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Am nächsten Tage bald nach Sonnenaufgang kam Hanna mit den Dienern, die ihr beim Begräbnis ihrer heimgegangenen Herrin behilflich gewesen waren. Sie brachte Naomi als Vermächtnis der Entschlafenen ihren kostbarsten Schatz, die das Evangelium Matthäi enthaltende Pergamentrolle.
Die Reise nach Jaffa war natürlich für den Augenblick aufgegeben, aber alles war zu derselben bereit. Der Tag verging in vergeblichen Versuchen seitens Zadoks, die Obersten des Volkes günstig für Theophil zu stimmen.
Um seines Amtes willen durfte er dem Verhör beiwohnen; Amaziah aber blieb bei den Frauen zurück, da es für ihn nicht geraten gewesen wäre, sich zu zeigen.
Als Zadok endlich heimkam, sahen die ängstlich Harrenden auf den ersten Blick, daß er nichts Gutes zu berichten hatte. Er hob sanft die seine Kniee umklammernde Claudia auf und sagte mit dem Ausdruck tiefen Mitleids in den ehrwürdigen Zügen: »Verzweifle nicht, Claudia; Theophil ist zwar nicht freigesprochen, aber auch nicht verurteilt. Es ist ihm eine Gnadenfrist gewährt; wer weiß, ob er in dieser Zeit nicht seinen Sinn ändert, oder es nicht doch gelingt, seine Richter zu besänftigen. Glaube mir, was ich für ihn tun kann, soll geschehen.«
Claudia hörte die letzten Worte nicht mehr. Sie wußte nun, daß Theophils Schicksal besiegelt war, und daß sie ihn nicht wiedersehen werde; denn von einer Verleugnung seines Glaubens konnte keine Rede bei ihm sein. Alle Versuche, sie zu trösten, waren vergeblich. Theophils Eltern ertrugen den schweren Schlag mit größerer Fassung. Wußten sie doch, daß ihr Sohn in Gottes Händen war, und ihre Feinde nicht ohne weiteres mit ihm anfangen konnten, was sie wollten!
Endlich nahte der Tag, an dem das Schlußverhör stattfinden sollte. Zadok hatte seinen Neffen auf alle Weise zur Umkehr zu bewegen gesucht, aber umsonst. Amaziah hätte seinen Bruder gern gebeten, seine Besuche einzustellen, damit sein Sohn die letzten Tage in Ruhe verleben könne, doch wollte er Zadok nicht weh tun, und er wußte ja, daß Theophils Glaube zu fest auf dem ewigen Felsen gegründet war, um durch menschliche Überredungskunst erschüttert zu werden. Der arme Vater flehte unablässig zum Herrn, Er möge seinen Sohn retten, aber ruhte dabei in Seinem heiligen Willen. Judith teilte ihres Mannes Gefühle; aber Claudia war nahe daran, an ihrem Glauben Schiffbruch zu leiden: In ihrer Herzensangst ließ sie sich endlich hinreißen, in der Hand des Feindes ein Werkzeug zu werden, um ihren Verlobten zu versuchen, seine Seele der Braut zu Liebe zu opfern.
Sie schrieb ihm einen flehentlichen Brief, aber kaum war Zadok mit demselben aus dem Hause, so überkam sie namenlose Reue, daß sie nicht nur selbst ihren Herrn und Meister verleugnet, sondern auch den Geliebten dazu zu verleiten gesucht hatte. Wie schämte sie sich erst, als sie zu Naomi eilte, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen und gerade noch die Schlußworte von deren Gebet hörte: »Herr, obwohl wir völlig in deinen Willen ergeben sind, bitten wir dich, unsern Schmerz in Freude zu verwandeln. Vor allem aber flehen wir zu dir, du mögest unserm geliebten Bruder nahe sein und sein Herz stärken, daß er die mancherlei Versuchungen, die vielleicht heute an ihn herantreten, siegreich bestehen möge. Laß weder Todesfurcht noch irdische Rücksichten seinen Glauben erschüttern. Herr Jesu, du hast ihn berufen. O, halte ihn an der Hand, damit seine Füße nicht gleiten und er dich im Tode wie im Leben verherrlichen könne! Schenke ihm die Gnade, dich freimütig zu bekennen, damit wir ihn, wenn du es für gut finden solltest, ihn zu dir zu nehmen, vor deinem Throne inmitten deiner treuen Zeugen wiederfinden mögen!«
»Amen! Amen!« fügte Judith hinzu, während die dicken Tränen über ihr bleiches Gesicht liefen. »Birg meinen Sohn sicher an deiner Brust, Herr Jesu, und schenke mir Gnade, ihn dir freudig zu überlassen!«
Claudia blieb regungslos an der Schwelle stehen. Wie hätte sie miteinstimmen können in ein Gebet, das eine so ganz andere Gesinnung ausdrückte, als die, die sie beim Schreiben jenes Briefes geleitet hatte! Was hätte sie nicht darum gegeben, die Sache ungeschehen zu machen!
