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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Es war nicht der Augenblick, sich dem Schmerze hinzugeben. Kaum hatte sich das Grab über Salome geschlossen, so kam die Botschaft von Simon, Javan solle augenblicklich kommen, Titus habe Befehl gegeben, Feuer an die Tempeltore zu legen! Wenige Augenblicke später waren er, Zadok und Theophil auf der Unglücksstätte. Titus bot alles auf, den prächtigen Bau vor dem Untergang zu retten, aber umsonst! Ein Höherer als er hatte die heilige Stätte dem Verderben geweiht, und keine Macht der Welt konnte dasselbe aufhalten. Ein römischer Soldat warf die Brandfackel ins Heiligtum, und einige Minuten später loderten die Flammen empor. Unter lautem Krachen stürzte ein Teil des Gebäudes nach dem andern ein. Im letzten Augenblick erschien auf der schwankenden Mauer zum letzten Male der Sohn des Ananus, betrachtete sich das entsetzliche Schauspiel, das er so oft beschrieben hatte und stürzte, von einem Steine getroffen, mit dem Rufe: »Wehe mir!« ins Feuermeer.

Während die römischen Soldaten den Tempel plünderten, stürzte Marcellus mit einigen Freunden ins brennende Gebäude, um den Priester Zadok zu suchen. Schon fürchteten sie, unverrichteter Sache umkehren zu müssen, als ihn der junge Offizier in seinem Blute schwimmend vor dem Altar liegen sah. Die ehrwürdigen Züge trugen im Tode denselben Ausdruck edler Würde, der sie im Leben gekennzeichnet hatte. Als er den Leichnam fester in das Priestergewand hüllen wollte, entdeckte er in des letztern Falten eine Pergamentrolle. Er nahm sie zu sich und sah zu seinem nicht geringen Erstaunen, daß es eine Abschrift des Evangeliums Matthäi war. Kaum traute er seinen Augen. War es möglich, daß Zadok an Den glaubte, von dem das Evangelium handelte? Nachdem er die kostbare Rolle zu sich gesteckt hatte, hob er mit Hilfe seiner Kameraden den Leichnam des gemordeten Priesters auf und übergab ihn den Flammen, um ihn vor den Schmähungen der Römer zu bergen.

Darnach eilte er in Zadoks Wohnung, um die geliebte Braut zu retten. Das Haus war wie ausgestorben, aber endlich fand er sie in einem der unteren Räume. Ihre Freude über das unerwartete Wiedersehen war unbeschreiblich, aber kaum hatte sie ihr Glück gefaßt, so erkundigte sie sich ängstlich, ob Marcellus nicht ihren Vater gesehen habe. Die ausweichende Antwort, die er ihr gab, ließ sie sofort das Geschehene erraten.

»Ich verstehe,« rief sie schmerzerfüllt. »Mein Vater ist nicht mehr! Ich bin eine Waise!«

Marcellus erzählte ihr, wie er den teuren Leichnam aufgefunden und zeigte ihr die Pergamentrolle, die er in den Falten seines Gewandes gesunden hatte.

»Das heilige Schriftstück lag an seinem Herzen,« sagte er. »Hoffen wir, daß er die Wahrheiten, die dasselbe enthält, in sich aufgenommen hat!«

»Gott gebe es!« erwiderte Naomi unter Tränen. Jedenfalls hatte er aufgehört, sie zu verachten. Seine Seele war lauter; er hat seinem Gott aufrichtigen Herzens gedient, und so hoffe auch ich, daß er jetzt bei Ihm sein wird.«

»Und deine Mutter. Naomi?« fragte Marcellus. »Ist sie auch nicht mehr am Leben?«

»Man hat sie gestern in unserm Garten zur Ruhe gebettet,« antwortete das junge Mädchen. »Um sie traure ich indes nicht, denn sie ist im Glauben an unsern geliebten Herrn und Meister selig heimgegangen.«

»Lob und Dank sei ihm!« sagte Marcellus. »Mein Vater wird dir ein Vater sein, Geliebte, und ich werde hinfort alles aufbieten, dich zu trösten, nach allem, was du gelitten hast. Komm Theophil, du unser lang vermißter Bruder, wir wollen Naomi vereint beschützen. Ich brenne auch daraus zu hören, wie es kommt, daß ich dich lebend wiederfinde, dich, den meine arme Schwester so schmerzlich betrauert hat.«

Unter namenlosen Schwierigkeiten brachten die jungen Männer Naomi und Deborah ins römische Lager, wo sie von Rufus mit großer Güte und Rücksicht behandelt wurden, bis es Marcellus gelang, sie mit Theophils Hilfe nach Cäsaräa zu bringen, wo sie sich alle drei nach Ephesus einschifften.

