Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zehntes Kapitel.

Javans Rückkehr machte der Freiheit, die Naomi bisher genossen hatte, ein Ende; denn er begleitete sie so häufig auf ihren Spaziergängen, daß sie ihre Schritte nur selten nach Bethanien lenken konnte, wohin ihr Herz sie doch je länger je mehr zog. Dann und wann wurde ihr die Freude, ihre alte Freundin zu besuchen, noch zuteil, und zwar unter der Eskorte ihres Vetters Theophil, den sie seit ihrer Rückkehr aus Pella wie einen Bruder schätzen gelernt hatte. Der von Natur außerordentlich zurückhaltende junge Mann hatte eine tiefe Neigung zu Claudia gefaßt und ließ keine Gelegenheit unbenützt, um mit dem immer empfänglicher werdenden Mädchen von dem Einen, was not ist, zu sprechen. Naomi freute sich, zu sehen, wie ihre Freundin ein Vorurteil nach dem andern fahren ließ, und nahm regen Anteil an den lebhaften Auseinandersetzungen, welche zwischen ihr und ihrem Vetter stattfanden. Claudias Bekehrung war ihnen ein solches Anliegen, daß sie sie gemeinsam zum Gegenstand inbrünstiger Fürbitte machten. Auch Amaziah und Judith warteten mit Sehnsucht auf den Zeitpunkt, da Claudia nach Aufnahme in die christliche Kirche mit ihrem Sohne vereint werden und sie nach Ephesus begleiten konnte. Der Gedanke, nicht nur ihre Verwandten, sondern auch die heißgeliebte Jugendgespielin hergeben zu müssen, war Naomi ein tiefer Schmerz, so sehr sie sich andererseits über letzterer Glück freute. Sie selbst war nicht zu bewegen, ihre Eltern zu verlassen, obwohl ihr Vater gern darein gewilligt hätte, weil ihm je länger je mehr klar wurde, daß Naomi niemals zum Glauben ihrer Väter zurückkehren werde, und er fürchten mußte, ihr Abfall könnte früher oder später ans Licht kommen. Sogar Salomes Zureden blieben fruchtlos; nichts konnte die treue Tochter von dem Entschlusse abbringen, bei den Ihrigen auszuharren, so lange dies irgendwie anging. Die Standhaftigkeit, die sie in diesem Stücke an den Tag legte, rührte des Vaters Herz so sehr, daß er sie viel milder behandelte als bisher. Javan, der keine Ahnung hatte, daß sein Onkel und seine Tante der verhaßten Sekte der Nazarener angehörten, hätte Naomi sicherlich ermutigt, mit ihnen nach Ephesus zu ziehen, wenn er der Ansicht gewesen wäre, es könnten schwere Heimsuchungen über Jerusalem hereinbrechen; da er aber nur von Sieg träumte, redete er ihr im Gegenteil zu, zu bleiben, um Zeuge der Befreiung Jerusalems aus den Händen der Gottlosen zu sein.

So stand es in Zadoks Familie, als Claudia und Naomi eines Abends In Theophils Begleitung den Ölberg hinanstiegen, und, einen Seitenweg einschlagend, ihre Schritte dem Garten Gethsemane zulenkten, jenem, den Anbetern Dessen, der dort unter dem Schatten der Bäume heiße Tränen und blutigen Schweiß vergoß, so unaussprechlich teuren Ort. Tief bewegt standen die drei Neubekehrten an der heiligen Stätte, während Theophil inbrünstig zu Gott flehte, daß sie doch alle teilhaben möchten an der Erlösung, die ihnen Jesus durch Sein bitteres Leiden und Sterben erworben hatte. Seit Naomi in Seine Nachfolge eingetreten war, war sie nicht wieder in dem Garten gewesen, in dem der Meister so gern geruht, und wo er oft stundenlang für diejenigen, die an ihn gläubig werden würden, gebetet hatte. O, wie kostbar war Naomi diese Fürbitte! Durfte sie sich doch in aller gegenwärtigen und zukünftigen Not auf jenes Wort stützen, das Jesus seinerzeit dem Petrus zugerufen hatte: »Ich habe für dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre.« Im Vertrauen auf ihres Heilandes Fürbitte hielt sie daran fest, daß es ihr nicht an der nötigen Kraft fehlen werde, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und dem Lamme nachzufolgen, wohin es ging. Ernst gestimmt aber nicht traurig, machte sie sich mit ihren Gefährten nach einem Besuche bei Maria auf den Heimweg. Die greise Jüngerin hatte sie zum Abschied noch gesegnet, und es war bereits dunkel, als sie den Kidron überschritten. Der Gedanke, daß sie die ehrwürdige Freundin möglicherweise zum letzten Male gesehen hatten, lastete ihnen schwer auf dem Herren, und sie gingen schweigend neben einander, als Claudia plötzlich Theophils Arm ergriff und erschreckt flüsterte: »Horch, wir werden beobachtet. Ich habe zu wiederholten Malen bemerkt, daß uns jemand nachschlich, habe aber nichts zu sagen gewagt, weil ich dachte, ich könnte mich täuschen. Jetzt bin ich meiner Sache gewiß. Ich habe gesehen wie sich ein Mann in dunklem Gewände hinter den Bäumen verbarg.«

