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Sechstes Kapitel.

Als sich in Jerusalem die Kunde verbreitete, Josephus sei nicht gefallen, sondern habe sich den Römern ausgeliefert, um dem Tode zu entgehen, wurde er von der Mehrzahl seiner Landsleute als Feigling und Verräter betrachtet, und das Verlangen, sich an dem abtrünnigen Befehlshaber zu rächen, schien den aufgebrachten Juden ein Grund mehr zum Widerstande gegen die Römer. In der festen Überzeugung, daß die Feinde vor ihrer Wut nicht bestehen könnten, erwarteten sie ungeduldig deren Erscheinen unter den Mauern Jerusalems.

Vespasian bot ihnen jedoch nicht so bald die ersehnte Gelegenheit, sich mit seinen Truppen zu messen. Anstatt nach Jerusalem vorzudringen, begab er sich mit seinem Heere in den Norden von Galiläa, schlug eine am See Genezareth ausgebrochene Empörung nieder und wartete in aller Ruhe auf die ihm von Rom angekündigten Verstärkungen. Unter den in Rom neu angeworbenen Soldaten befand sich auch Marcellus. Der junge Mann wurde in die von Titus befehligte Legion eingereiht; aber es dauerte eine geraume Weile, ehe er tätigen Anteil an irgend einem Kampfe zu nehmen hatte. Die vielen freien Stunden, welche ihm daher zur Verfügung standen, benützte er zu Streifzügen am Ufer des Sees von Genezareth, dem Schauplatz so vieler herrlicher Taten seines geliebten Meisters. Im Geiste sah er Diesen inmitten der lauschenden Menge, die wie gebannt an Seinen Lippen hing, und er konnte sich des Ausrufs nicht enthalten: »Wahrlich, nie hat ein Mensch geredet wie dieser Jesus von Nazareth! O, hätte ich Ihn doch gekannt, als Er auf Erden wandelte; hätte ich doch die holdseligen Worte gehört, die aus Seinem Munde gingen! Wie gern wäre ich mit Ihm in den Tod gegangen!«

Wie manchem aufrichtigen Christen kommen ähnliche Gedanken, wenn er sich das Leben unsers Herrn und Meisters vergegenwärtigt! Man kann sich kaum vorstellen, daß Leute, die Seine Wundertaten mit Augen gesehen und seine Lehren mit eignen Ohren gehört haben, so verstockt waren, daß sie Ihm nicht glaubten – und doch: »Wer steht, mag wohl zusehen, daß er nicht falle!« Wären wir in den Irrtümern der Juden aufgewachsen, so hätten wir uns wahrscheinlich auch an der Armut und Niedrigkeit des Messias gestoßen, und wir haben es wohl nötig, uns immer wieder an das so ermutigende Wort aus Seinem Munde zu erinnern: »Selig sind, die da nicht sehen und doch glauben!«

Ehe Marcellus Rom verließ, hatte ihm sein ehrwürdiger Lehrer eine Abschrift des Evangeliums Matthäus geschenkt. Diesen Schatz trug er immer bei sich, und so oft er sich unbeobachtet wußte, benützte er die Gelegenheit, um darin zu lesen.

»Ach, wären doch Claudia und Naomi hier,« dachte er gar manches Mal. »Wie möchte ich ihnen so gern mitteilen, was mir mein alter Freund Clemens erzählt hat! Naomi betet wenigstens den einigen Gott an, aber meine arme Claudia ist noch tief in den Banden des Götzendienstes verstrickt. Der Herr schenke den Worten ihrer Jugendgespielin Eingang, und führe sie zur Erkenntnis Seiner selbst, damit auf diese Weise den Lehren des Christentums Bahn in ihrem Herzen gemacht werde! Und auch meinem geliebten Vater möge diese Gnade zuteil werden! Die teure Mutter ist ja im Heidentum gestorben, aber da ihr die Wahrheit niemals nahe getreten ist, rechne ich auch für sie auf Gottes Barmherzigkeit; denn wem wenig gegeben ist, von dem wird auch wenig gefordert.«

