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Zadok und Naomi erschraken bei ihrer Heimkehr über die Veränderung, die während ihrer Abwesenheit mit Salome vorgegangen war. Ihre Kräfte waren schon seit längerer Zeit im Abnehmen begriffen, und die traurigen Ereignisse, die sich vor ihren Augen abgespielt hatten, hatten ihre Gesundheit vollständig untergraben. Sie war so niedergeschlagen, daß ihr selbst Naomi kein Interesse mehr abgewinnen konnte und ernstlich besorgt wurde.
Zadok war häufig abwesend; sein Rat hatte Gewicht bei den Obersten des Volkes, und da er nun auch für die Berufung Simons stimmte, bediente sich Javan seines Einflusses zur Stärkung seiner Partei. Nach dreijähriger Wartezeit gelangte Simon endlich in die Stadt und binnen kurzem hatte er die Herrschaft in Händen, wenn er auch nur wenig gegen die im Tempel verschanzten Zeloten auszurichten vermochte.
Mittlerweile hatte das römische Heer Vespasian zum Gegenkaiser ausgerufen, da es sich dem grausamen, wollüstigen Vitellius nicht unterwerfen wollte. Bis der neue Herrscher seine Stellung in den verschiedenen Provinzen des Reiches befestigt hatte, mußte die Eroberung Jerusalems hinausgeschoben werden; kaum aber war Vitellius tot, so wurde zur Fortsetzung des Krieges in Judäa geschritten, und zwar übertrug Vespasian zu Beginn des Jahres 70 den Oberbefehl über die Truppen seinem Sohne Titus.
Diese Nachricht erfüllte die Bewohner Jerusalems mit Schrecken und Entsetzen; denn bei dem allbekannten energischen Charakter des Prinzen und der Liebe, mit der die Soldaten an ihm hingen, war wenig Aussicht, daß die unter sich uneinigen Truppen, welche die Stadt verteidigten, ihn zurückschlagen würden. Nichts konnte vorteilhafter für die Römer sein als der Zustand, in dem sich Jerusalem zur Zeit befand. Es war in drei Parteien geteilt, die sich gegenseitig mit wütendem Hasse bekriegten, so daß die Straßen buchstäblich im Blute schwammen. Der Tempel war der Schauplatz der entsetzlichsten Greuelszenen, und doch ließen sich die Juden Jerusalems und der Umgegend nicht abhalten, daselbst anzubeten und dem Gott Jakobs ihre Opfer darzubringen.
Der edle Zadok waltete seines Priesteramtes mit einer so würdevollen Ruhe, daß ihm sogar die raubsüchtigen Horden, die ihr Lager im Hause Gottes aufgeschlagen hatten, ihre Achtung nicht versagen konnten. Mehrere seiner Kollegen wurden getötet oder verwundet; aber ihm widerfuhr kein Leid und er konnte Tag für Tag zu den Seinen heimkehren und ihnen die Greueltaten erzählen, die sich unter seinen Augen vollzogen hatten.
Rings um den Tempel waren nur noch Ruinen zu sehen, und Simon ließ sogar die für Jahre hinaus mit Proviant versehenen Kornhäuser anzünden, damit sie nicht in die Hände seiner Gegner fielen. Nur in dem einen Stück waren die drei Parteien einig: wer irgendwie in Verdacht stand, den Römern günstig gesinnt zu sein, wurde schonungslos niedergemetzelt.
Javan verzehrte Zeit und Kräfte im Dienste seiner Partei; denn er war der festen Überzeugung, daß Simon von Jehovah dazu bestimmt war, die inneren und äußeren Feinde Jerusalems zu vernichten. Beim Anblick der Tempelschändung, von der er tagtäglich Zeuge sein mußte, kochte ihm das Blut in den Adern vor Entrüstung und finstere Rachegedanken erfüllten seine Seele.
Eines Abends kehrte er traurig und in sich gekehrt nach Hause zurück, und nach einer geheimen Unterredung mit seinem Vater suchte er seine Mutter und Schwester auf der kleinen, nach dem Hofe zu liegenden Terrasse auf, wo zur Zeit auch Maria von Bethezob mit ihrem kleinen Jungen war.
Es war dies der einzige Ort, wo Salome und Naomi ungestört die frische Luft genießen konnten, und letztere benützte die vielen Stunden des Alleinseins mit der geliebten Mutter, um ihr das Heil in Christo nahe zu bringen. Eine Zeitlang hatte Salome aus Gehorsam gegen ihren Mann das Thema vermieden; aber jemehr sie von Jesu von Nazareth hörte, umsomehr fühlte sie sich getrieben, an Seine Liebe zu glauben und sich Ihm anzuvertrauen. Die inbrünstigen Bitten ihres Kindes fanden Erhörung; das Glaubensfünklein wurde in ihrer Seele angezündet, und Der, der den glimmenden Docht nicht auslöscht, hatte Erbarmen mit seiner schwachen Magd und legte ihr keine Prüfungen auf, die sie nicht hätte ertragen können.
Zadok war so sehr von seinen Amtspflichten hingenommen, daß er die Wandlung, die mit seiner Frau vorging, nicht bemerkte, und sie selbst redete nicht mit ihm davon.
Am Tage, an dem Javan die Seinen auf der Terrasse aufsuchte, war, wie gesagt, Maria von Bethezob mit dem kleinen David zu Besuch bei Salome und Naomi, und letztere spielte gerade mit dem Kinde, als ihr Bruder kam. Seine finstere Miene machte dem Vergnügen ein Ende, und der ängstliche Blick, den der Kleine ihm zuwarf, schnitt dem jungen Pharisäer in die Seele.
Er bückte sich zu dem Jungen nieder, nahm ihn auf den Arm und fragte leise: »Warum fürchtest du dich vor mir, David?«
»Weil du den armen Theophil umgebracht hast,« antwortete das Kind mit bebender Stimme.
Javan setzte dasselbe auf die Erde nieder, und seine Stirn wurde noch finsterer als zuvor.
»Man betrachtet mich also als Mörder,« sagte er sich, »das soll aufhören!«
Javan fing an, der Greuelszenen, die sich Tag für Tag vor seinen Augen abspielten, müde zu sein, und er sehnte sich nach dem Frieden seines Elternhauses, obwohl ihn andererseits das Bewußtsein, die Achtung der Seinen verloren zu haben, bedrückte. Sein Herz verlangte darnach, wenigstens das Vertrauen seiner Schwester wiederzugewinnen.
Er ging ihr in den Garten nach, wohin sie dem kleinen David gefolgt war, und suchte sich unter irgend einem Vorwand des Kindes zu entledigen. Lange schritt er dann mit der Schwester auf und ab, und als sie endlich heimkamen, fiel allen auf, wie fröhlich beide aussahen, aber die Worte, die sie im Hausflur wechselten, gaben keinerlei Erklärung, woher die Umwandlung plötzlich gekommen war.
»Also sechs Monate lang, Naomi,« sagte Javan. »Vergiß nicht, daß du es mir feierlich versprochen hast.«
»Gewiß nicht,« erwiderte das junge Mädchen. »Ich werde schweigen, wenngleich es mir sehr schwer fallen wird.«
Das Abendessen verlief ungewöhnlich heiter; denn Naomi hatte ihre harmlose Fröhlichkeit wiedererlangt, und wenn die Eltern auch die Ursache nicht kannten, freuten sie sich doch dessen von Herzen.