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Obwohl Hanna ihre Herrin ungern verließ, hielt sie es doch für geraten, Amaziah und Judith sofort Mitteilung von dem Besuche des geheimnisvollen Fremden zu machen, und Theophil eilte, so schnell seine Füße ihn trugen, nach Bethanien, um sich Klarheit über die Sache zu verschaffen. Nach mehrstündiger Abwesenheit kam er mit dem Bescheide zurück, daß Marias Beschreibung von dem Unbekannten auf Javan paßte, und er letzterem auch auf der Kidronbrücke begegnet, aber glücklicherweise anscheinend nicht von ihm erkannt worden war. Maria hatte ihm das Versprechen abgenommen, daß weder er noch seine Angehörigen mehr zu ihr kämen; sollte sich irgend etwas Neues zutragen, so wolle sie es durch Hanna wissen lassen.
Am Abend nach den soeben geschilderten Ereignissen gab Maria von Bethezob ein glänzendes Fest, zu dem auch Zadok und Amaziah samt ihren Angehörigen geladen waren. So ungern ersterer dergleichen Dinge mitmachte, glaubte er sich um der Verwandtschaft willen verpflichtet, mit den Seinen hinzugehen und forderte Claudia auf, seine Tochter zu begleiten, da ihre zukünftigen Schwiegereltern die Einladung ausgeschlagen hatten.
Auch Javan war einer der Gäste, und da er sich fast ausschließlich den jungen Mädchen widmete, fürchteten diese schon, auf die Freude, ungestört miteinander sprechen zu können, verzichten zu müssen. Glücklicherweise wurde Javan jedoch nach dem Mahle von seinen politischen Gesinnungsgenossen in Anspruch genommen, und diese Gelegenheit benützten die Freundinnen, um ein verstecktes Plätzchen im Garten aufzusuchen und dort ihre Erlebnisse auszutauschen.
Claudia erzählte, was sich in der vorhergehenden Nacht zugetragen hatte, und bat Naomi, ihren Vater zu bewegen, in drei Tagen mit seinem Bruder und dessen Familie nach Joppe abzureisen. Naomi versprach, ihr Mögliches zu tun.
»Vorher möchte ich aber Maria noch einmal besuchen,« sagte sie. »Willst du Judith bitten, mich übermorgen abend zu ihr mitzunehmen? Soviel ich weiß, ist Javan dann in einer Ratssitzung; übrigens würde ich auch ohnehin gehen, selbst auf die Gefahr, von ihm entdeckt zu werden. Wäre es mir nicht um meine Eltern, so würde ich um meines Heilands willen nicht nur seinem Zorne, sondern sogar dem Tode trotzen. Das Leben hat unter den gegenwärtigen Verhältnissen wahrlich keinen Reiz mehr für mich. Wüßte ich meinen Vater und meine Mutter in Jesu Armen geborgen, so würde ich dankbaren Herzens mit ihnen in den Tod gehen, wäre er noch so qualvoll!«
»Mut, geliebte Naomi,« sagte Claudia. »Wer weiß, ob wir nicht glücklicheren Zeiten entgegengehen. Die Tage sind schnell vorüber, und bis dahin wird Javan schwerlich Gelegenheit haben, uns Böses zuzufügen. Übrigens müssen wir jetzt hineingehen, sonst könnte unsere Abwesenheit bemerkt werden. Vergiß nicht, daß wir vor Sonnenaufgang aufbrechen werden. Voraussichtlich können wir uns erst auf der Reise wieder sprechen.«
Als sie von der marmornen Bank aufstanden, auf der sie sich niedergelassen hatten, vernahmen sie ein kleines Geräusch, und gleich darauf glitt hurtig eine verhüllte Gestalt an ihnen vorüber.
»Javan!« flüsterte Claudia, an allen Gliedern zitternd.
»Gott sei uns gnädig!« sagte Naomi. »Wenn man unser Gespräch belauscht hat, sind wir verraten. Laß uns so schnell wie möglich zu den Eltern zurückkehren; vielleicht hat der Betreffende nur den Schluß unserer Unterredung gehört, und weiß nicht wer wir sind.«
Kaum hatte Naomi ausgeredet, so entstand ein großer Tumult im Hause; die Musik verstummte, und die Leute stoben nach allen Richtungen auseinander.
