Gute Nacht, Liebe!« legte sich auf die Seite und schloß die Augen.
Sie machte das Licht aus, und nun wiederum war nichts außer der Dunkelheit, der Stille, der erhabnen Geheimnisleisigkeit der Nacht und den ruhigen Atemzügen des schlafenden Gatten an ihrer Seite. Und wiederum konnte sie nicht schlafen. Sie lag da, sie petzte sich das große, grübige Kinn, sie starrte aus aufgesperrten Augen aufwärts in die Dunkelheit mit ihren geduldigen, wirren und abwesenden Gedanken.