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Der Tag nach dem im vorigen Kapitel wiedergegebenen Zwiegespräch der beiden Freundinnen war ein Freudentag für Jerusalem. Die verschiedenerlei Rüstungen waren eingestellt worden und es war wieder Ruhe in der heiligen Stadt eingezogen. Es war das jüdische Pfingsten, an dem die Kinder Israel dein Herrn, ihrem Gott, die Erstlingsfrüchte des Feldes darbrachten, eines der drei Hauptfeste der Nation, zu dem nach Jehovahs Gebot die Bewohner der Städte und Dörfer Judäas zum Tempel hinaufwallen sollten. Der in der Umgegend herrschenden Unruhen wegen waren · der Festgäste weniger als sonst in Jerusalem; dennoch waren die Straßen gedrängt voll Menschen. Von allen Seiten hörte man Musik, und Scharen von Jünglingen und Jungfrauen tanzten unter Harfenspiel und Lobgesang den Reigen. Gefahren und Mißhelligkeiten waren vergessen und für den, der nicht mit den Verhältnissen des Landes vertraut war, schien alles Friede und Freude zu atmen. Fröhlichen Herzens gesellte sich Naomi zu den Gefährtinnen, und den liebenden Blicken der Mutter und Freundin, die der tanzenden Jugend in den Tempel folgten, schien ihr Schritt der leichteste, ihre Stimme die süßeste von allen. Claudia machte keine der vorgeschriebenen Zeremonien mit, aber beim Anblick der anbetenden Menge, die ihrem Gott in Einmütigkeit des Geistes die Erstlingsfrüchte des ihr von Ihm bescherten Erntesegens 'darbrachte, bemächtigte sich ihrer eine tiefe Bewegung. Die Schönheit und der Glanz des hoch über der Stadt thronenden Tempels läßt sich kaum in Worten wiedergeben. Mit Recht konnten die Jünger Jesu stolz sein auf den herrlichen Bau und den Meister auf die Größe der kunstfertig behauenen Steine aufmerksam machen. Wer aber hätte gedacht, daß des letzteren schreckliche Antwort: »Wahrlich, wahrlich, der Tag wird kommen, da kein Stein auf dem anderen gelassen bleibt!« ihrer Erfüllung so nahe war. Am wenigsten glaubten das die Bewohner von Jerusalem selbst, sonst hätten sie vielleicht im Sack und in Asche Buße getan wie die Niniviten, als ihnen durch den Propheten Jonas das Strafgericht Gottes angekündigt wurde, und auch ihnen wäre dann gewiß Gnade für Recht zuteil geworden. Aber die Juden waren von beispielloser Hartnäckigkeit, daher auch die furchtbare Strafe, welche sie ereilte. Sie wollten sich nicht unter ihres Heilands Flügel sammeln lassen, darum wurde ihre Stadt verwüstet. Schon schickten sich die Adler an, ihr Fleisch zu fressen; aber anstatt in Lauterkeit zu ihrem Gott zurückzukehren, brachten sie Ihm mit blutbefleckten Händen und gleißnerischen Herzens ihre Opfer dar. Inmitten des allgemein herrschenden Verderbens gab es jedoch noch manchen echten Sohn Abrahams, wie unter anderen der Priester Zadok, der dankerfüllten Herzens im Geiste der Anbetung seines Amtes waltete. Salome betrachtete ihn mit liebender Ehrfurcht und Naomi konnte sich eines Gefühls stolzer Freude nicht erwehren, als sie mit ihren Gefährtinnen an ihm vorüberging. Sie liebte beide Eltern zärtlich, Zadok aber betrachtete sie beinahe wie ein Wesen höherer Art, dessen Wille ihr Gesetz war und dem sie sich unbedingt beugte.
