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Später in jener Nacht, als sich die andern Hausbewohner auf ihre Zimmer zurückgezogen hatten, als Eugen allein in der stillen Bibliothek war und abschiednehmend, verlangend und hungrig-bedauernd die Schätze an edlen, vornehm gebundnen Büchern besichtigte, mit denen die Wandschränke des großen Raums von oben bis unten vollstanden, kam Joel herein.
»Hör mal«, sagte er in seiner abrupten, beiläufigen Art, »ich geh' jetzt ins Bett, aber bleib' Du bitte so lang auf wie Du magst, und schlaf' Dich morgen früh nach Belieben aus ... Und hör mal«, fragte er beiläufig und schnell, »was hast Du denn für Pläne? Mußt Du wirklich schon morgen wieder in die Stadt?«
»Ja, Joel, ich muß wirklich. Ich hab' Montag am frühen Vormittag Unterricht zu halten und kann doch meine Klasse nicht warten lassen. Also wird es das Richtigste sein, wenn ich morgen abend in der Stadt zurück bin.«
»Es war fein, daß Du da warst«, wisperte Joel. »Es ist großartig gewesen, daß Du kommen konntest. Und wenn es Dir hier wirklich gefällt«, meinte er schlicht, »freut's mich. Ich finde es auch so herrlich auf dem Gut hier ... Und hör mal«, wisperte er schnell, beiläufig und blickte weg, »... was ich Dir gestern sagte, war mein Ernst ... das wegen dem Haus, dem Pförtnerhäuschen, weißt Du. Wenn es Dir gefällt und wenn Du gern drin wohnen möchtest, oder wenn Du es als gelegentliches Absteigequartier haben möchtest, um dann und wann mal herzukommen, dann wünsch' ich, Du würdest mein Angebot annehmen ... ich wünsch' es ganz wirklich. – Es steht dort am Weg und nutzt keinem Menschen was, und wir wären alle entzückt, wenn Du herkommen und dort einziehen würdest ... Sag' also einfach ein Wort und laß mich wissen, wann Du kommst, und dann werde ich dafür sorgen, daß dort alles fix und fertig für Dich ist. Und wir wünschen es ganz wirklich«, sagte er ernst, mit einem strahlenden Lächeln und so, als bäte er Eugen, ihm einen Gefallen zu tun. »Es wäre ganz großartig.«
»Es ist – es ist wunderbar von Dir, Joel –«
»Schon recht, Eugen«, wisperte Joel hastig. Er lächelte, und, geschickt die Verlegenheit des Dankesagens und Dankempfangens vermeidend, fuhr er schnell fort. »Und schau mal, Eugen, ich seh' Dich ja am Dienstag wieder. Ich fahre dann zurück in die Stadt. Ich wohne dort im Hotel für den Rest des Sommers und fahre nur über die Wochenenden hierheraus. Aber ich wollt' Dich auch fragen, ob Du schon wegen Deiner Europareise Bescheid weißt. Hast Du Dich entschlossen?«
»Ja, das habe ich, Joel. Der Plan wenigstens ist fertig, und ich weiß auch, wann ich ihn gern verwirklichen möchte. Wenn alles klappt, will ich im September, wenn meine Arbeit auf der Universität zu Ende ist, Segel setzen.« Die beiden Worte Segel setzen hatten einen herrlichen, zaubrischen Klang für ihn, und der Puls ging ihm heiß und hart vor Freude und Hoffnung, als er sie aussprach.
