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Neunzehntes Kapitel.

Obwohl Marcellus schon zweimal vergeblich auf Naomi gewartet hatte, begab er sich am dritten Abende wieder in Begleitung seines Vaters und einer Anzahl zuverlässiger Leute an den Ort der Zusammenkunft. Nachdem sie dort eine Weile gewartet hatten, hörten sie Schritte nahen und Marcellus vernahm deutlich seinen Namen. In der Meinung, es sei Naomi, die ihn rief, wollte der junge Offizier auf sie zueilen, als Javan mit seinen Genossen auf ihn und Rufus losstürzten. Dem blutigen Kampfe, der sich nun entspann, fielen auf beiden Seiten Menschenleben zum Opfer, aber, obwohl in der Minderzahl, behielten schließlich die Römer den Sieg, und Javan entging mit knapper Not der Gefangennahme. Simons Enttäuschung über das Mißlingen des Unternehmens war kaum weniger groß als das des jungen Pharisäers; aber es blieb nun nichts übrig, als die Sache so viel wie möglich zu vertuschen. Besonders lag Javan daran, daß Naomi nichts erfuhr; der bis dahin in Gewahrsam gehaltene Ruben mußte daher schwören, das junge Mädchen und Deborah durch falsche Vorspiegelungen in Sicherheit zu wiegen. So weh es Naomi tat, ihrem Verlobten eine bittere Enttäuschung bereitet zu haben, war sie sich doch bewußt, daß sie das Richtige gewählt hatte, und um kein selbstsüchtiges Bedauern in ihrer Seele aufkommen zu lassen, begab sie sich zu ihrer geliebten Mutter. Im Bestreben, ihr zu dienen, vergaß sie am ehesten ihre Sorgen und der beste Lohn, der ihr für das gebrachte Opfer zuteil wurde, war der Ausdruck warmen Interesses, der aus Salomes Zügen sprach, wenn sie von Jesu Liebe und Erbarmen mit ihr redete.

Sie las ihr Claudias Brief vor und wies bei dieser Gelegenheit auf den Frieden hin, den das Evangelium den Mühseligen und Beladenen brachte.

»Und doch,« erwiderte Salome, »habe ich gerade dadurch, daß ich dir zuhörte, den Frieden verloren, den ich früher besaß. So lange der von meinen Vätern überkommene Glaube nicht erschüttert war, war ich ruhig und zufrieden. Ich erfüllte das Gesetz, soweit es in meinen Kräften stand, und im übrigen verließ ich mich darauf, daß Gott meine Opfer in Gnaden ansehen werde. Seit mir klar geworden ist, daß Kälber- und Böckeblut nicht genügt zur Tilgung meiner Schuld, haben Furcht und Zweifel Eingang in meine Seele gefunden. Ich kann mich nicht vertrauensvoll in Jesu Arme werfen, weil ich noch nicht völlig überzeugt bin, daß er wirklich der verheißene Messias ist.«

»Geliebte Mutter,« erwiderte Naomi, »wie danke ich meinem himmlischen Vater für diese deine Worte! Der das gute Werk in dir angefangen hat, wird es sicherlich hinausführen. Gerade die Furcht und der Zweifel, zwischen denen deine Seele zur Zeit hin und her schwankt, sind mir ein Beweis, daß der heilige Geist an deinem Herzen arbeitet und du bald zu der Zahl derer gehören wirst, die jenen Frieden genießen, den nur Jesus Seinen Jüngern zu geben vermag, den aber auch keine Macht der Welt ihnen rauben kann.«

»Gott gebe es, Naomi!« sagte Salome seufzend. »Wird Jesus mir aber auch verzeihen, daß ich so lange gezögert habe, Ihn anzunehmen, wenn Er wirklich Christus ist? Ich werde nicht mehr so lang leben, daß ich Zeugnis von der Aufrichtigkeit meines Glaubens ablegen könnte, und ich würde wohl nie die Kraft haben, um Seines Namens willen Verfolgung zu ertragen. Weil ich das Mißfallen deines Vaters mehr fürchtete als das meines Gottes, habe ich mich absichtlich den Worten Amaziahs verschlossen und habe damals nicht einmal gebeten, der Herr möge mir den rechten Weg zeigen, weil es mir bequemer war, an der jüdischen Religion festzuhalten. Erst während deiner und deines Vaters Abwesenheit in Joppe habe ich mir ein Herz genommen, über diese Dinge nachzudenken und um Erleuchtung von oben zu flehen.«

»Und der Herr hat dein Gebet erhört und dein Herz zur Aufnahme des Evangeliums zubereitet, geliebte Mutter,« antwortete Naomi. »Sein Name sei gelobt!«

»Ja, das ist Sein Werk, Naomi. Wenn ich schließlich noch gerettet werde, habe ich es allein Seiner Gnade zu verdanken.«