Als Marcellus eines Tages von einer seiner Wanderungen am See Genezareth heimkam, traf er Javan im Zelte seines Vaters. Trotzdem die jungen Leute früher so viel miteinander verkehrt hatten, war es zwischen ihnen doch nie zu einer wirklichen Freundschaft gekommen. Marcellus kannte des Israeliten ränkesüchtigen Charakter; nun er ihn aber als Gefangenen wiedersah, begegnete er ihm mit solcher Herzlichkeit, daß der mißtrauische Javan ganz erstaunt war.

Es lag in seinem Interesse sich freundlich zu dem jungen Römer zu stellen; er ließ sich daher den geheimen Ingrimm nicht anmerken, versprach sich aber, sich an seinem Wohltäter zu rächen, sobald er sich wieder in Freiheit befände.

Eine galiläische Stadt nach der andern legte die Waffen nieder und öffnete den Römern die Tore; nur Gamala, Giscala und Itabyrium beharrten in ihrem Widerstande. Nach langer Belagerung fiel Gamala endlich am 23. September 67 in die Gewalt des Feindes. Mit Ausnahme zweier Schwestern des Generals Philippus wurden sämtliche Einwohner niedergemetzelt, wenn sie sich nicht mit Weib und Kind in den Abgrund stürzten, um den mörderischen Waffen der Römer zu entgehen.

Auch Itabyrium war gefallen, und Giscala hätte sich ergeben, wenn der sogenannte Johannes von Giscala, der Anführer einer namhaften Partei, nicht alles aufgeboten hätte, diesen Schritt zu verhindern. Durch List hielt er Titus hin, bis er sich und seine Anhänger in Sicherheit gebracht hatte, die Frauen und Kinder ihrem Schicksal überlassend. Titus behandelte die in Giscala zurückgebliebenen Bewohner mit großer Schonung, ließ nur einen Teil der Mauern einreißen und gab der Stadt eine Besatzung römischer Soldaten. Da die Jahreszeit schon weit vorgerückt war, zog sich Vespasian mit seinen Truppen nach Caesarea zurück, um dort zu überwintern. Die Eroberung von Galiläa hatte ihm viel Mühe und Arbeit gekostet, obwohl die Obersten der Nation ihre Brüder in keiner Weise unterstützten; in der Hoffnung daß die Römer sich nicht an Jerusalem wagen würden, wenn sie sahen, wie lang die Einnahme einer einzigen Provinz sie in Anspruch nahm. Wie viel klüger wäre es doch gewesen, wenn sie sich um einen tüchtigen Feldherrn geschart und sich auf die bevorstehenden Ereignisse vorbereitet hätten, anstatt Johannes von Giscala und seine zuchtlose Schar bei sich aufzunehmen! Letzterer bot seine ganze Beredsamkeit auf, um den Bewohnern Jerusalems einzureden, die römischen Soldaten seien viel zu erschöpft und mutlos, um die Belagerung der heiligen Stadt in Angriff zu nehmen. Die jungen Leute klatschten seinen Worten Beifall, die Alten hingegen blickten nur umso sorgenvoller in die Zukunft. Johannes gewann immer neue Anhänger, und die Stadt wurde je länger je mehr der Schauplatz innerer Zwistigkeiten. Die eine Partei stimmte für den Krieg, die andere für den Frieden, und diese Meinungsverschiedenheiten machten sich nicht nur in den Ratssitzungen sondern auch in den einzelnen Familien geltend. Die angeseheneren und bemittelteren Bewohner der Stadt streiften bewaffnet in der Gegend umher und ließen ihren Mutwillen an den armen Bauern aus, die sich nicht anders zu helfen wußten, als daß sie sich in die von den Römern besetzten Städte flüchteten. Schließlich vereinigten sich die Herumzügler zu einer organisierten Schar, die fortan den Namen »Zeloten« trug. Niemand widersetzte sich ihrem Einzug in Jerusalem, weil die kriegerisch gesinnte Partei später Nutzen von ihnen zu ziehen hoffte. Natürlich verschlimmerten sie nur die traurige Lage der Stadt und beschleunigten den Verbrauch der Lebensmittel, so daß sich binnen kurzem die Hungersnot zu allem übrigen Elend gesellte.