»Hei! Fein!« wisperte Joel begeistert, und sein Gesicht strahlte auf, als wäre eine große, unerwartete Glücksbotschaft für ihn selber gekommen. »Und wie sich Frank Starwick freuen wird! Du weißt doch, er fährt Ende August 'nüber. Ich hatte vor 'n paar Tagen 'nen Brief von ihm.«
»Ja, er hat mir auch geschrieben.«
»Er wird Dich sehen wollen, wenn er nach New York kommt. Da müssen wir alle mal zusammenkommen vor seiner Abfahrt ... Und hör mal«, fragte er unvermittelt, schnell, wiederum beiläufig. »Wie lang gedenkst Du denn zu bleiben? Lange?«
»Das weiß ich noch nicht, Joel. Ich bliebe gern ein ganzes Jahr drüben, kann aber noch nicht sagen, ob ich es bewerkstelligen kann. Die Universität hat mir meine Stelle auf ein weiteres Jahr angeboten. Ich müßte dann für das im Februar beginnende Trimester zurück sein, und es kann sein, daß ich das tun muß. Aber lieber blieb ich freilich ein ganzes Jahr drüben.«
»Hoffentlich geht es!« wisperte Joel. »Du solltest wirklich ein ganzes Jahr drüben bleiben, Eugen! Das wär ganz großartig für Dich.«
»Ja, das meine ich auch, aber ich weiß nicht, wie ich es bestreiten soll. Im Augenblick sehe ich noch nicht, wie ich es einrichten könnte ... Weißt Du, alles was ich eben zum Leben habe, ist mein Instruktorengehalt. Die Universität zahlt mir achtzehnhundert Dollars im Jahr –«
»Ei!« wisperte Joel und zog höflich erstaunt die Augenbrauen hoch, »das ist ja ein Haufen Geld, nicht wahr?«
»Viel ist es nicht, Joel. Mit hundertfünfzig Dollars im Monat kann man durchkommen in New York, aber große Sprünge kann man heutzutage nicht damit machen, besonders dann nicht, wenn man einen gesunden Appetit hat und gern ißt wie ich.«
»Ja.« Joel lachte sein schönes, strahlendes, beinah lautloses Lachen. »Das sehe ich ein. Dein Bauch wird Dich lebenslänglich schweres Geld kosten. Ein Mann, der so viel aufs Essen gibt wie Du, sollte Millionär sein. Da siehst Du's also, nicht wahr?« meinte er im Ton seiner liebenswürdigen Scherzhaftigkeit, den er nur selten anschlug. »Das hast Du davon, daß Du nicht Vegetarier bist wie Bernard Shaw oder ich ... Oh, Eugen«, rief er leise nach einer Weile. »Dir wird Frankreich gefallen – das Essen ist wunderbar dort –, aber Herrgott –!« Er lachte wiederum sein strahlendes, lautloses Lachen. »Wie Du England hassen wirst!«
»Warum? Ist das Essen dort schlecht.«
»Man kann es kaum Essen nennen«, wisperte Joel, »wenigstens jemand, der so gern ißt wie Du, kann es nicht. Leute von Deiner Art stehn dort die Qualen der Verdammnis aus. Mich freilich betrifft es nicht. Ich kann alles essen, soweit es Pflanzenkost ist, mir schmeckt alles ziemlich gleich. Aber Du! Du wirst das Leben dort hassen ... Und doch wirst Du es freilich wieder nicht. Das Land wirst Du lieben, und die Engländer werden Dir gefallen. Sie sind großartig.«
»Bist Du oft in England gewesen, Joel?«
»Nur einmal«, wisperte er. »Als Mams und Rosalind drüben waren. Wir hatten ein Haus auf dem Land, wohnten dort fünfviertel Jahr. Und das war großartig. Das hätte Dir ungeheuer gefallen ... Du wirst das Land lieben. Ei! Ich hoff', Du kannst bestimmt 'n ganzes Jahr drüben bleiben!« fuhr er eifrig fort. »Glaubst Du wirklich nicht, daß es geht?«