»Ist das nicht bei jedem von uns der Fall?« entgegnete Naomi. »Sind wir nicht alle tot in unsern Sünden, bis uns der Geist Gottes ein neues Herz schenkt? Wieviel Stolz und Anmaßung und Selbstgerechtigkeit fand sich in meiner Seele, und doch brachte es der Herr Jesus dazu, daß ich mich Ihm anvertraute! Ich habe noch keinen Jünger und keine Jüngerin Jesu kennen gelernt, die ihre Rettung nicht als ein Wunder der Gnade und des Erbarmens Gottes betrachteten, und gerade die in der Heiligung am meisten Vorgeschrittenen haben ihr natürliches Verderben am tiefsten empfunden. Darum, geliebte Mutter, zweifle nicht länger an Jesu Macht und Willigkeit dich zu retten.«

»Ja, mein Kind, ich glaube, das Jesus mir vergeben kann und vergeben will. Es ist wunderbar, daß Gott Seinen eingebornen Sohn für uns Sünder in den Tod gegeben hat; wie sollten wir darnach nicht alles von Seiner Liebe erwarten?«

»Gott sei ewig gepriesen!« rief Naomi strahlenden Auges. »Du hast hiermit bekannt, daß du Jesum als deinen persönlichen Heiland angenommen hast. Er stärke deinen Glauben und bewahre dich in Ihm. Die Opfer des jüdischen Gottesdienstes sind nur Vorbilder von dem einmaligen vollkommenen Opfer Jesu Christi. O, daß unser armes Volk verstehen könnte, wie nutzlos die äußeren Formen sind, seit der Sohn Gottes erschienen ist! Es ist mir ein tiefer Schmerz, daß mein geliebter Vater und Javan die herrliche Freiheit, welche Christus uns erworben hat, nicht annehmen wollen.«

»Ich wage nicht mit ihnen über den Gegenstand zu reden, Naomi. Ich bin körperlich und geistig zu schwach, um mit ihnen zu streiten, und sie würden auch nicht auf mich hören. Ich kann nichts tun als für sie beten, wie du für mich gebetet hast, mein Kind, und Gott erhöre in Gnaden mein Flehen!«

Naomi sah wohl, daß ihre Mutter noch nicht imstande war, Zadoks und Javans Mißfallen zu ertragen oder dasselbe durch ein freimütiges Bekenntnis herauszufordern, daher drang sie nicht weiter in sie. Sie holte ihre Harfe und spielte ihr ihre Lieblingslieder vor, bis sie in einen sanften Schlummer fiel. Je länger sie alsdann über die Unterredung nachdachte, die sie mit der geliebten Kranken gehabt hatte, umso klarer ward es ihr, daß letztere wirklich vom Tode zum Leben hindurchgedrungen war und sie es ihrem Heiland zutrauen durfte, daß er ihr vor ihrem Tode noch die Kraft geben werde, ihren Glauben an Christum zu bekennen. Aus tiefster Seele dankte sie Gott für Sein Erbarmen und flehte um die Rettung ihres Vaters und Bruders. Noch war sie mit Beten beschäftigt, als Salome erwachte und mit seligem Lächeln sagte: »Ich habe geträumt, ich sei droben in der Herrlichkeit angelangt und stehe mit Theophil, Claudia, Amaziah, Judith, Marcellus und dir vor dem Throne Gottes, angetan mit weißen Kleidern und einstimmend in den Lobgesang der Engel. Nur Zadok und Javan fehlten, und ich sah mich nach ihnen um – da erwachte ich mit einem Frieden im Herzen, wie ich ihn nie gekannt habe. Ich bin überzeugt, auch diese beiden teuren Wesen werden noch gerettet werden. Dürfte ich das nicht glauben, so könnte ich mich nicht ungeteilt der Seligkeit freuen, die droben meiner wartet. Der arme Javan, wie hat sein falscher Eifer ihn verblendet! Möge Gott ihm seine vielen schweren Sünden und insonderheit seine Grausamkeit gegen den armen Theophil vergeben!«

Kaum hatte Salome ausgeredet, so trat Javan ein. Sein Vater war ihm auf der Straße begegnet und hatte ihm mitgeteilt, daß seiner Mutter Kräfte sichtlich abnahmen und der Arzt ihren Zustand für bedenklich hielt. Die Nachricht ging Javan tief zu Herzen; denn er fühlte nur zu gut, daß sein Benehmen gegen Theophil und Naomi viel dazu beigetragen hatten, die ohnehin geschwächte Gesundheit seiner Mutter noch mehr zu erschüttern.

Während er an ihr Lager eilte, überkam ihn ein tiefer Schmerz beim Gedanken, daß er den Seinen von jeher eine Quelle der Sorgen und des Kummers anstatt eine Stütze und ein Gegenstand der Wonne gewesen war. Als er sich der Kranken näherte, lag daher eine ungewohnte Weichheit und Milde in seinem Wesen, so daß Salome zwanglos mit ihm verkehren konnte wie seit lange nicht. Naomi entfernte sich stillschweigend, und Mutter und Sohn unterhielten sich lange miteinander. Das Zusammensein hatte ersterer offenbar gut getan; denn als Naomi wiederkam, fand sie sie fröhlicher als sie sie seit Theophils Gefangennahme jemals gesehen hatte.

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