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Neuntes Kapitel.

Die Nachricht von Neros Ermordung und der Ernennung Galbas zum Thronfolger hatte Vespasians Vormarsch in Judäa verzögert. Hätten sich die Bewohner Jerusalems diese Gnadenfrist zunutze zu machen verstanden, so wäre ihre Stadt besser für den Ansturm des römischen Heeres vorbereitet gewesen, oder sie hätten sich durch Unterwerfung die Gunst des neuen Kaisers gesichert.

Das verirrte Volk aber traf keinerlei Maßregeln, die die einfachste Klugheit geboten hätte. Der blut- und rachedürstige Sohn des Gioras, Simon, fügte zu den beiden Parteien, welche die Stadt beunruhigten, eine dritte hinzu, und wenn er Johannes von Giscala an List nicht ebenbürtig war, so war er es jedenfalls an Grausamkeit. Seit Beginn des Krieges hatte er von Raub gelebt und den ehrgeizigen Plan gefaßt, sich in Jerusalem Herr der Situation zu machen. Zuerst aber wollte er Idumäa in seine Hände bekommen, was ihm auch durch Beihülfe eines Verräters gelang. Sein schonungsloses Verfahren gegen die früheren Verbündeten steigerte die Wut der Zeloten gegen ihn, und um sich an ihm zu rächen, legten sie seiner Frau einen Hinterhalt und führten dieselbe mit ihrem ganzen Anhang gefangen nach Jerusalem. Daraufhin kam er wie ein wütendes Tier vor die Mauern Jerusalems. Wer sich unter irgend einem Vorwande aus der Stadt wagte, wurde zu Tode gemartert. Einigen seiner Opfer ließ er beide Hände abhauen, schickte sie, also verstümmelt, nach Jerusalem zurück und ließ den Befehlshabern der Stadt sagen, Simon habe bei dem Allmächtigen geschworen, allen Einwohnern der Stadt das gleiche Los zu bereiten, wenn ihm seine Frau nicht wieder zugestellt werde. Diese furchtbare Drohung hatte das erwartete Resultat. Die Zeloten schickten ihm seine Frau zurück und seine Soldaten zogen ab.

Während die Vorbereitungen zum Abmarsch getroffen wurden, führten die Wachen einen jungen der Spionage verdächtigen Israeliten vor Simon. Auf des Anführers barsche Frage, was er so nahe beim Lager zu tun gehabt habe, antwortete Javan unumwunden: »Ich bin der Sohn des Priesters Zadok und war lange römischer Gefangener. Es ist mir gelungen zu entfliehen, und nun wollte ich in meine Vaterstadt zurückkehren.«

»Warum hast du dich meinem Heere nicht angeschlossen?« fragte Simon. »Weißt du doch, daß ich kein anderes Ziel verfolge als die Befreiung Jerusalems aus der Hand ihrer Bedrücker und die Wiederherstellung der Ordnung innerhalb ihrer Mauern. Ich bezweifle nicht, daß mir das gelingen wird, denn der Gott der Heerscharen wird mir helfen, die frechen Schänder unsers heiligen Tempels zu vertreiben.«

»Edler Simon,« antwortete der listige Javan, »deine Worte sind mir aus dem Herzen gesprochen, und hätte ich den Zweck deines Unternehmens gekannt, so hätte ich mich längst unter dein siegreiches Banner gestellt. Ich bin bereit, dir sofort den Eid der Treue zu schwören, und bin überzeugt, daß wir in der Kraft des Allmächtigen über die Zeloten siegen und in der Stadt des Königs aller Könige den Frieden wiederherstellen werden.«

Es war teils die Sorge um die eigne Sicherheit, teils Fanatismus, was Javan veranlaßte, dies zu sagen. Erreichte Simon seine Absicht, so gelangte er auf diese Weise mit ihm nach Jerusalem, und scheiterten seine Pläne, so blieb ihm immer noch die Flucht übrig, und er konnte sich dann der Partei zugesellen, die ihm am besten behagte.

Die beiden Männer schlossen demnach einen Vertrag und suchten sich ihre ehrgeizigen Pläne gegenseitig unter dem Deckmantel des Eifers für die Religion ihrer Väter zu verhehlen. Übrigens war Javan immerhin aufrichtiger als Simon. Nachdem er die längste Zeit seines Lebens dem Studium der heiligen Schrift und der ihm zur Verfügung stehenden Überlieferungen gewidmet hatte, sah er es für seine Pflicht an, alle Kräfte daran zu setzen, daß dieselben in Ehren gehalten würden.

Simon beschloß, den Angriff so lange wie möglich hinauszuschieben, um den verschiedenen Parteien Zeit zu lassen, sich gegenseitig aufzureiben. Er kehrte daher einstweilen nach Idumäa zurück und fuhr dort mit Rauben und Plündern fort.

