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Fünftes Kapitel.

Die Kunde von der Einnahme von Jotapata erreichte Jerusalem am Sabbattage und verbreitete namenlose Bestürzung in der Stadt. Das Gerücht, Josephus, der beste General, über den die Juden zu verfügen hatten, sei gefallen, rief allgemeinen Kummer hervor, und überdies hatten die meisten Familien irgend einen Angehörigen zu beklagen. Auch in Zadoks Haus herrschte tiefe Trauer; denn es war kaum anders denkbar, als daß Javan während der Belagerung auf die eine oder andere Weise umgekommen war. Schon hatten seine Eltern, Naomi und die treue Deborah die bei den Juden übliche Klage über ihn gehalten, als ein Brief des heidnischen Hauptmanns Rufus die Nachricht von seiner Gefangennahme brachte. Das Päckchen, das Rufus einem zuverlässigen Juden zur Besorgung übergeben hatte, enthielt auch ein an Claudia gerichtetes Schreiben folgenden Inhalts von ihrem Bruder Marcellus:

 

»Geliebte Claudia!

Längst hätte ich Dir gern geschrieben, mein Schwesterchen, aber die Zeiten sind zu unruhig, als daß man immer tun könnte, wie man möchte; da sich mir heute jedoch durch einen meiner Freunde eine willkommene Gelegenheit zur Beförderung eines Briefes bietet, will ich nicht länger säumen. Wie froh bin ich, Dich bei unseren alten Freunden in Jerusalem wohl geborgen zu wissen. Javan wird Dir durch seinen Fanatismus gewiß manchen unangenehmen Augenblick bereiten, aber von den übrigen Familiengliedern wirst Du umsomehr Liebe und zarte Rücksicht erfahren. Oft gedenke ich dankbar der schönen Stunden, die ich unter Zadoks gastlichem Dache verleben durfte und sehne mich dahin zurück. Mein Herz weilt in Jerusalem; so stolz ich darauf bin, Römer zu sein, behagt es mir trotz aller Pracht Roms doch weit besser in der Heimat unserer Kindheit.

Weißt du auch, daß unser hiesiges Haus einem Tempel Minervas Platz machen mußte? Du denkst gewiß, ich bringe dort der Göttin häufig meine Huldigung dar, um sie mir günstig zu stimmen – doch dem ist nicht also, Schwesterchen. Obwohl ich in der Götterstadt Rom lebe, habe ich aufgehört, die Kniee vor den heidnischen Gottheiten zu beugen und statt dessen gelernt, den wahren Gott Himmels und der Erde anzubeten. Sage unserer geliebten Naomi, daß ich kein Götzendiener mehr bin, sondern ein überzeugter Anbeter Jehovahs. Allerdings, Jude bin ich darum nicht geworden; aber durch die Gnade Gottes habe ich einen frommen Greis kennen gelernt, der mich in der heiligen Schrift unterwies und mir die Seligkeit vor Augen malte, die im Vertrauen auf den allein wahren Gott zu finden ist. Ich bitte Dich inständig, geliebte Claudia, lies auch Du in Seinem Worte; mit Seiner Hilfe wird es Dir dann wie Schuppen von den Augen fallen, und die Wahrheit wird Dir klar werden. Es sind hier viele Anhänger der verachteten Sekte der Nazarener, der auch mein Lehrer angehört; diese verfolgt der Kaiser mit seinem wütendsten Hasse, besonders seit sie mutig erklärt haben, sie wollten lieber alles erdulden, als den Namen Jesu verleugnen. Mit allen Mitteln sucht er sie nun zum Götzendienste zu zwingen, ohne daß es ihm gelänge, sie in ihrem Glauben wankend zu machen. Ihrer etliche wurden in Tierhäute genäht und im Cirkus den reißenden Tieren vorgeworfen, andere wurden unter Hohnreden der Zuschauer gekreuzigt und wieder andere mit Teer begossen und als Fackeln in den kaiserlichen Gärten aufgestellt, wo sie eines grausamen Feuertodes starben. Unser Vetter Camill bot seine ganze Überredungskunst auf, um mich zu bewegen, dem entsetzlichen Schauspiel beizuwohnen, aber ich verließ mit Abscheu und Grauen die Stadt, in der solche Greueltaten geschehen können. Leider scheinen sowohl der Onkel wie Camill allem menschlichen Gefühl immer unzugänglicher zu werden, jemehr sie jener schlimmsten Art der Philosophie huldigen, welche lehrt, mit dem Tode sei alles aus, man müsse daher sein Leben so viel wie möglich genießen, ohne an die Zukunft zu denken. Zu Anfang meines Aufenthaltes in Rom besuchte ich mit ihnen die Vorlesungen der Epikuräer und fühlte mich von der Beredsamkeit ihrer berühmten Meister dermaßen hingerissen, daß ich nahe daran war, ihre Lehren anzunehmen; glücklicherweise machte ich aber noch rechtzeitig die Bekanntschaft des alten Schriftgelehrten und entging dadurch der Gefahr. Auch den Besuch des Amphitheaters habe ich gänzlich aufgegeben, trotzdem ich dadurch den beißenden Spott Camills und seiner Freunde herausgefordert habe. Die Zeit, welche mein Onkel und sein Sohn damit vergeuden, ihren Leidenschaften zu frönen, benütze ich zu Besuchen bei meinem greisen Lehrer, dessen Worten ich mit stets wachsender Freude lausche. Jemehr ich in seinen Geist eindringe, umso deutlicher tritt mir der Verfall Roms entgegen, wie er sich in der zunehmenden Prachtliebe und Genußsucht seiner Bewohner kund tut, vor allem aber meiner Ansicht nach in dem beinahe unersättlichen Verlangen nach dem Besitze vieler Sklaven. In einem Palaste, in dem ich neulich bei meinem Onkel war, gibt es deren nicht weniger als vierhundert. Der Reichtum eines Römers bemißt sich nach der Zahl seiner Sklaven. Camill behauptet, sie seien dazu auf der Welt, den Römern zu dienen, aber ich kann mir nicht denken, daß der Schöpfer irgend eine Nation zum Frondienst einer andern bestimmt hat, oder daß die Sieger das Recht haben, die Besiegten als Lasttiere zu behandeln. Das Herz blutet mir, wenn ich daran denke, daß dieses traurige Los den ehrwürdigen Zadok und seine Familie treffen könnte. Gott verhüte in Gnaden ein so schweres Unglück und schenke den Juden Weisheit, daß sie die ihnen drohende Gefahr des Untergangs und der Sklaverei erkennen, ehe es zu spät ist! Lebewohl, teure Claudia. Sage Zadok und den Seinen, daß ich der alten Freundschaft nicht vergessen habe. Möge Gott euch alle segnen und die Bitten erhören, die ich Tag für Tag für euer Wohlergehen zu Ihm emporsende!