»Ich glaube nicht. Weißt Du, wie ich Dir gerade sagte, ich habe nur hundertfünfzig Dollars im Monat. Wenn ich nun im September aufhöre und im Februar wieder anfange, dann habe ich mein Gehalt für fünf Monate, das sind siebenhundertfünfzig Dollars. Ich rechne, daß ich damit die Reise bezahlen und ein paar Monate dort leben kann, aber – es sei denn, daß ich Geld von meiner Mutter kriege, die mir vielleicht hilft, sonst sehe ich keine Möglichkeit, ein ganzes Jahr drüben zu bleiben.«
»Hör' doch mal«, sagte Joel schnell. Er blickte weg und sprach ganz beiläufig, so, als hätte er den sachlichsten Vorschlag von der Welt zu machen. »Warum läßt Du mich nicht aushelfen? ... Ich meine so«, fuhr er hastig fort, »daß ich es liebend gern täte, wenn Du es mir erlaubst ...« Zwei rote Flecken auf seinem hageren Gesicht zeigten, daß er verlegen war. »Weißt Du, mir würde das gar keine Schererei bereiten, und Du könntest es mir zurückzahlen, wann Dir's paßt ... sobald Dein Stück aufgeführt wird, denn dann wirst Du ja Geld wie Heu haben, und so möchte ich, daß Du es nun, wo Du es brauchst, annimmst ... Versteh' doch«, wisperte er schnell und lächelte, »ich hab' 'nen Haufen Geld – mehr als ich je brauchen könnte –, ich habe gar keine Verwendung dafür. – Weißt Du, ich bin im Frühjahr einundzwanzig geworden, und nun bin ich reich ... schrecklich reich«, wiederholte er spaßig und erklärte dann rasch, sich gleichsam entschuldigend, »freilich nicht wirklich reich ... im Vergleich zu den meisten Leuten hier, mein ich, aber doch reich für mich, insofern ich viel mehr habe, als ich brauch' – und so bitte ich Dich wirklich, daß Du mich aushelfen läßt, wenn Du es brauchst. Der Frank hat mir versprochen, daß er es mich wissen läßt, wenn er irgend etwas braucht, und ich wünschte, Du würdest es genauso halten ... Ich glaube, Du solltest, wenn Du schon gehst, auf ein ganzes Jahr gehen. Guter Gott, es ist doch Deine erste Reise!« wisperte er begeistert. »Wie ich dich drum beneide! Wie ich wünsch', ich könnte die Reise zum erstenmal machen! Es wird ein tolles Erlebnis für Dich sein, es wird großartig werden, und du mußt einfach ein ganzes Jahr dortbleiben –, und deshalb wünsche ich, Du ließest Dir von mir aushelfen.
Joel hatte diesen erstaunlich freigiebigen Vorschlag in einem schnellen, geschwinden, sachlichen Ton gemacht; er schien um eine Gefälligkeit zu bitten, anstatt edel und großartig seine Hilfe anzubieten. Eugen konnte im Augenblick nicht antworten, und als er's dann tat, kannte er den Grund für seine Erwiderung, für seine Ablehnung nicht. Joels Angebot war so hochsinnig und selbstlos, war ein so freimütiger, edler, von Herzen kommender Freundschaftsbeweis, wie ihn Eugen zuvor weder an sich noch an andern erfahren hatte, und im Augenblick, als er an die ersehnte Reise und an seine peinliche Geldknappheit dachte, kam ihm das alles so zauberhaft leicht vor und gut und wunderbar richtig, daß ihm schien, er könne gar nicht anders als auf der Stelle in jubelnder Erkenntlichkeit annehmen. Doch als er den Mund aufmachte und sprach, fand er zu seinem eignen Erstaunen, daß er dieses wunderbare und freigiebige Glücksgeschick ablehnte. Und nie wußte er genau den Grund, warum er ablehnte. Da war vielleicht ein wachsendes Empfinden für etwas Fremdes und Unvereinbares in der Anlage und dem Ziel ihrer beiden Leben, ein wachsendes Gefühl des Bedauerns – eine Überzeugung, die durch ein Gespräch, das er an diesem