Die Einstellung der Feindseligkeiten seitens der Römer und der Abzug Simons ermutigte einige der nach Pella geflüchteten Christen, nach Jerusalem zurückzukehren, teils um ihre daselbst befindliche Habe zu holen, teils um Abschied von ihren Verwandten und Freunden zu nehmen. Unter ihnen waren Amaziah und Judith, die sich entschlossen hatten, mit ihrem Sohne nach Ephesus überzusiedeln, wo der Apostel Johannes Bischof einer blühenden Gemeinde war. Ehe sie sich auf die weite Reise machten, drängte es sie zu einem letzten Besuche bei Zadok und seiner Familie, und wenn Amaziah auch keine Hoffnung hatte, seinen Bruder zum Umzug nach Ephesus zu bewegen, wollte er ihm wenigstens den Vorschlag machen, ihm Naomi bis zur Wiederherstellung des Friedens anzuvertrauen.

Letztere war trotz allen Herzeleids, das über sie hereingebrochen war, ihrem Glauben treu geblieben. Hatte sie der Einfluß ihrer sanften Mutter auch vor manchem Schweren bewahrt, so war es doch um ihr früheres Glück im Elternhause geschehen. Zadok ging ihr so viel wie möglich aus dem Wege, und wenn er ihr begegnete, lag ein solcher Schmerz und verhaltener Zorn in seinem Gesicht, daß Naomi vor ihm zitterte und sich in ihr Zimmer flüchtete, um ihrem gepreßten Herzen Luft zu machen. Die peinlichsten Stunden für sie aber waren diejenigen, die sie in Gegenwart ihres Vaters mit dem Rabbiner Joazer verbringen mußte. Letzterer bot alles auf, sie zur Religion ihrer Väter zurückzubringen; aber alle Beweisgründe, die er ins Feld führte, hatten gerade das gegenteilige Resultat, sie immer mehr in dem auf göttlicher Offenbarung gegründeten Glauben zu bestärken. Sie antwortete dem Rabbiner bescheiden, aber mit aller Entschiedenheit, und suchte ihm aus den Propheten nachzuweisen, daß Jesus der verheißene Messias sein mußte. Allerdings erreichte sie damit nur, daß Joazer höchst ungehalten wurde, und sie voller Entrüstung auf ihr Zimmer schickte.

Claudia war ihr in jener Zeit eine treue Gefährtin und Trösterin. Ihr Herz war nicht nur zugänglich für die Wahrheit, sondern der Geist Gottes hatte offenbar sein Werk in ihr begonnen, wenn ihre Bekehrung auch weit langsamer vor sich ging als die Naomis. Was Salome betraf, so war es ihrem Gatten gelungen, die Stimme, die sich in ihrem Innern erhoben hatte, wieder zum Schweigen zu bringen, so daß der gute Same für den Augenblick unter den alten Vorurteilen und der Ehrerbietung für ihres Mannes Lehren begraben lag.

Dieses war die Sachlage, als Amaziah und Judith nach Jerusalem zurückkamen. Ihr Haus war während ihrer Abwesenheit zerstört worden, und so sehr Zadok den Einfluß der Nazarener fürchtete, konnte er nicht umhin, dem Bruder und der Schwägerin einen Teil seines eignen Hauses zur Verfügung zu stellen. Er selbst aß jedoch nie an dem gleichen Tische mit ihnen und erlaubte den Seinen so wenig wie möglich Verkehr mit den abtrünnigen Verwandten.

Die zur Zeit in Jerusalem und Umgegend herrschende Ruhe ermutigte auch Maria zur Rückkehr nach Bethanien, und da Naomi in Begleitung der alten Deborah ausgehen durfte, besuchte sie zuweilen die ehrwürdige Greisin. Wohl wußte Deborah, daß Zadok diese Zusammenkünfte mit einer Jüngerin Jesu aufs strengste gerügt hätte, aber sie konnte ihrer so hart bedrängten Herrin den kleinen Liebesdienst nicht versagen, besonders da Marias Tage offenbar gezählt waren.

Claudia ließ es sich nicht nehmen, mit ihrer Freundin zu gehen, und die Worte der alten Dienerin des Herrn verfehlten ihres Eindrucks nicht. Amaziah hatte für eine Pflegerin für Maria gesorgt, und die Liebe und Demut, welche auch aus dem Wesen dieser einfachen Christin strahlten, übten einen günstigen Einfluß auf die junge Heidin.