»Sei unbesorgt, meine Claudia,« entgegnete Theophil. »Niemand kann uns hier etwas zu Leide tun. Ich sehe dort schon die Schildwachen, und bin überdies bewaffnet, also brauchst du nicht so zu zittern.«

»Für mich ist mir nicht bange, Theophil,« erwiderte Claudia; »aber, offen gestanden, fürchte ich für dich und Naomi. Hätte Javan eine Ahnung von unseren Besuchen in Bethanien oder von deinen und seiner Schwester Übertritt zum Christentum, so würde ihn auch das Band naher Verwandtschaft, das ihn mit euch verknüpft, nicht hindern, euch an die zu verraten, die die Religion zum Deckmantel für alle erdenklichen Grausamkeiten machen.«

»Still, Claudia,« warnte Naomi leise; »du vergißt, daß man dich hören könnte. Machen wir, daß wir heimkommen, damit der Vater nicht etwa fragt, wo wir so lange gewesen sind.«

Als sie zu Hause anlangten, kam ihnen Deborah mit bestürzter Miene entgegen und fragte: »Warum bleibt ihr so lange aus, Kinder? Ich habe seit über einer Stunde auf dem Söller nach euch ausgeschaut. Javan ist, kurz nachdem ihr euch auf den Weg gemacht habt, nach Hause gekommen und hat sich aufs angelegentlichste erkundigt, wohin ihr gegangen seid. Ich dachte mir wohl, daß ihr Maria besucht habt; aber ich hütete mich, meinen Verdacht auszusprechen und sagte, möglicherweise hättet ihr eure Schritte dem Tale Hinnom zugelenkt. Er sah aus, als ob er zornig wäre und verließ, ohne ein Wort zu erwidern, das Haus.«

»Ach, meine Angst war nur zu sehr begründet!« sagte Claudia. »Javan ist uns nachgegangen. Schien es mir doch, als sei er es! O, Gott, schütze uns vor seiner Rache.«

Naomi und Theophil erschraken ebenfalls über Deborahs Worte; denn Javan hatte erst kurz vorher mit solchem Abscheu von den Nazarenern gesprochen, daß sie überzeugt waren, er werde seinen ganzen Einfluß dahin aufbieten, daß alle Träger dieses Namens bis aufs Blut verfolgt würden. Claudia bat Theophil, fortzugehen, damit sie Javan bei seiner Rückkehr nicht beisammen fände. Er willfahrte ihrem Wunsche; aber im Hausflur begegnete ihm Javan und bat ihn mit freundlicher Miene, wieder mit ihm umzukehren.

»Komm doch,« sagte er, »wir haben schon so lange kein Plauderstündchen miteinander gehalten. Ich möchte dir auch danken, daß du meine Schwester so fleißig auf ihren Spaziergängen begleitest. Komm mit mir auf die Terrasse zu meinen Eltern und erzähle uns von eurem weiten Ausflug, denn ihr seid so lang ausgeblieben, daß ihr über das Tal Hinnom hinausgegangen sein müßt.«

Javan sagte dies in so ironischem Tone, daß man über die eigentliche Bedeutung seiner Worte keinen Augenblick in Zweifel sein konnte. Claudia wurde totenbleich, und Naomi fühlte, daß es galt, ihre ganze Kraft zusammenzunehmen; Theophil aber sagte vollkommen ruhig: »Ich glaube auch, daß es euch interessieren wird, wenn wir von unseren heutigen Erlebnissen erzählen; darum möchte ich es am liebsten selbst tun. Also, unterbrecht mich nicht, Claudia und Naomi!«

Als sie auf der Terrasse anlangten, war niemand mehr da, und Javan mußte seine Eltern erst holen. Diese Gelegenheit benützte Theophil, um den jungen Mädchen Mut zuzusprechen.

»Offenbar hat Javan entdeckt, wo wir gewesen sind,« sagte er; »aber ich kann seinen Verdacht ablenken, wenn ihr schweigen wollt. Ihr wißt ja, daß ich nur die Wahrheit sagen werde.«

»Ich werde gewiß nichts sagen,« entgegnete Claudia. »Ich bin froh, wenn ich nichts mit dem leidenschaftlichen Menschen zu tun habe.«

»Claudia,« fiel Naomi der Freundin ins Wort, »du hast eine allzu schlechte Meinung von meinem Bruder. Er hat einen hitzigen Charakter, und sein Fanatismus läßt ihn zuweilen rachsüchtig erscheinen; aber seit seiner Rückkehr hat er mir nur Liebe erwiesen. Beschuldigen wir ihn nicht ungerechterweise; vielleicht täuschen wir uns in der Annahme, er wisse um unsere Besuche in Bethanien. Ich will die Harfe nehmen und ihm eins seiner Lieblingslieder singen. Damit ist mir schon oft gelungen, den bösen Geist zu bannen.«


 << zurück weiter >>