Morgen mit Joel auf dessen Atelier geführt hatte, bestärkt worden war, eine Überzeugung, die dahin ging, daß ihre Leben in verschiedenen Welten gelebt, von verschiedenem Wollen getrieben und von verschiedenem Glauben geformt werden würden, – und mit dieser Erkenntnis war wohl auch ein Gefühl gekommen, ein Gefühl der Vereinsamung, der Endgültigkeit, des Abschieds, ganz so, als wäre zwischen ihnen eine große Tür auf immer ins Schloß gefallen, als wäre da irgend etwas Geheimes, Begrabnes, Wesentliches in der Seele eines jeden von ihnen, das dem andern nie offenbar werden könne. Und so hörte sich Eugen zu seinem eignen Erstaunen sagen:
»Dank Dir, Joel – mächtig fein von Dir –, wohl das anständigste Angebot, das ich je gemacht kriegte – aber jetzt brauche ich ja die Hilfe noch nicht –, und wenn ich sie später mal brauchen sollte –«
»Wenn es dazu kommt«, wandte Joel sehr rasch ein, »dann wünsche ich, Du würdest es mich wissen lassen. Es war mir lieb, wenn Du's tätest ... Guter Gott, es ist großartig zu wissen, daß Du die Reise machst«, wisperte er wieder strahlend begeistert. »Ich beneide Dich, Eugen!«
»Und bei Gott wünscht ich, Du kämst mit! ... Joel«, platzte Eugen erregt heraus in einem plötzlichen Schwall eiferheißer Überzeugtheit, »warum kannst Du denn nicht mitkommen? Das wäre groß, wenn wir zusammen reisten! Überall hingingen! Alles sähen! Es wäre wunderbar! Ein großes Erlebnis für uns beide! Du hast doch Europa nie zuvor auf diese Weise bereist, nicht wahr? Ich meine so, wie Du und ich es zusammen bereisen könnten! Du bist doch immer mit Deiner Familie dortgewesen, mit Deiner Mutter, nicht wahr? Komm doch mit!!« rief er und nahm den Freund beim Arm, so, als wollte er in dieser Sekunde mit ihm abreisen. »Laß uns gehn! Es wird die größte Reise werden, von der Du je gehört hast.«
Aber Joel lachte sein strahlendes, lautloses Lachen, schüttelte den Kopf und sagte liebenswürdig leis, aber bestimmt:
»Nein, Eugen! ... Es geht nicht! ... Ich kann nicht mitkommen! Ich bleibe hier und arbeite weiter an meinen Sachen. Und außerdem«, setzte er ernst hinzu, »Mams braucht mich. Mams und Paps ...« Es war ihm offenbar peinlich und bereitete ihm Schwierigkeiten, von seinen Eltern zu sprechen. Eugen nickte, und Joel schloß kurz ab mit einem: »Ich muß hierbleiben.«
Er schwieg dann eine Weile, und Eugen erkannte auf einmal etwas Ausgedarbtes und Einsames und beinah verzweifelt Verlassenes und Resigniertes, das er zuvor nie in Joels Augen, in Joels hagerem Gesicht beobachtet hatte. Als Joel wieder sprach, lag ein mattes Lächeln auf seinem Gesicht, klang etwas Altes und Trauriges und Gemüdetes aus seiner Stimme, wie es Eugen zuvor nie herausgehört hatte. Joel sagte ganz ruhig:
»Vielleicht hast Du recht ... Vielleicht gehören Du und ich in andere Welten ... und müssen andere Wege gehn ... Und wenn das so ist ...«, Joel sah dem Freund fest ins Gesicht mit Augen, in denen eine unendliche stille Tiefe des Bedauerns und des Sichabfindens war, »– wenn das wahr ist, dann tut mir's leid ... Auf jeden Fall, es war gut, Dich gekannt zu haben ... Und nun, leb wohl, Eugen – Gute Nacht, mein' ich. Wiedersehn morgen früh«, schloß er hastig in seinem vorherigen, schnell und beiläufig gewisperten Ton.
Mit diesen Worten wandte er sich rasch ab und ließ Eugen allein in der Bibliothek.