Offenbar war ein Unglück geschehen. Naomi und Claudia suchten die Ursache der plötzlichen Panik herauszufinden, als ihnen Maria von Bethezob mit der Mitteilung entgegenkam, daß die Zeloten in ihr Haus eingedrungen waren, um es zu plündern. »Rette meinen kleinen David, Naomi!« rief die leichtsinnige Mutter, die über der Besorgnis für ihr Hab und Gut des einzigen Kindes vergessen hatte. Naomi stürzte auf die Terrasse, wo sie Salome und den Kleinen hinter einem Vorhang versteckt fand. Sie nahm den Jungen auf den Arm und eilte, von ihrer Mutter und Claudia gefolgt, in den Garten, wo Maria hinter einem Baumstamme Zuflucht gesucht hatte. Zum Glück erinnerte sich einer der Diener eines geheimen Pförtchens, das zu den Gärten der Nachbarhäuser führte. Dahin lenkten die Flüchtlinge ihre Schritte und gelangten auf diese Weise in Zadoks Haus. Amaziah und Theophil eilten sofort den Bedrängten zu Hilfe, während Claudia und Naomi der bestürzten Judith die Begebenheiten des Abends erzählten. Man denke sich den Schrecken der armen Frau, als sie erfuhr, daß die so sorgfältig gehüteten Geheimnisse durch die Unvorsichtigkeit der beiden Mädchen verraten waren!
Nach einer halben Stunde etwa kam Zadok mit der Nachricht zurück, daß die Zeloten den kürzeren gezogen hatten und zurückgeschlagen worden waren. Marias Haus war von den schlimmen Gästen gesäubert, aber in einem solchen Zustand der Verwüstung, daß der jungen Witwe nichts übrig blieb, als abermals die Gastfreundschaft ihrer Verwandten anzunehmen.
Es war Mitternacht, ehe Javan heimkam. Nachdem die Zeloten Marias Haus geräumt hatten, ging er in Gedanken versunken, durch die Straßen, als sein Freund Isaak in Begleitung eines finster aussehenden Gesellen auf ihn zutrat und ihm ins Ohr raunte: »Javan, dieser Mann hat dir etwas mitzuteilen, was dich sehr nahe angeht. Er hat aus deiner Schwester eignem Munde gehört, daß nicht nur Amaziah, Judith, Theophil und die junge Römerin, seine Braut, sondern auch sie selbst Anhänger des Nazareners sind.«
»Also ist es wahr!« rief Javan, außer sich vor Wut. »Jetzt wundert es mich nicht mehr, daß ich Naomi bei meiner Rückkehr so sehr verändert fand.«
Auf einen Wink Isaaks erzählte nun der Fremde, was er gehört hatte, und Javan lauschte mit gespanntem Interesse. Bei der Erwähnung Naomis konnte er seinen Zorn kaum bemeistern. Hatte er auch Verdacht geschöpft, so traf ihn doch die Bestätigung seiner Vermutung wie ein Dolchstich, und da er um keinen Preis wollte, daß der Hinterbringer der schlimmen Botschaft bemerkte, wie tief ihm die Sache zu Herzen ging, warf er ihm zum Lohn für seinen Verrat eine wohlgefüllte Börse zu, indem er ihm zugleich aufs strengste anbefahl, nie jemand zu offenbaren, was ihm zu Ohren gekommen war.
Der Mann entfernte sich mit dem so leicht erworbenen Gewinn; Isaak und Javan aber beratschlagten noch lang miteinander, was zur Vereitelung der Pläne ihrer Opfer geschehen konnte. Schließlich kamen sie überein, eine Stunde vor dem beabsichtigten letzten Besuch der Nazarener bei Maria mit einer Abteilung Soldaten auf dem Plane zu sein, um sich der ganzen Gesellschaft zu bemächtigen.
Nachdem alle nötigen Vorbereitungen verabredet waren, trennten sich die Freunde, und Javan ging mit der befriedigenden Aussicht zur Ruhe, seinen Onkel und Theophil bald in seiner Gewalt zu haben. Besonders hatte er es auf letzteren abgesehen, denn dessen beabsichtigte Vermählung mit einer Römerin war ihm ein Greuel, und um dieselbe zu verhindern, schien ihm jedes Mittel erlaubt.