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Maria von Bethezob blieb bei ihren Verwandten bis ihre Leute die Spuren der Zeloten in ihrem Hause verwischt hatten. Von einer Bestrafung der Räuber mußte fürs erste abgesehen werden; denn wie sollte man ihrer habhaft werden? Javan aber benützte den Vorfall dazu, immer dringender zur Herbeirufung seines Freundes Simon zu ermahnen, damit endlich den Gewalttätigkeiten des Johannes von Giscala Einhalt getan werde. Die Gründe, die er ins Treffen führte, hatten Gewicht beim Rate, und die Mitglieder stimmten mit wenigen Ausnahmen für Javans Vorschlag. Auch des jungen Mannes Bericht von der Entdeckung von Nazarenern im Schoße seiner eignen Familie wurde mit großem Interesse gehört; denn die Ratsversammlung bestand aus eifrigen Vertretern des mosaischen Gesetzes und der Überlieferungen; mit Freuden begrüßten sie die Aussicht, die Gegenstände ihres wütenden Hasses nun endlich in ihre Gewalt zu bekommen. Javan hatte sich ausbedungen, daß sein Onkel und seine Tante womöglich durch strenge Kerkerhaft zur Rückkehr zur Religion ihrer Väter genötigt werden sollten, seine Schwester aber fürs erste unbelästigt blieb; denn er hoffte, leichtes Spiel mit ihr zu haben, wenn sie sich erst der Gefahr bewußt würde, welcher sie als Nazarenerin ausgesetzt war. Er kannte eben die Kraft des christlichen Glaubens nicht.
Das Komitee ging auseinander, nachdem es Javan noch die gewünschte Abteilung Soldaten für den nächsten Abend zur Verfügung gestellt hatte.
Obwohl Zadok keine Gefahr sah, hatte er in die Beschleunigung der Reise gewilligt, und die nötigen Vorbereitungen waren getroffen. Javan wußte wohl, daß sein Vater bei aller Anhänglichkeit an seine Religion ein Herz voll Liebe und Erbarmen hatte und durchaus nicht die fanatischen Ansichten seiner Kollegen teilte; daher hatte er ihn von seinen Plänen gegen die Nazarener nicht in Kenntnis gesetzt. Naomi hatte seit ihres Bruders Rückkehr wieder ihre frühere Stellung im Hause, und wer sie nur flüchtig sah, bemerkte keine weitere Veränderung an ihr, als daß sie liebevoller und sanfter war als früher. Die durch das Christentum in ihrem Charakter und innersten Wesen vorgegangene Wandlung konnte jedoch Zadoks wachsamem Auge nicht verborgen bleiben, und trug nicht wenig dazu bei, seine Vorurteile gegen die Nazarener zu mildern. So kam es, daß er sogar Judiths Bitten nachgab und Naomi erlaubte, ihre Verwandten zu Maria von Bethanien zu begleiten, unter der Bedingung, daß es der letzte Besuch sei, den sie der Greisin machte.
Zu des jungen Mädchens Beruhigung war Javan den ganzen Tag nicht daheim gewesen. Kurz vor Sonnenuntergang machte sie sich also mit ihrem Onkel und dessen Familie auf den Weg zu der Sterbenden, die sie tatsächlich in den letzten Zügen liegend fanden. Totenblässe lag auf ihrem Gesicht, und nur an der Bewegung des Atemholens sah man, daß der Geist noch nicht entflohen. Als sie die Augen öffnete und die so eng mit ihr verbundenen Freunde erkannte, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme: »Herr, nun lässest du deine Dienerin im Frieden fahren! Teure Kinder in Christo Jesu, dieses Wiedersehen ist eine Freude, die ich kaum mehr zu hoffen wagte; aber der treue Heiland, der muß so freundlich durch mein langes Leben getragen hat, hat in Gnaden meine letzte Bitte erhört. Tretet näher, daß ich euch noch segnen kann.«
Schweigend knieten die Anwesenden an dem Sterbelager nieder, und sie legte einem nach dem andern die zitternden Hände auf den Kopf, indem sie sagte: »O, mein Erlöser, der du einen qualvollen Tod erlitten hast, um für die Deinen dem Tode den Stachel zu nehmen, ich möchte vor deinen Kindern hier bezeugen, daß du auch den letzten Feind in deiner Gewalt hast, und daß auch das finstere Todestal seine Schrecken verliert, wenn du nahe bist. Verlaß mich nicht, Gott meines Heils, und mögen meine letzten Worte deine Liebe verkündigen! Segne diese deine Kinder, die du in Gnaden zur Erkenntnis deines Namens gebracht hast, mit deinem besten Segen. Stärke sie in der Trübsal und verleihe ihnen Sieg in jeder Anfechtung; teile ihnen dereinst die Krone des Lebens mit und schenke uns ein seliges Wiedersehen vor deinem Throne, denn du hast uns mit deinem Blute erkauft. Dir gebührt Lob, Preis und Anbetung!«
»Amen!« sagten die um das Sterbebett knieenden Jünger und Jüngerinnen wie aus einem Munde.