»Ach!« sagte sie zu ihrer Mutter, »wäre mein Vater Hoherpriester oder auch nur Statthalter von Jerusalem, so wäre alles recht. Seiner Weisheit gelänge es, die verschiedenen Parteien, in die unsere geliebte Stadt geteilt ist, zu versöhnen, und wenn er an der Spitze unserer Truppen stünde, würden die Römer nicht lange stand halten können. Er ginge dem Feinde im hohepriesterlichen Schmucke entgegen, und ich bin überzeugt, alsbald würde dann der Messias in den Wolken des Himmels herabkommen, um dem Kampfe ein Ende zu machen und unsere Stadt und unsern Tempel wieder zu Macht und Ansehen zu bringen. Der prächtige Bau besteht ja noch in seiner ganzen früheren Herrlichkeit; aber der Herr ist nicht mehr gegenwärtig in Seinem Hause, um Sein Volk zu heiligen. Er hat uns verlassen, darum erheben sich unsere Feinde gegen uns. Doch Er wird wieder kommen in der Person des Messias, und Jerusalem wird dann wieder die Krone des Erdbodens sein.«
»Gott gebe es, Naomi!« erwiderte Salome, »aber offen gestanden habe ich, so oft ich hierher komme, um anzubeten, wie eine Vorahnung, daß binnen kurzem kein Gottesdienst mehr hier gehalten und unsere reiche, fröhliche Stadt durch Feuer und Schwert heimgesucht werden wird. Ich fürchte, wir werden noch tiefer sinken und den Zorneskelch Jehovahs bis auf die Neige trinken müssen, ehe die Sünden unserer Nation getilgt sein werden und der von den Nationen so Heißersehnte erscheinen wird, um den Thron Seines Vaters David wiederherzustellen.«
»O Mutter, wie kannst du dich solchen Gedanken hingeben? Meinst du, Jehovah würde jemals zugeben, daß die Heiden über Sein Volk triumphieren und Seine Altäre entweihen?«
»Es wäre das nicht das erstemal, Naomi,« antwortete die Mutter, »und wenn ich sehe, wie sich unsere Mitbürger gegen Gott auflehnen, gedenke ich schaudernd der furchtbaren Gerichte, welche sie durch ihre Missetaten über unser Vaterland heraufbeschwören. Hast du der Zeichen vergessen, die vor zwei Jahren zu Anfang des Krieges am Himmel erschienen und unsere Herzen mit Angst und Schrecken erfüllten – jenes flammenden Schwertes, das zwölf Monate lang über der Stadt schwebte und jener Feuersglut, die am Feste der süßen Brote den Altar und den Tempel einhüllte? Erinnerst du dich nicht, wie die eherne Türe an der Ostseite des Tempels von selbst aufging und nur mit äußerster Kraftanstrengung wieder geschlossen werden konnte? Einige unserer Schriftgelehrten hielten das für ein Zeichen, daß Gott uns die Schleußen Seiner Segnungen öffnen werde; aber dein Vater, der Augenzeuge des merkwürdigen Ereignisses gewesen war, kam tiefbetrübt nach Hause; denn er hatte den Eindruck, daß sich die Tore des Heiligtums binnen kurzem dem Feinde öffnen werden.«
»Aber jetzt hat mein Vater diese Angst nicht mehr,« sagte Naomi. »Er spricht im Gegenteil allen Mut zu.«
»Allerdings hat sich der Eindruck, den jene Ereignisse auf ihn gemacht haben, mit der Zeit verwischt; ich aber kann sie nicht vergessen, so wenig wie jenes schreckliche Gesicht von Wagen und Reitern, die in raschem Laufe die Stadt umzingelten. Weißt du nicht mehr, wie dein Vater erzählte, daß vorige Pfingsten während des Opfers plötzlich allerhand seltsame Laute gehört wurden und wie von einer gewaltigen Volksmenge der Ruf ertönte: »Fort von hinnen!« O mein Kind, seither habe ich gefühlt, daß der Herr von uns gewichen ist und Seine heiligen Engel nicht mehr über unsern Tempel wachen. Und siehst du nicht dort im Gedränge jenen geheimnisvollen Mann, der seit Beginn des Krieges wie ein böser Geist durch unsere Straßen läuft? Weder Drohungen noch Strafen haben ihn zum Schweigen bringen können, und an jedem der großen Feste trübt uns nun der Sohn des Ananus die Freude.«
