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Zwanzigstes Kapitel.

Marcellus und sein Vater gelangten wohlbehalten ins römische Lager, und der junge Offizier teilte seinem General sofort mit, was vorgefallen war. Titus, mit dessen Genehmigung der Versuch gewagt worden war, hörte den Bericht von dem Zusammenstoß mit Javan mit gespanntem Interesse an, und versprach, daß dem schlauen Israeliten die Rache nicht erspart bleiben und alles zur Rettung der Braut geschehen solle, sobald sich die Stadt im Besitz der Römer befinden werde. Marcellus kannte die Hartnäckigkeit der Juden jedoch besser als der siegesgewisse Feldherr, und ihm graute beim Gedanken an die Leiden und Entbehrungen, die der Geliebten während der Belagerung drohten. Schweren Herzens zog er sich daher in sein Zelt zurück. Nach einer bangen schlaflosen Nacht ließ Titus ihn rufen und teilte ihm seinen Plan mit, mit einem kleineren Truppenteil einen Rekognoszierungsritt um die Mauern Jerusalems zu machen, auf dem er ihn als Adjutant begleiten sollte. Zu ihrem Erstaunen war die sonst so unruhige Stadt wie ausgestorben, nicht einmal an den Toren schienen Wachen zu stehen; aber kaum näherte sich Titus mit seiner Schwadron dem nordöstlichen Fort Psephina, so öffneten sich dessen Tore, eine unzählbare Menge stürzte sich auf die Römer, und zwar mit solcher Wut, daß letztere zurückweichen mußten. Nur mit knapper Not gelang es Titus und Marcellus zu entkommen.

Der Juden Begeisterung über dieses Ereignis kannte keine Grenzen. Betrachteten sie es doch als Unterpfand endgültigen Sieges! Die Kunde, daß der edle, tapfere Titus die Flucht ergreifen mußte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt, und die Bewohner nahmen den errungenen kleinen Vorteil für einen Beweis, daß der Herr bereits den Arm aufgehoben habe, um sie zu erretten. Javan teilte die allgemeine Begeisterung und dankte Gott gemeinsam mit seinem Vater für Seine Durchhilfe.

Zadok lehrte an jenem Abend voller Hoffnung nach Hause; aber weder Salome noch Naomi konnten seine Erwartungen teilen. Letztere wußte aus ihres Heilands Mund, daß Jerusalem dem Untergang entgegen ging, und auch Salome war überzeugt von der buchstäblichen Erfüllung der Weissagung Jesu, daß kein Stein auf dem andern bleiben werde. Bei ihrem zaghaften Charakter war sie viel leichter geneigt, an die Erfüllung der Prophezeiungen göttlicher Strafgerichte zu glauben als an die Verheißungen, daß der Herr die Seinen unter dem Schatten Seiner Flügel bergen und ihrer Missetaten nicht mehr gedenken, sondern sie von denselben reinigen wolle.

Gern hätte sie ihrem Manne mitgeteilt, was ihr Herz bekümmerte, aber sie wagte es nicht. Zadok schrieb daher ihre Niedergeschlagenheit ihrem angegriffenen Gesundheitszustand zu und empfahl Naomi, alles aufzubieten, um ihre Mutter zu erheitern. Hätte er eine Ahnung gehabt, wovon sich beide unterhielten, so hätte er gewiß bitter beklagt, so viel von zu Hause abwesend sein zu müssen.

Seiner Meinung nach war Salome der Religion ihrer Väter, viel zu sehr zugetan, um der christlichen Lehre gründlicher nachzuforschen. Überdies kannte er ihre Verehrung für den Rabbiner Joazer und glaubte sie in dessen seelsorgerlicher Obhut wohl geborgen. Daß Naomi ihr ihre vermeintlichen Irrtümer beibringen könnte, kam ihm gar nicht in den Sinn. Wie wenig kannte dieser Priester des Allmächtigen die alles überwindende Kraft des verachteten Glaubens der Nazarener!