In demselben Augenblick öffnete sich die Tür und mehrere mit Schwertern und Dolchen bewaffnete Männer stürzten ins stille Gemach. Beim Anblick der Sterbenden blieben sie bestürzt stehen.
»Das Opfer, das ihr suchet, ist nahezu außer dem Bereich menschlicher Grausamkeit,« sagte Amaziah. Ihre Seele ist im Begriff zu ihrem Gott emporzuschweben, um vor Seinem Throne Zeugnis abzulegen gegen diejenigen, die versucht haben, noch die letzten Augenblicke ihres Lebens zu trüben.«
»O nicht doch,« flüsterte Maria »im Gegenteil – bis mein Auge bricht, will ich für sie beten in den Worten Dessen, der für die Sünder gestorben ist. ›Vater vergieb ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun!‹«
Ein Ausdruck unaussprechlicher Liebe leuchtete in den schon im Tode erstarrenden Zügen auf, wie die Strahlen der untergehenden Sonne vor dem Scheiden die Winterlandschaft noch einmal mit purpurnem Glanze überfluten. Tiefe Stille herrschte ringsum. Freunde und Feinde waren in Betrachtung der Heimgegangenen versunken, deren Gesicht den Frieden Gottes wiederstrahlte.
»Sie ist nicht tot, sondern sie schläft,« sagte Amaziah bewegt. »Möge unser Ende dem ihrigen gleichen!«
Der feierliche Vorgang hatte wohl einen flüchtigen Eindruck auf die Eindringlinge gemacht, sie aber durchaus nicht von ihrem Vorhaben abgebracht. Rasch gewannen sie ihre Fassung wieder, und einer der beiden zur Unkenntlichkeit vermummten Anführer stürzte sich mit gezücktem Schwert auf Theophil. Bei diesem Anblick vergaß Claudia ihre Angst, sprang zwischen die beiden Gegner und rief: »Wenn du durchaus Blut haben mußt, Javan, so vergieß meines! Ich gehöre der Nation deiner größten Feinde an – aber vergreife dich nicht am Leben eines deiner nächsten Verwandten.«
Javan schob sie rauh beiseite, und während Theophil sie in seinen Armen aufzufangen suchte, erhielt er eine tiefe Wunde an der Schulter, aus der sich das Blut über Claudias Gewand ergoß. Bei diesem Anblick fiel letztere ohnmächtig zu Boden, und während Amaziah sie auf Marias Lager trug und neben die Heimgegangene legte, gelang es Javan und seinen Helfershelfern, den von heftigem Blutverlust geschwächten Theophil zu binden und trotz mutiger Abwehr seitens der Diener seines Vaters fortzuschleppen. Amaziah wollte dem geliebten Sohne folgen, aber seine Umgebung verhinderte es. Ratlos umstand die beraubte Familie das Bett, auf dem Maria und Claudia lagen; da öffnete letztere die Augen und fragte nach Theophil.
»Er ist in der Stadt,« antwortete Judith. »So Gott will, sehen wir ihn bald wohlbehalten wieder.«
»Warum hat er mich verlassen?« klagte Claudia. »O, nun weiß ich es wieder. Javan hat ihn gefangen genommen und wird ihn sicherlich töten! Was tun wir hier? Komm Naomi, wir wollen nach Jerusalem. zurückeilen und zu Javans Füßen um Erbarmen flehen. Vielleicht gelingt es uns, sein steinhartes Herz zu erweichen.«
Nachdem Amaziah die nötigen Anordnungen für Marias sofortiges Begräbnis getroffen hatte, kehrte die schwerheimgesuchte Familie nach Jerusalem zurück. Soeben waren sie im Begriff, in das Seitengäßchen einzubiegen, das zu Zadoks Garten führte, als ihnen der zu Anfang unserer Erzählung erwähnte Prophet den Weg vertrat und mit heiserer Stimme rief: »Eine Stimme aus Osten! Eine Stimme aus Westen! Eine Stimme aus den vier Winden! Eine Stimme gegen Jerusalem und den Tempel!« Danach fügte er, auf Claudia deutend, in noch unglückverheißenderem Tone hinzu: »Eine Stimme gegen die Braut und den Bräutigam! Eine Stimme gegen das ganze Volk!« Mit dem Ausruf! »Wehe! Wehe!« verschwand er alsdann und die andern setzten ihren Weg fort.