Als sich Judith und Naomi von den Knieen erhoben hatten, bekannte sie ihnen unter heißen Tränen die Untreue, die sie sich ihrem Heiland gegenüber hatte zu Schulden kommen lassen. Natürlich waren beide tiefbekümmert, doch boten sie alles auf, Claudias Seelenangst zu beschwichtigen, indem sie sie auf das Erbarmen ihres Herrn hinwiesen, der keinen reumütigen Sünder von sich stößt.
Als Amaziah heimkam, teilte ihm seine Frau auf des jungen Mädchens Bitte die traurige Geschichte ihres Falls mit. Auch er beklagte das Geschehene, machte dem armen Kinde aber nicht den leisesten Vorwurf. Umso herzlicher stimmte er Naomi bei, als diese die Absicht aussprach, um die Erlaubnis nachzusuchen, Theophil noch einmal sehen und ihm ein letztes Liebeswort von den Seinen bringen zu dürfen. Betenden Herzens brachte sie Javan im Beisein ihres Vaters ihre Bitte vor.
»Was willst du bei ihm?« fragte ihr Bruder mit finsterer Miene. »Ihm noch einen Abschiedsgruß von Claudia und seinen Eltern bringen,« antwortete Naomi. »Sie hätten gern, daß er vor seiner Verurteilung wüßte, was sie von seinem Verhalten denken.«
»Das weiß er längst,« entgegnete Javan. »Warum bestärken sie ihn in seinem Eigensinn und nötigen mich, das Todesurteil über meinen Vetter zu sprechen? Ich hätte seiner gern geschont, aber er gibt nicht um ein Jota nach.«
»Nie habe ich eine solche Glaubensfestigkeit gesehen,« sagte Zadok, und in seinen Augen glänzte eine Träne. »Der unglückliche Junge ist mir lieber denn je, obwohl er Nazarener ist. Ich hoffte, daß ihn Claudias Brief zur Besinnung bringen werde, anstatt dessen hat er darüber geweint und ausgerufen: »O, das ist der bitterste Tropfen in dem Kelche, den ich zu trinken habe, daß die, die meinem Herzen am nächsten steht, dem Glauben untreu geworden ist, der mich aufrecht hält!« Von da an hat er nicht mehr auf mich gehört, und eine tiefe Niedergeschlagenheit hat sich seiner bemächtigt. Wenn du ihm die Last vom Herzen nehmen kannst, Naomi, so will ich deinen Bruder mit dir bitten, daß er dir erlaube, zu ihm zu gehen.«
»Ja, das kann ich,« antwortete Naomi, »ich kann ihm die Ruhe der Seele wiedergeben. Lieber Javan, schlage mir die Bitte nicht ab. Gewähre Theophil diesen Trost.«
»Schwöre mir, daß du ihm nicht zur Flucht verhelfen willst, so will ich dir gestatten, zu ihm zu gehen, obwohl ich damit meine Befugnis überschreite.«
Naomi gab das gewünschte Versprechen und eilte davon, um sich anzukleiden; – Zadok aber rief sie zurück und sagte: »Gib Claudia ihren Brief, wieder. Theophil hätte ihr gern geantwortet, wenn er gekonnt hätte. Er hat mich beauftragt, sie seiner Liebe zu versichern, sie in seinem Namen zu segnen und ihr zu sagen, daß er ihre Worte zu vergessen suche.«
Nachdem Claudia die Botschaft Theophils gehört hatte, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen und rief schluchzend: »O Naomi, er vergibt mir, aber er verachtet mich. Sage ihm, daß der Verlust seiner Achtung der letzte Schlag ist, dessen es bedurfte, damit ich zu Boden gefällt werde.«