Noch hatte sie nicht ausgeredet, da glitt die merkwürdige Persönlichkeit schon wieder durch die Festversammlung, die wie vor einem Verfluchten zurückwich. Er trat in den freien Raum vor, der den Opferaltar umgab, und schrie mit durchdringender Stimme, indem er die abgemagerten Arme gen Himmel erhob: »Eine Stimme aus Osten! – eine Stimme aus Westen! – eine Stimme aus den vier Himmelsrichtungen! – eine Stimme gegen Jerusalem und gegen den Tempel! – eine Stimme gegen die Brautleute und die Verirrten! – Eine Stimme gegen das ganze Volk!« Darnach verschwand er im Gedränge. Ein Schauder ergriff die Anwesenden; schweigend blickten sie dem Unglückspropheten nach. Niemand hatte den Mut, Hand an ihn zu legen. Als er die erstenmale diese Schreckensrufe ausgestoßen, hatte man ihn bis aufs Blut geschlagen; trotzdem hatte er, ohne einen Klagelaut von sich zu geben, weitergerufen: »Wehe Jerusalem! wehe Jerusalem!« Er galt nun für wahnsichtig und man ließ ihn gewähren.
Ehe man sich von dem peinlichen Eindruck erholt hatte, den sein Erscheinen allenthalben hervorzurufen pflegte, war er bereits unten am Hügel angelangt, und man hörte seine wehklagende Stimme nur noch wie aus weiter Ferne.
Bald darnach zerstreute sich die Menge, und der Freude wurde ein jähes Ende gemacht; denn noch vor Schluß der Gottesdienste wurden die vornehmsten Priester und Obersten des Volkes zur Prüfung eines vom Befehlshaber der in Galiläa stehenden jüdischen Streitkräfte eingelaufenen Eilbriefes zusammenberufen.
Um sich einen Begriff von der Wichtigkeit der empfangenen Botschaft machen zu können, muß man notwendig einen Einblick in die zur Zeit in Judäa herrschende Sachlage haben; ich will daher in Kürze die seit Beginn der Empörung vorgekommenen Ereignisse schildern.
Die Juden hatten in den letzten Jahren mehrfach den Versuch gemacht, das römische Joch abzuschütteln, aber verhältnismäßig wenig ausgerichtet, weil es ihnen nicht nur an den nötigen Bundesgenossen, sondern auch an der richtigen Leitung fehlte. Die Tyrannei der verschiedenen Statthalter hatte den stolzen Sinn des Volkes aufs äußerste gereizt, und im sechsundsechzigsten Jahre nach der Geburt unsers Herrn und Heilandes brach die Empörung gegen die grausamen Unterjocher in hellen Flammen aus.
Die Erhebung der verhältnismäßig so schwachen jüdischen Provinz erregte Staunen und Bestürzung beim Kaiser Nero, und er ernannte ohne Zögern Vespasian, einen seiner besten Generäle, zum Befehlshaber von Syrien, damit dieser alle nötigen Mittel zur Unterdrückung der Empörung ergreife, ehe sich letztere auch andern Provinzen mitteile.
Vespasian sammelte auf dem Wege nach Syrien alle verfügbaren römischen Streitkräfte, sowie die Bundesgenossen der benachbarten Staaten. Diese energischen Maßregeln erschreckten einen Teil der Rebellen in so hohem Grade, daß sie sich schleunig unterwarfen; die meisten aber beschlossen, im Widerstand zu verharren. Eine im Tempel abgehaltene Ratsversammlung wählte Joseph, den Sohn Gorions und Ananus, den Hohenpriester, zu Befehlshabern der Stadt, übertrug dem Geschichtsschreiber Josephus das Kommando über Galiläa und ernannte verschiedene andere vertrauenswürdige Männer zur Verteidigung der übrigen Distrikte.
