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Achtzehntes Kapitel.

Jerusalem war in furchtbarer Augst und Aufregung, seit es Titus in Cäsaräa wußte, und als erst die Nachricht kam, daß er mit seinem Heere nur wenige Kilometer von der Stadt entfernt war, bemächtigte sich der Bevölkerung namenloses Entsetzen.

Eines Abends brachte ein jüdischer Soldat ein versiegeltes Päckchen, an Naomis Adresse, das am Tore abgegeben worden war.

Dasselbe enthielt einen Brief von Marcellus, in dem er seine Braut dringend bat, den über Jerusalem hereinbrechenden Gefahren zu entrinnen und sich unter seines Vaters Schutz zu flüchten. Am liebsten sähe er, wenn Salome sie begleiten wollte, schrieb er, aber er dachte sich wohl, daß sie unter keinen Umständen von ihrem Mann fortgehen, und daß Zadok zehnmal lieber sterben, als seinen Posten verlassen würde. Er gab genau den Platz an, wo er sie mit einer Sänfte erwarten wollte, um sie samt der getreuen Deborah in Sicherheit zu bringen.

Mit einem Worte, Marcellus bot alles auf, um die Geliebte zur Flucht zu bestimmen, aber umsonst. Ihr Entschluß war unerschütterlich. Wie hätte sie die Mutter in ihrem angegriffenen Zustand verlassen können, und das in einem Augenblick, da Licht von oben in ihrer Seele aufgegangen war? Nein, nimmermehr. Sie nahm sich vor, ihre Eltern nicht einmal vorn Vorschlag ihres Bräutigams in Kenntnis zu setzen, damit dieselben nicht am Ende in sie drängen, ihm Folge zu leisten. Sie versteckte den Brief also und öffnete den zweiten, von Claudia eingelegten.

 

»Geliebte Naomi!« schrieb die Freundin. – »Du wirst dich freuen, endlich Nachricht von uns zu bekommen, und auch ich bin froh, einmal wieder mit Dir plaudern zu können. Ein Freund Amaziahs hat sich angeboten, den Brief ins römische Lager mitzunehmen, und ich hoffe, von da wird Marcellus wohl Mittel und Wege finden, ihn weiter zu befördern. O, könnte ich ihn Dir selbst bringen, geliebte Naomi! Mein Herz ist in Jerusalem, und mir ist hier wie einer Verbannten zu Mute. Das Leben hat wenig Wert mehr für mich, seit ich den verloren habe, der es mir lieb und teuer machte, und mit Freuden wäre ich mit meinem Theophil gestorben, wenn der Herr es erlaubt hätte. Doch es ist Undankbarkeit, so etwas zu sagen oder auch nur zu denken. Glaube nicht, daß ich mich gegen Gottes Führungen auflehne, so schwer auch Seine Hand auf mir liegt. Nein, teure Freundin, ich kann diese Hand küssen und selbst für denjenigen, der die schwere Trübsal über mich gebracht hat, beten. Ich erkenne erst jetzt, daß Theophil mein Götze war. Meine Seele hing mehr an ihm als an Gott, und nun hat ihn der Herr in Seinem Erbarmen und Seiner Gerechtigkeit von mir genommen und mir gezeigt, daß ich mich auf ein leicht knickendes Rohr gestützt hatte anstatt auf Seinen allmächtigen Arm. Ich kann in Wahrheit sagen, daß die Trübsal eine Segensfrucht in mir gewirkt und mich zu einer besseren Christin gemacht hat, als ich zu Theophils Lebzeiten gewesen bin. Bitte den Herrn, Naomi, daß mein Glaube nicht wanke, und meine Trübsal, die zeitlich und demnach verhältnismäßig leicht ist, eine ewige, über alle Maßen wichtige Herrlichkeit wirke. Judith und Amaziah sind von einer rührenden Güte für mich und scheinen die Liebe, die sie für ihren Sohn hatten, auf mich übertragen zu haben.