Dein treuer Bruder
Marcellus.«

 

Claudia hatte große Freude an dem ausführlichen Schreiben ihres heißgeliebten Bruders; sogar die Kunde von seinem Religionswechsel war ihr keineswegs unangenehm und sie folgte ohne Widerstreben seinem Rate, die Bücher Mose und die Propheten zu lesen. Naomi erfüllte die Nachricht, daß Marcellus dem Götzendienst entsagt hatte, mit unaussprechlichem Danke. Abgesehen von allem andern brauchte sie sich nun aus ihrer Zuneigung zu ihm doch kein Gewissen mehr zu machen. Mit ihr selbst war seit ihrer ersten Begegnung mit Maria von Bethanien eine große Veränderung vorgegangen. Deren Zeugnis von Jesus Christus war der jungen Israelitin durch Gottes Gnade tief ins Herz gedrungen; sie konnte dasselbe nicht mehr los werden und beschloß, alles zu wagen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Die nachsichtige Deborah hatte sie auf ihre dringenden Bitten wiederholt zu der Greisin begleitet; denn sie ahnte nicht, daß Maria der verhaßten Sekte der Nazarener angehörte.

In jedem andern Falle hätte es Naomi nicht übers Herz gebracht, ihren Eltern irgend etwas zu verheimlichen; hier fühlte sie aber, daß das Heil ihrer Seele davon abhing, daß sie sich Klarheit über Jesum verschaffte, ja, daß sie lieber Vater und Mutter verlassen müsse, als Ihn verleugnen, wenn Er wirklich der Messias war. Sie konnte sich nicht verhehlen, daß sie bereits halb und halb Christin war. Schon die bloße Botschaft von Jesus, dem Sünderheiland, hatte ihr Herz mit einer Seligkeit erfüllt, die sie keiner irdischen Rücksicht opfern konnte.

»Ob Marcellus wohl auch an diesen Jesum von Nazareth glaubt?« fragte sie sich immer wieder. »Wenn nicht, so wären wir uns durch seinen Religionswechsel um kein Haar näher getreten als früher.« Sobald sie einen Augenblick allein war, flehte sie Gott an, Er möge den Geliebten ebenfalls zum wahren Glauben führen, und sie kam zu dem Entschlusse, ihn bei ihrer nächsten Begegnung, wenn irgend möglich, zu Maria von Bethanien zu führen, damit er aus ihrem eignen Munde die Lebensworte höre, die ihr zu so großem Segen geworden waren.

Hätte sie alles gewußt, was Marcellus seiner Schwester nicht zu schreiben gewagt hatte, so wäre sie der Sorge um den ehemaligen Spielgenossen enthoben gewesen; denn letzterer war viel weiter im christlichen Glauben vorgeschritten als sie. Der ehrwürdige Greis, dem er seine Bekehrung verdankte, war kein anderer als Clemens von Rom, der Gefährte des Apostels Paulus und dessen Mitarbeiter in Philippi.


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