Der weise Zadok und dessen Freunde suchten vergeblich Ordnung zu schaffen. Die Aufrührer drangen nicht nur in den Tempel ein, sondern schonten nicht einmal des Allerheiligsten. Das Haus Gottes, bisher Gegenstand der höchsten Verehrung der Bewohner Jerusalems, wurde der Schauplatz des Kriegsgetümmels und der wüstesten Trinkgelage, und seine marmornen Wände hallten von schmutzigen Liedern, anstatt von Psalmen und Lobgesängen wieder. Die Zeloten wollten sogar den rechtmäßigen Hohenpriester Matthias absetzen und einen anderen für ihn wählen. Dagegen lehnte sich das Volk aber mit aller Entschiedenheit auf, und Zadok und seine Gesinnungsgenossen Ananus und Joseph mußten alles aufbieten, um die wütende Menge in Schranken zu halten. Als es Ananus schließlich gelang, die Aufmerksamkeit der Leute zu fesseln, stellte er ihnen in einer glühenden Rede vor Augen, wie tief sie moralisch gesunken waren, indem er tränenvollen Blickes zum Tempel aufsah, den sie so schmählich den Händen der Gottlosen preisgegeben hatten. Seine Worte gingen den Zuhörern tief zu Herzen, und als er schwieg, umringten sie ihn und baten flehentlich, er möge ihnen behilflich sein, das Haus Gottes wieder zu nehmen. Während Ananus und Zadok an der Spitze einer auserlesenen Schar gegen den Tempel vordrangen, fielen die Zeloten über sie her, und es entspann sich ein wütender Kampf, der aus beiden Seiten viele Menschenleben kostete. Die Zeloten verschanzten sich schließlich im Innern des Tempels, und Ananus wagte seinen Vorteil nicht zu verfolgen, weil er das Heiligtum nicht zum Schauplatz eines Blutbades machen wollte. Er ließ die Tore von sechstausend Mann bewachen und zog sich mit seinen übrigen Anhängern zurück.

Bis dahin hatte Johannes von Giscala scheinbar gemeinsame Sache mit Ananus gemacht; in Wirklichkeit aber war er mit des letztern Feinden in geheimem Einverständnis und riet ihnen, schleunigst eine Botschaft an die Idumäer zu schicken und diese um Hilfe zu bitten, da sie sollst rettungslos verloren seien.

Die Anführer der Zeloten, Eleasar, ein langjähriger Gegner des Ananus, und Zacharias, ein Sohn Phileas, gingen auf den Vorschlag ein, und so kam es, daß plötzlich ein Heer von zwanzigtausend Mann unter den Mauern Jerusalems stand und Einlaß in die Stadt begehrte. Jesus, der Sohn eines der angesehensten Priester, der im Namen des Ananus die Verhandlungen mit dem Befehlshaber Simon führte, machte verschiedenerlei Vorschläge zur Güte, aber Simon verwarf sie alle mit dem Bemerken, sie seien mit dem Vorhaben gekommen, die Partei der Patrioten gegen die Vaterlandsverräter zu schützen, und von diesem Vorhaben wollten sie sich nicht abbringen lassen.