Unbekannt mit den Erfahrungen, durch die seine Frau innerlich gegangen war, sprach er ihr oft von dem Lohne, den sie droben für ihren Gehorsam gegen das Gesetz Gottes ernten werde; aber Salome gab sich nicht mehr mit derartigen trügerischen Hoffnungen ab, sondern zitterte im Gegenteil beim Gedanken an Zadoks Selbstgerechtigkeit und Verblendung. Auch die Gebete, die er morgens und abends an ihrem Lager zu Gott emporsandte, entsprachen je länger je weniger ihren Bedürfnissen, denn sie hatte gelernt, ihre Anliegen im Namen Jesu vor Gott zu bringen. Die wenigen Stunden, die Zadok zu Hause verbringen konnte, verliefen daher wenig befriedigend.

Titus war außer sich über den unerwarteten Angriff der Juden ins Lager zurückgekehrt und beschloß, die Belagerung der Stadt nun sofort in Angriff zu nehmen. Am nächsten Morgen vor Tagesanbruch setzte sich demnach das ungeheure Heer in Bewegung.

Als die Anführer der verschiedenen Parteien sahen, daß die Römer ernst machten, und ihre Lager unmittelbar unter den Mauern Jerusalems aufrichteten, begriffen sie endlich, daß die einzige Möglichkeit, erfolgreichen Widerstand zu leisten in ihrem gemeinsamen Vorgehen bestand, und sie beschlossen, ihre Streitigkeiten für den Augenblick auf sich beruhen zu lassen. Ein wütender Kampf entspann sich zwischen den vereinten jüdischen Streitkräften und den Römern im Tale Josaphat; erstere wurden jedoch schließlich mit namhaften Verlusten zurückgeschlagen. Dasselbe Schicksal traf sie nach jedem erneuten Ausfall, obwohl sie mit großer Tapferkeit fochten.

Mittlerweile war das Osterfest herangekommen, und trotz des Krieges begab sich eine große Anzahl der Bewohner Judäas wie gewöhnlich zu dieser Zeit nach Jerusalem. Sie konnten wohl in die Stadt hinein, aber nicht wieder hinaus. Durch diese Vermehrung der Einwohnerschaft steigerte sich noch das Elend der Belagerten, da dadurch natürlich der aufgespeicherte Proviant schneller aufgezehrt wurde. Bei Gelegenheit des Festes kam es auch wieder zu einem neuen Bruch zwischen den Anführern der verschiedenen Parteien, die sich am großen Versöhnungstage während der Darbringung der Opfer so wütend bekriegten, daß Ströme von Menschenblut von den Stufen des Altars flossen, wo die zur Anbetung Gottes herbeigeeilte Menge vergeblich Schutz gesucht hatte.

Langsam aber sicher drang Titus mit seinem Heere gegen Jerusalem vor und eroberte trotz hartnäckigsten Widerstandes einen Stadtteil nach dem andern. Fünf Tage nach Einnahme der äußeren Mauer bemächtigte er sich der zweiten und eroberte mit einer Abteilung von etwa tausend Mann die untere Stadt. Um das Volk zu gewinnen, befahl er seinen Leuten, so schonend wie möglich mit den friedlichen Bewohnern umzugehen, da er nicht mit ihnen, sondern mit den Empörern Krieg führe. Die Anführer der aufrührerischen Parteien erklärten diese Schonung für Schwäche und bedrohten jeden umzubringen, der von Übergabe rede. Wer den Frieden herbeiwünschte, wurde erbarmungslos niedergemacht, und die feindlichen Soldaten wurden entweder verhöhnt oder meuchlings überfallen. Eine Anzahl entschlossener Juden griffen die Römer schließlich von hinten an, und wenn Titus seinen Leuten nicht rechtzeitig Hilfe gebracht hätte, wäre es ohne beträchtlichen Verlust für sie nicht abgegangen. Es gelang dem Feldherrn, die Angreifer zurückzudrängen und den größten Teil seiner Soldaten wieder zu sammeln, aber sie verloren wieder, was sie so teuer errungen hatten und die Juden blieben im Besitz der zweiten Mauer.

Mittlerweile bahnte sich langsam die Hungersnot in Jerusalem an und forderte ebenfalls zahlreiche Opfer. Titus suchte die unglückliche Stadt mit allen Mitteln zur Übergabe zu bewegen, aber die Zeloten ließen es nicht dazu kommen.


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