Eleasar, der Sohn Simons, der zu Anfang des Aufstandes tätigen Anteil an allen Vorgängen genommen hatte, erhielt kein Kommando, da er seinen Einfluß mißbraucht hatte. Josephus eilte auf seinen Posten; denn man erwartete allgemein, daß dort der Kampf beginnen werde. Es gelang ihm, ein Heer von sechzigtausend Mann zu organisieren; aber seine weisen Vorkehrungen scheiterten vielfach an den Intriguen und dem Widerstande des klugen aber ränkesüchtigen Giscala, dem er die Befestigung der Hauptstadt Sepphoris übertragen hatte. Monatelang stritten sich die beiden um die Oberherrschaft und ihre Bemühungen, die Obersten Jerusalems für ihre Partei zu gewinnen, kostete viel Zeit und Geld, das besser zur Verteidigung des Landes angewandt gewesen wäre. In Jerusalem selbst wurden die Vorbereitungen zum Kriege mit großem Eifer betrieben, und die Straßen und öffentlichen Plätze der Stadt hallten wieder von Waffengeklirr. Die Klügeren und Zaghafteren aus der Bevölkerung zitterten bei der Aussicht auf den Jammer, der über Jerusalem und die dasselbe umgebenden Hügel hereinzubrechen drohten; aber die Angst vor den Zeloten, Fanatikern und andern blutdürstigen Lenken, welche zur Zeit die Stadt beherrschten, ließen den Wunsch nach Frieden gar nicht in ihr aufkommen.
Auf Befehl des Hohenpriesters Ananus wurden die Mauern ausgebessert und befestigt, Waffen und Kriegsmaschinen fabriziert und Mundvorräte für den Belagerungsfall aufgespeichert.
Ananus, wurde ein überaus kalter Empfang zuteil und Simon, der Sohn des Gioras, an der Spitze einer Schar nichtsnutziger Leute, bot alles auf, ihm die Herrschaft streitig zu machen. Der Hohepriester sandte Truppen gegen ihn, aber Simon flüchtete sich in die Stadt Masada und trieb sein Unwesen dort weiter.
So standen die Dinge im Frühjahr 67 in Judäa und Galiläa. Vespasian kam mit seiner Heeresmacht nach Antiochien, wo König Agrippa und dessen Truppen zu ihm stießen. Während seines Vormarschs auf Ptolemais kamen Gesandte aus Sepphoris zu ihm und boten ihm im Namen der Einwohnerschaft die Übergabe der Stadt an, obwohl gegen den Willen des Befehlshabers von Galiläa. Josephus versuchte die Stadt zurückzuerobern, aber vergeblich. Schließlich zog er sich nach Jotapata zurück, von wo aus er einen so heftigen Ansturm auf die Römer machte, daß diese sich zurückziehen mußten. Der Erfolg erfüllte die Juden mit neuem Mute und neuer Entschlossenheit.
Vespasians Hauptkorps war noch nicht im Kampfe gewesen, aber nun beschloß der General, es selbst gegen den Feind zu führen. Der Anblick dieser ungeheuren Streitmacht verbreitete eine solche Panik unter den jüdischen Truppen, daß sie auseinanderstoben und Josephus sich mit den wenigen Getreuen, die ihm geblieben waren, nach Tiberias zurückziehen mußte, von wo aus er Eilboten nach Jerusalem schickte und um Zusendung von Hilfstruppen bat. Die Obersten des Volkes versammelten sich sofort, um die Sache zu erwägen, aber bei der Uneinigkeit, die unter ihnen herrschte, kam es zu keinem rechten Entschlusse. Nur Javan und einige Freunde eilten mit einer kleinen Schar Freiwilliger auf den Kriegsschauplatz und es gelang ihnen, sich gerade noch in die Festung einzuschleichen, ehe Vespasian am 15. Mai 67 mit seinem Heere vor deren Tore kam.