Eugen blieb fast die ganze Nacht auf, während das Haus rings um jenen reichen Raum in Stille und Schlaf versank. Anfangs bewegte er sich dort ganz so leise wie einer, den ein zaubrischer Traum umfangen hält; er getraute sich kaum zu atmen aus Angst, er könne den Bann brechen, und die ganze Zeit schienen die Stimmen der lebenden Bücher ringsum zu ihm zu sprechen und so zu sagen: »Nun ist es Nacht und Stille und Schlafzeit auf Erden, die allfrohlockende Zeit der Jugend und des Alleinseins und die Zeit des stolzen Zuwachses für Deinen Geist. Nun nimm uns, plündre uns und nimm uns, denn heut nacht bist Du allein lebendig auf der Welt, während alle Schläfer schlafen. Unsterbliche Kunde wird heut nacht Dein sein, die Geheimnisse einer immerdardauernden und sieghaften Weisheit. Der ganze hehre Hort der Erde steht gedrängt auf diesen gedrängten Gestellen und spricht zu Dir und ist Dein. Du bist der reichste Mann auf Erden, wenn Du uns nehmen, bloß nehmen, willst. Wir haben, lieber Freund, so lang auf Dich gewartet, und heut nacht ist die Welt Dein und wird auf immer Dein sein, wenn Du uns bloß nehmen, bloß nehmen, bloß nehmen willst.«
Und wie ein Freudentrunkener plünderte er die halbe Nacht hindurch den lebendigen Hort auf diesen Gestellen. Sie waren alle da, die großen Chronisten und Aufzeichner –, da waren die wunderbarlichen und bezaubernden Lügen des alten Herodot, und da war Sir Thomas Malory, und da waren die Reisen von Hakluyt und von Purchas und die Geschichtswerke von Mandeville und Hume. Da war Burtons wundervolle ›Anatomy‹, sein bestürzendes Unmaß an Gelehrsamkeit, die nie nach Lampenruß riecht, sein lustvoller, würziger, immer voranstürmender Stil, und da war die vernichtende Ironie von Gibbons latinisierter Sonorität, und da war die wilde, brennende, irgendwie magische Schlichtheit von Swifts Prosa. Da war die dunkle, gewalthafte Musik des Sir Thomas Browne und Hookers dröhnende und mächtige Leidenschaft, vom Genius groß und von der Glaubenskraft wahr gemacht, und da war der Riesentanz, die weite, sturmumfassende Kadenz, bald sinnlos, bald stark wie das Licht, des großen Carlyle. Und neben den heimsuchenden Kadenzen dieses mächtigen Stücks war die Weltlichkeit lebensliebender Männer, waren die scharfsinnigen Tagebücher des John Evelyn, waren der lüsterne Beigeschmack, das Kalkulierende und das sinnliche Grübeln des alten Pepys, waren Schriften, hell wie der Tag, natürlich wie der Morgen und das schlichte, mittelmagische achtzehnte Jahrhundert, die makellose Anmut und die fehllose Klarheit der Addison und Steele, und dann der ganze Festzug lebendiger Charaktere, die Seiten, die mit dem unsterblichen Fleisch der Sterne, Defoe und Smollet dicht gedrängt sind, und da war das hohe, komische Universum des Fielding und das kleine All des Austen und die unsterbliche, extravagante Welt des Charles Dickens, die grandiose, fruchtbar erschaffne, mächtige Galerie der Gestalten des Sir Walter Scott – und Thackerays sentimentale Galanterie und Zauberei, und all die eigne Magie des Nathaniel Hawthorne, des Meredith, des Melville, der Landor, Peacock, Lamb und De Quincey, des Hazlitt und des Poe.
Da waren ebenfalls die Werke all der Dichter, der Chaucer in der Kelmscott-Ausgabe, die Dove-Editions in weißen Hirschlederbänden, die sich sanft und samten anfühlten, die glänzenden Buchleiber in königlichen Gewändern aus Blau und Gold und sattem, schwerem Grün – die griechischen Anthologien, alle Dichter des Altertums und die singenden Stimmen der großen Elisabethaner Wyatt, Surrey, Sidney und Spenser, Webster, Ford und Massinger, Kyd und Greene und Marlowe, Beaumont, Lyly, Nash und Decker, Jonson, Shakespeare, Herrick, Herbert, Donne.
Sie waren alle da, – alles, vom donnernden Äschylus bis zur süßen, kleinen Stimme des vollendeten Sängers Herrick, vom großmächtigen Homer bis zum geschliffenen, zugespitzten Carull, vom bissig-schroffgelaunten Horaz, vom üppigen vulgär- und süßsingenden Geoffrey Chaucer, vom großen, bronzenen Glockenton, dem vollen, gellen Klang des John Dryden bis zu den Goldmassen, dem drangvoll eingeheimsten Reichtum, der heimsuchenden Feenlandherbstlichkeit des John Keats.