Die Zinnen des herrlichen Tempels der Diana strahlten im Glanze der untergehenden Sonne, als die weißen Segel eines auf den Hafen zusteuernden Fahrzeugs erschienen. An der aufgehißten Flagge erkannten es die Leute am Ufer als ein von Syrien heimkehrendes Kauffahrteischiff und versammelten sich in Menge, um Nachrichten vom Kriegsschauplatz in Judäa zu bekommen – unter ihnen Amaziah, Judith und Claudia. Es dämmerte bereits, als das Schiff endlich den Kai erreichte. Der Anker wurde ausgeworfen, und das Fahrzeug dicht ans Ufer gezogen. Wer hat den durchdringenden, das Stimmengewirr der Menge übertönenden Schrei ausgestoßen? Das auf Amaziahs Arm gestützte bleiche junge Mädchen. Es hatte das tränenumflorte Auge auf die Landungsbrücke gerichtet und unter den aussteigenden Passagieren den Schatten eines lang beweinten Wesens zu erkennen gemeint.

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»Ach, es war nur ein Traum!« flüsterte es mit einem tiefen Seufzer.

»Was, mein Kind?« fragte Judith. »Hast du unsere Freunde zu sehen geglaubt?«

»Ja, liebe Mutter, ja … Ich habe das Gesicht gesehen, das mich des Nachts im Schlafe verfolgt und mir untertags vom Himmel herab zulächelt; aber es schien nicht das eines Engels, sondern das eines Menschen zu sein. Ach … da ist es wieder! Sieh auf diese Seite hin, Judith … und neben ihm steht noch jemand! O Gott, barmherziger Gott, laß mich nicht den Verstand verlieren! Sie kommen! Sie kommen! Sie sind auf dem Kai; es ist nicht ein bloßes Traumgesicht! Führe mich zu ihnen, Amaziah!«

Judith und Amaziah zitterten kaum weniger als ihre junge Gefährtin; sie hatten die Betreffenden ebenfalls aussteigen sehen und trauten ihren Augen nicht. Im nächsten Augenblick lagen sie in den Armen ihres heißgeliebten Sohnes und Naomis; die Gefühle aber, die sie beseelten, lassen sich nicht in Worten wiedergeben. Auch Marcellus und sein Vater wurden aufs wärmste bewillkommt. Die Fragen nach Zadok und Salome verstummten beim Anblick der armen Naomi, denn ihre Tränen sagten nur zu deutlich, daß sie ihr Vaterland erst als Waise verlassen hatte.

Amaziahs Haus war nur einige Schritte vom Flusse entfernt; die Freunde waren demnach eine Viertelstunde später auf der Terrasse versammelt und tauschten ihre Erfahrungen aus. Trotz der vielen schweren tief schmerzlichen Erinnerungen gewann die Dankbarkeit für alle ihnen zuteil gewordene Gnade und Barmherzigkeit die Oberhand über alle andern Gefühle. Rufus war noch Heide, aber konnte er beim erhebenden Anblick der alles überwindenden Macht des Glaubens derer, die ihn umgaben, Götzendiener bleiben?

Ehe der römische Offizier nach Rom zurückkehrte, wurde in der christlichen Gemeinde zu Ephesus die Doppeltrauung gefeiert und die beiden jungen Paare wurden vom Apostel Johannes eigenhändig zum Dienste in der Kirche Jesu Christi eingesegnet, denn Marcellus hatte seinen Abschied aus dem Heere von Titus bewilligt bekommen.

Rufus verließ seine Kinder mit dem Versprechen, im Frühjahr wiederzukommen, und hielt dasselbe auch. Aber er kam in Begleitung eines noch jungen Mannes, dessen bleiches Gesicht die Spuren tiefen Seelenleidens trugen. Die Stirn war nicht mehr so stolz wie früher, und die Augen schossen keine so wilden Blitze mehr, denn die Gefangenschaft und Enttäuschungen aller Art hatten das hoffärtige, rachsüchtige Herz gebeugt. Tränen liefen über des Fremden männliche Züge, als er Naomi in die Arme schloß und deren Gatten und Theophil die Hand reichte. Es war Javan. Rufus hatte ihn in Rom als Gefangenen wiedergefunden und mit einem eines Christen würdigen Edelmute gekauft. Des Herrn Züchtigung war nicht vergeblich an dem einst so stolzen Pharisäer gewesen. Er vergaß sein Vaterland nie und weinte über dessen Ruin, aber ohne Bitterkeit, denn er hatte erkannt, daß alles Herzeleid, welches über dasselbe gekommen, die gerechte Strafe für seine Verbrechen war, und er erwartete dessen Wiederaufrichtung von dem früher so bitter von ihm gehaßten Jesus.

Ende.

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