Auch andere Segnungen werden mir hier zu teil, die ich sehr zu schätzen weiß. Ich darf in Gemeinschaft mit andern Jüngern und Jüngerinnen Jesu den schönen Gottesdiensten beiwohnen und am heiligen Abendmahl teilnehmen, überdies den von Jesu Liebe durchdrungenen Worten des Apostels Johannes lauschen. Du kannst Dir denken, wie dankbar wir sind, hier ungestört unsern Herrn und Meister anbeten zu können.

Unsere treue Hanna ist uns ein rechter Trost; sie läßt Dich herzlich grüßen, wie natürlich vor allem Judith und Amaziah. Grüße Deine verehrten Eltern von uns und sei aufs innigste umarmt von Deiner

Claudia.«

 

So schmerzlich es Naomi war, die Freundin noch immer so traurig zu wissen, freute sie sich andererseits über deren Ergebung in Gottes Willen, und sie flehte zu Gott, Er selbst möge wieder Trost in das tiefbekümmerte Herz gießen, wenn die Trübsal ihren Zweck erreicht hatte.

Darnach überlegte sie, wie sie Marcellus Nachricht zukommen lassen könnte von dem gefaßten Entschlusse, ihre Eltern nicht zu verlassen. Deborah, die sie zu Rate zog, schlug ihr vor, Marias von Bethezob Diener Ruben mit einem Briefe an den von Marcellus bestimmten Ort der Zusammenkunft zu schicken. Der schlaue Verräter hatte die alte Haushälterin über seinen Charakter zu täuschen gewußt und eine solche Anhänglichkeit für Naomi geheuchelt, daß sie ihm volles Vertrauen schenkte. Er versprach, den Brief eigenhändig zu besorgen, brachte ihn aber anstatt dessen dem grausamen Simon in der Hoffnung auf reichliche Belohnung. Nachdem letzterer das Schreiben gelesen hatte, teilte er es Javan mit, um mit ihm zu besprechen, wie man des jungen Römers und seines Vaters am besten habhaft werden konnte.

Des heißblütigen Israeliten Zorn über Marcellus kannte keine Grenzen, umsomehr als er aus dem Briefe ersah, daß nicht nur die Verlobung mit Naomi eine abgemachte Sache zu sein schien, sondern daß der verhaßte Bräutigam obendrein Nazarener war.

Am selben Abend vor Sonnenuntergang waren eine Anzahl starker Männer in Zadoks Garten am Kidron in einer Weise aufgestellt, daß den erwarteten Eindringlingen jede Möglichkeit des Rückzugs abgeschnitten war. Javan sollte das Zeichen zum Angriff geben, während Simon vor Anbruch der Nacht in die Stadt zurückkehrte. Er schritt in Gedanken versunken durch die verödeten Straßen, als plötzlich wie aus dem Boden gewachsen der geheimnisvolle Prophet vor ihm stand und ihm zurief: »Wehe der empörerischen Stadt und ihren Einwohnern! Wehe dir Simon, wehe dir, Erzmörder! Eine Stimme gegen Jerusalem und den Tempel! Eine Stimme gegen das Volk! Wehe! Wehe! Wehe!«

Simon hatte den Sohn des Ananus wiederholt mit Ruten schlagen lassen; nie aber hatten ihn dessen Verwünschungen unangenehmer berührt als an jenem Abend und er rief wütend: »Verflucht seist du, falscher Prophet. Ich werde dich ins Reich des Fürsten der Finsternis, dessen Bote du bist, befördern. Sage ihm, daß Zion ihm und allen seinen Helfershelfern Trotz bietet. Der Herr der Heerscharen ist mit uns!«

Mit diesen kühnen Worten schoß er einen Pfeil nach dem Sohne des Ananus, dieser aber entwich ihm und floh, indem er rief: »Wehe dem Erzmörder! Wehe! Wehe! Wehe!«

Racheschnaubend eilte Simon heim und gab Befehl, daß der Unglücksprophet sofort verhaftet und am nächsten Morgen mit Ketten gefesselt vor ihn gebracht werde.

»Ich will ihn schon zum Schweigen bringen,« sagte er. »Nicht länger soll er sein Unwesen in der Stadt treiben und des Volkes Glauben an die endgültige Befreiung Jerusalems erschüttern!«


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