Eines Abends, als Naomi und Claudia unter dem Schutze Deborahs durch Zadoks Garten von einem Ausfluge nach Bethanien zurückkehrten, trat plötzlich Javan aus dem Dunkel der Bäume hervor und drückte die Schwester liebevoll in die Arme. Nachdem sich diese von der ersten Bestürzung erholt und den trotz aller seiner Fehler zärtlich geliebten Bruder bewillkommt hatte, eilte sie, der Mutter die Freudenbotschaft von seiner Heimkehr zu bringen, damit die plötzliche Freude ihr nicht schade. Ihre Eltern waren gerade mit dem Rabbiner Joazer auf der Terrasse hinter dem Hause in lebhaftem Gespräche begriffen, so daß ihr leichter Schritt nicht gehört wurde, und sie, ohne es zu beabsichtigen, einen Teil der Unterhaltung hörte.

»Sie ist eine hartnäckige Abtrünnige!« rief der Rabbiner erregt, »sie ist nicht wert, den Namen Zadok zu tragen.«

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In demselben Augenblick wurde er des jungen Mädchens gewahr, und fügte, zu ihr gewandt, mit steigender Leidenschaftlichkeit hinzu: »Fort, du Kind des Teufels, suche deine Eltern nicht weiter mit Vorspiegelungen der ihnen gebührenden Liebe und Unterwürfigkeit zu betören, während du ihnen in Wirklichkeit durch Ungehorsam und Eigenwillen das Herz brichst. Ach, daß du deinem Bruder Javan glichest, dann würdest du dem Hause des gerechten Zadok zur Wonne, anstatt zur Schmach, gereichen. Ohne die weichliche Nachsicht deiner Mutter wärest du längst als Auswurf der Menschheit von hinnen gejagt worden!«

Auf diese Schmährede entgegnete Naomi kein Wort, sondern sagte nur, zu ihrer Mutter gewandt, mit bebender Stimme: »Ich wollte dir die Rückkehr Javans mitteilen, damit sie dich nicht unvorbereitet träfe. Möge sie dir eitel Freude bringen! Was mich betrifft, so muß ich mich auf seinen Haß und Zorn gefaßt machen; denn wenn er hört, daß ich eine Jüngerin des verachteten Nazareners geworden bin, wird er nichts mehr von mir wissen wollen. Gottes Wille geschehe! Mein stolzes Herz wird der Demütigungen nötig haben.«

Kaum hörte Joazer, daß Javan angekommen sei, so stürzte er dem ehemaligen Schüler entgegen, und diese kurze Abwesenheit des gestrengen Rabbiners benützte Salome, um ihren Gatten zu bitten, Javan wenigstens für den Augenblick den Abfall seiner Schwester vorzuenthalten. Zadok willigte ein; denn er versprach sich einen günstigen Erfolg von Javans Einfluß auf seine Schwester, wußte aber wohl, daß dieser den Verkehr sofort mit ihr abbrechen würde, wenn er erführe, daß sie zu dem verhaßten Glauben der Nazarener übergetreten war. Naomi war für dieses Zugeständnis von Herzen dankbar. Am liebsten hätte sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, um Claudia die Erlebnisse der letzten Viertelstunde mitzuteilen; aber sie fürchtete, daß ihre Abwesenheit des Bruders Aufmerksamkeit erregen würde und suchte sich daher in Geduld zu fassen. Die lebhafte Unterhaltung, welche alsbald in Gang kam, erleichterte ihr dies. Auch Claudia vergaß momentan der peinlichen Lage der Freundin über der Freude, endlich einmal wieder näheres über das Ergehen ihres geliebten Vaters und Bruders zu hören. Während sie Javan über letztere ausfragte, nahm Zadok den Rabbiner beiseite, um ihm mitzuteilen, aus welchem Grunde er den Übertritt seiner Tochter geheim gehalten wissen wollte; aber es kostete ihm Mühe, Joazers Zustimmung zu erhalten. Dieser brannte darauf, den Bruder von Naomis Verbrechen in Kenntnis zu setzen, denn er hoffte, Javan werde ihm helfen, die Anwendung strenger Maßregeln gegen die Abtrünnige bei den Eltern durchzusetzen. Nur mit Widerwillen verstand er sich dazu, die Sache fürs erste geheim zu halten und in Javans Beisein wie früher mit dem jungen Mädchen zu verkehren.

Darnach gesellten sich die Freunde wieder zur Familie und hörten mit gespanntem Interesse auf Javans Schilderung seiner Erlebnisse.

Er hatte Simon in Idumäa zurückgelassen, beabsichtigte aber, ihn herbeizurufen oder in eigner Person zu holen, sobald seiner Ansicht nach, der Zeitpunkt da war, ihn als Nebenbuhler des Johannes von Giscala an die Spitze der einflußreicheren Bürger der Stadt zu stellen.


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