Ananus sah sich demnach von zwei Seiten belagert. Die Zeloten waren im Tempel eingeschlossen und konnten nicht mit ihren neuen Verbündeten verkehren, während die Idumäer ihrerseits nicht in die Stadt gelangen konnten, und ein so schlechtes Lager hatten, daß ihrer viele vor Anbruch der Nacht ihr unbedachtes Vorgehen bereuten. Überdies brach ein furchtbares Gewitter los, dem sie schutzlos preisgegeben waren. Die Zeloten beobachteten mit großer Sorge ihre Verbündeten von den Zinnen des Tempels. Die Verwegensten unter ihnen hätten gern versucht, die Tempeltore zu erbrechen und ihren Freunden zu Hilfe zu eilen, aber die Truppen, von denen sie eingeschlossen waren, waren, ihnen an Stärke weit überlegen. Auch hatte Ananus die Gewohnheit, mehrmals in der Nacht in eigner Person die Wachen zu inspizieren, und er konnte mit jedem Augenblick kommen.

Leider versäumte er in jener Schreckensnacht diese Vorsicht, entweder, weil er dachte, das heftige Gewitter mache einen Angriff unmöglich, oder weil er auf die Stärke der Wache rechnete. Wie dem auch sei, jedenfalls hatte Gott die Hand im Spiele, und ließ den Dingen ihren Lauf, um sein widerspenstiges Volk zu züchtigen. Es regnete in Strömen, die Blitze zuckten, der Donner grollte, und die Erde geriet ins Wanken, so daß einige der Posten ihren Platz verließen, um sich unterzustellen. Trotz der herrschenden Dunkelheit bemerkten es die Zeloten und machten sich diese Unregelmäßigkeiten zu Nutzen. Es gelang ihnen die Tore zu erbrechen und begünstigt vom Heulen des Windes und dem Gedröhne des Donners, an die Stadtmauern vorzudringen, und ihre Verbündeten einzulassen, ohne entdeckt zu werden. Nun entstand ein entsetzliches Blutbad, indem sowohl Ananus wie Jesus, der Sohn Gamalas, das Leben verloren. Mit ersterem schwand die letzte Hoffnung der Aussöhnung mit Rom: der jüdische Geschichtsschreiber führt die Zerstörung Jerusalems auf den Tod dieses tief betrauerten Mannes zurück.

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In jener furchtbaren Nacht waren Zadok und seine Angehörigen auch um Naomis willen in bangster Sorge. Wenige Tage vor Ankunft der Idumäer hatten ein Onkel und eine Tante das junge Mädchen auf ihr unweit Bethanien gelegenes Landgut mitgenommen, und da die Bewegungen der feindlichen Horden von dort aus nicht beobachtet werden konnten, stand alles zu befürchten. Zum Glück gelang es, sie noch rechtzeitig vor der Rückkehr zu warnen.

Das Blutbad dauerte mehrere Tage lang fort; endlich hatten es sogar die Idumäer genug und erklärten, sie seien mit der Absicht gekommen, Jerusalem gegen die Römer zu verteidigen, nicht aber, die Einwohner niederzumetzeln. Sie lösten ihre Verbindung mit den Zeloten, öffneten vor ihrem Wegzug noch die Gefängnisse und setzten etwa zweitausend Mann in Freiheit. Allmählich gewannen die Leute wieder so viel Mut, daß sie wenigstens die Leichname ihrer ermordeten Angehörigen aufsuchten und bestatteten, obwohl die Zeloten noch immer schonungslos wüteten.

Vespasian kannte den Stand der Dinge in Jerusalem genau, zog es aber vor, mit der Belagerung zu warten, bis sich die verschiedenen Parteien unter sich aufgerieben hatten.

Johannes von Giscala machte sich die allgemein herrschende Verwirrung zunutze, um seine ehrgeizigen Pläne in Ausführung zu bringen, und es gelang ihm, die Herrschaft in die Hand zu bekommen. Die Zeloten teilten sich in zwei Parteien, deren eine Johannes zum Befehlshaber nahm und deren andere eine zügellose Demokratie einrichtete.

Um den Jammer aufs höchste zu steigern, fielen in der Osternacht die Räuber über die Stadt Engaddi her und metzelten siebenhundert Mann daselbst nieder; kurz aus den: ganzen Lande kam Schreckensnachricht über Schreckensnachricht.


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