Sie waren alle da, – ein jeder stand in seinem Gefach auf den lebendigen Gestellen, und zunächst fiel Eugen räuberisch über sie her, er plünderte von ihren goldnen Blättern, er benahm sich ganz wie einer, der einen begrabnen, unschätzbaren Hort aufgefunden hat, sich zunächst benimmt: er kann im Freudentaumel der Entdeckung nur mit beiden Händen hineinlangen, ganze Händevoll schöpfen, das massige Gold verschütten und in goldnem Gebröckel durch seine spreizfingrigen Hände rieseln lassen. Oder aber: er benahm sich ganz, wie sich einer benimmt, der einen verwunschenen Quell altersloser Jugend, einen Springborn immer lebendiger Unsterblichkeit entdeckt hat: – er trinkt und spürt mit jedem Trunk bereichert die ungeheure Herrlichkeitsfülle der Erde, die alterslosen Feuer der magischen Erdjugend.
Dann aber, später in der Nacht, schlich ihm ein andres Gefühl ins Herz, und die lebendigen Bücher redeten in einem anderen Ton zu ihm. Von diesen großen Zungen des Lebens, der Macht und der sich aufschwingenden Unsterblichkeit war nun die volltönige Überzeugung ihres überwältigenden, allsieghaften Sanges gegangen. Die große, tönende Zunge der Freude sprach nun die Sprache einer stillen, unendlichen Verzweiflung, vertraute ihm die Legende von einer unvermeidlichen Niederlage, von einem untilgbaren Verhängnis an.
Von diesen hehren, mit Prachtbänden vollgestellten Bücherborden schienen ihm nun in der lebendig regsamen Stille des Raums die großen Stimmen der Ewigkeit, die Zungen der mächtigen, der toten und vergangnen Dichter zu sprechen. Aber in dieser lebendigen Stille, in der Weite und Ruhe des Schlafgeists, der das große Haus erfüllte, aus der großen, überwältigenden Stille dieses stolzmächtigen, unerschütterlich gesicherten und behaupteten Wohnens im Wohlstand schienen selbst die Stimmen dieser mächtigen, der toten und vergangenen Dichter irgendwie einsam, klein, verloren und kläglich zu klingen. Jeder stand da in seinem kleinen Gefach auf den Brettern, – all der Genius, der Reichtum und der gesammelte Hort eines Dichterlebens hatte da einen Fußbreit Platz, hatte da den Raum, den sechs kleine, dichtgedrängte, schönausgestattete Bände einnehmen, – und alle die großen Dichter der Erde waren da, ungelesen, nie aufgeschlagen und vergessen, und waren auf irgendeine furchtbare Weise zu stummen, kleinen Wahrzeichen für eines reichen Mannes Macht geworden, für jene Macht des Wohlstands, die sich alles zu besitzen, alles zu nehmen und über alles zu triumphieren vermißt, sogar über die Macht und den Genius des machtvollsten Dichters, den man nur auf ein schmales Bücherbrett stellt, nie aufschlägt und vergißt, aber doch besitzt.
Und so erlebte es Eugen zum erstenmal in seinem Leben, daß ihm selbst die Stimmen der mächtigen Dichter verloren, klein und kläglich geschlagen vorkamen. Ihre großen Stimmen, die im ohnehin schon brennenden Herzen der Jugend noch das Feuer triumphanter Magie entfacht hatten, hatten seinen Geist auf den Schwingen des rauschenden, unbesiegbaren Glaubens gehoben, keine Macht auf Erden käme der Macht der Dichtung, keine Unsterblichkeit der Unsterblichkeit des Dichterlebens und des Dichterruhmes gleich, keine Herrlichkeit und Kraft könne der Dichtung Herrlichkeit und Kraft erreichen. Und diese großen Stimmen redeten nun zu ihm und sprachen das stumme und kleinlaute und einsame Urteil der Unterlegenheit aus:
»Kind, Kind«, sagten sie zu ihm, »sieh uns an und bedenke: was soll es Dir nützen, an den Wurzeln der allverschlingenden Nacht zu zehren und Herrlichkeit zu begehren? Fressen denn nicht die Ratten des Tods und des Alters und der dunklen Vergessenheit ebenso an den Wurzeln des Schlafs, und kannst Du uns sagen, wo nun ein Mensch begraben liegt, dessen Substanz sie nicht verzehrten? O Kind, o Du, der Du auf immer in des Lebens altem, dunklem Haus allein sein wirst, auf immer auf den schnöden Wandelstraßen der Nacht allein streunen wirst, auf immer im alten Haus des Lebens auf das Schwingen und Kreischen der Türen in den Angeln lauschen wirst, auf immer auf den Augenlidern der Nacht nachsinnen und im weiten Herzen von Schlaf und Stille und Dunkel Dich grübelnd ergehn und Dich so verzehren wirst, o Du – was begehrst Du denn? Armes Kind, Du Sohn einer schrifttumsunkundigen Rasse, Du namenloses Atom der namenlosen Wildnis, wie konntest Du Dich nur von unsrer vermeintlichen Herrlichkeit betören lassen? Welche Macht gibt es auf Erden, auf den Meeren oder im Himmel, welche Macht hast Du in Dir selbst, Du Sohn von Vätern, die ihr Sein nicht aussagen konnten, welche Macht gibt es denn, die Dir eine Zunge liehe, auszusagen, was Deine mit Stummheit geschlagenen Brüder nicht aussagen können, einen Rahmen zu zimmern, eine Beschaffenheit zu finden, eine magische und ewige Form zu schöpfen aus der Dschungel der großen, unaussäglichen Wildnis, aus der Du stammst, der Du zugehörst, ein namenloses und unaussägliches Atom? Was kannst Du denn zu leisten hoffen, Du armes, namenloses Kind, Du Möchtegern-Chronist des ungeschichtlichen Morasts der dunklen Wildnis Amerika, wenn wir, die wir die Kinder von hundert golden bewahrten Jahrhunderten waren und die Erben all der reichen Sammelhorte der Überlieferung, wirklich so wenig leisten konnten, und wenn es nun so weit mit uns gekommen ist? Welcherlei Nutzen hoffst Du zu ziehen, welchen Lohn könntest Du erringen, der Dich für die Ängste, den Hunger und die verzweifelte Müh Deines Daseins bezahlte? Bestenfalls wirst Du nur selten und nur dann und wann einmal auf Deinem blinden Hungerweg in die Dschungeltiefen ein leuchtendes Wort pflücken, – einen blitzhaften Augenblick aus Anmut und Einfühlung gestalten –, vielleicht ein Halbgehörtes nachflüstern können in der großen, nicht auszusprechenden Sprache, nach der Du suchst, – vielleicht auf einen Augenblick den Ruhm schmecken, auf ein kurzes Stündchen der vermeintlichen Herrlichkeit teilhaftig sein, nach der Dich dürstet. Für bloß einen Augenblick wirst Du, gerade so, wie es andre Männer taten, den Löwen spielen, wirst Du des älteren Löwen Blut schmecken, wird Dich für einen Nu nur der Siegesjubel, die Freude über seine Niederlage durchfahren ... und dann wirst Du, ganz wie er, dem nächsten Löwen anheimfallen, die Wildnis wird sich wieder erheben, um Dich zu verschlingen, und da wird denn, eh es noch recht begann, das kleine Herrlichkeitsstündchen, nach dem Du lechzt und löstest, vergangen sein, die Myriadenhorde aus den tausend Köterrassen wird fauchend und fluchend, lügend und höhnend und hämisch aufstehn, um Dir den Garaus zu machen; mit all dem Haß ihrer Kötergehässigkeit und ihrem Ekel vor sich selbst wird sie aufstehn, um Dich, ihren preisgekrönten Löwen von gestern, in die namen- und ehrlose Vergessenheit zurückzuschleudern, wo Du dann liegen wirst, ertrunken im Spott und Hohn, mit dem der alte Verächtlichmacher in seinem Stolz Dich ungeheuer überhäuft. Und so wird Dein kurzlebiges Leben bald zu Ende sein, Deine Jugend, die doch grad erst begann, wirst Du verbraucht haben, und all Dein hungriges, qualvolles Bemühen wird in Grund und Boden verspottet werden von denselben köterhaften Narren, die es zuvor priesen, vergessen werden von denselben Lumpen, die ihm zuvor Ruhm zuerkannten. Dies also ist der selten eintretende Glücksfall, das kurze Aufstrahlen des Ruhms, nach dem Du streben magst ... und dies also ist das ungeheure Vergessensein im Versagen, im Elend, in der Unehre, die dem folgen wird. Solltest Du aber durch einen wunderlichen Zufall diesem Los entgehen und nicht erschlagen, verschlungen, ertränkt und vergessen in den rohen Schwarmschatten der Dschungelzeit liegen, – welch größere Herrlichkeit gibt es dann, die Du erlangen könntest? Eine Herrlichkeit wie die unsre wohl ... nun, sieh uns an und erkenne, wie weit es mit uns gekommen ist. Im reichen Schrein in eines reichen Mannes Buchgemach vergessen stehn ... ein Anteil seines trägen Wohlstands sein ... ein Zeichen seines anmaßenden Besitzens ... und sich erheben müssen, wie es selbst die Erde muß ... wie es die Hügel, diese träumenden, wie es die Wälder, diese heimgesuchten, müssen, wie es der große Strom und dieser mondumwobne Berg hier muß, auf dem sein Haus steht ... sich vor ihm beugen müssen ... gekauftes Eigentum, vergessen, dennoch hörig dastehn ... Wir, die größten Dichter, die die Erde je begingen, wir, die so wie Du den Glorien einen großen Traumbau bauten ... stehn da als knechtiger Tribut zu eines reichen Mannes Ruhm. Ja Du, selbst Du, Du armes nacktes Kind, kannst diesen Rang erreichen ... es mag geschehen, daß Du es dahin bringst, hier in der Grabesgruft zu liegen, gekauft und trag zu stehen mitten unter vergessenen, ungeheuren Sammelschätzen im anmaßenden Besitzen eines reichen Manns ... und letzten Ends zu wissen, daß all die Herrlichkeit, der Genius und der Zauber eines Dichterdaseins gedruckt in sechs Prachtbänden vergessen, gekauft und ungelesen herumstehn mögen ... geschlagen von der einzigen Macht im Leben, die immer dauert und auf immerdar triumphieren wird, der allverzehrenden Tyrannei des Wohlstands, der aus großen Dichtern Sklaven macht ... der uns zu schnöden Huren des Ruhms und zu Zuhältern des Reichtums erniedrigt ... zu ungebrauchten, leeren Wesenheiten auf dem Gestell eines reichen Manns.«
So sprach jener große Schatz ungelesener, gekaufter und vergessener Bücher, die einsam, klein und für Geld erworben auf dem Gestell eines reichen Mannes standen, in den stillen Wachestunden der Nacht zu Eugen.
Gegen Morgen, als er, ein großes Buch auf den Knien aufgeschlagen, dasaß, eingedenk jener toten, vergessenen, stillebenden Stimmen, und seines reichen, jungen Freunds und jenes fremden und bittren Rätsels des schicksalhaften Getrenntseins gedachte, das, so schien ihm, am Tag zuvor eine große Tür zwischen ihren beiden Leben auf immer geschlossen hatte, da drehte er in Gedanken die Seiten herum, und plötzlich rückten die verschwommenen Lettern auf einer gerade aufgeschlagenen Seite leserlich in seinen Blick. Und was die Worte auf dieser auf geschlagnen Seite sagten, war dies:
»Da sprach der Jüngling zu ihm: Das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch?
Jesus sprach zu ihm: Willst Du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe, was Du hast, und gib's den Armen, so wirst Du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!
Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm, denn er hatte viele Güter.«