Zu Hause angelangt, fanden sie zu ihrem Erstaunen auch Javan mit Abschreiben beschäftigt, bei Zadok, Salome und Maria von Bethezob auf der Terrasse sitzen, und als sie die schmerzlichen Erlebnisse mitteilten, stellte sich derselbe so unschuldig und teilnehmend, daß es ihm beinahe gelang, die Seinen irrezuführen. Er bot sich an, sofort Erkundigungen einzuziehen und kehrte nach einer Weile mit dem Bescheide heim, Theophil sei nicht in die Hände der Zeloten gefallen, wie er vermutet habe, sondern in die der Behörden. Sein Abfall vom Glauben seiner Väter sei ruchbar geworden, und einige der eifrigsten Pharisäer und Schriftgelehrten wollten nun ein Exempel an ihm statuieren.
»Es ist mir leid um ihn,« fügte er hinzu, »aber wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen, und ich habe längst vorausgesehen, wohin seine Torheit ihn führen werde.«
Vergeblich flehten Naomi, Judith, Claudia und Maria ihn an, seinen Einfluß zu Gunsten Theophils geltend zu machen. Er schüttelte der Schwester Hand von seiner Schulter ab und rief: »Du hast allerdings Ursache, für das Leben und die Freiheit eines Abtrünnigen einzutreten, denn derselbe gotteslästerliche Glaube ist auch in deine umnachtete Seele gedrungen. Ich weiß um dem Verbrechen und deine Heuchelei, Naomi, und entlarve dich hier, im Beisein unserer Eltern, als Nazarenerin. Wenn ich deiner schone, so ist es nur um letzterer willen und weil ich die Hoffnung nicht aufgeben kann, daß Jehovah den bösen Geist, der Besitz von dir genommen hat, austreiben wird. Bis dahin bist du meine Schwester nicht mehr, und ich überlasse es dem weisen und gerechten Zadok, unser Haus von dem Schandfleck zu reinigen, den du auf dasselbe gebracht hast.«
Naomi war im Begriff zu antworten, als Zadok im Tone ruhiger Autorität sagte: »Javan, deine Mutter und ich wissen längst um den Irrtum, in den deine Schwester gefallen ist, und die Sache ist uns ein tiefer Schmerz. Da wir deinen Eifer für Gott kennen und wohl wußten, welches namenlose Weh dir die Kunde von dem Abfall deiner Schwester bereiten werde, haben wir dir dieselbe vorenthalten, und ich befehle dir, das Geheimnis gleich uns auch nach außen hin zu wahren. Bete für sie, suche sie zum Glauben zurückzuführen, aber stelle sie nicht öffentlich bloß. Ich will nicht, daß sie Verachtung oder gar den Haß meiner Kollegen zu tragen habe. Sie ist mein Kind, meine heißgeliebte Tochter, und wenngleich mein Herz sie verdammt, soll sie doch einen Bergungsort darin finden, dem keine Macht der Welt und der Hölle sie entreißen kann.«
Javan war sichtlich bewegt, und Amaziah benützte diesen Augenblick, um sein Herz für Theophil zu rühren, aber ohne Erfolg. Der junge Mann verließ das Zimmer und eilte auf die Terrasse, wo er den größten Teil der Nacht ruhelos auf und abging, und seinen ganzen Fanatismus zu Hilfe nahm, um die besseren Gefühle, die die Oberhand in ihm zu gewinnen gedroht hatten, niederzukämpfen. Schließlich gelang es ihm, und sein ganzes Denken richtete sich nur noch auf das eine Ziel, Theophil zum Widerrufen zu bewegen oder ein Beispiel an ihm zu statuieren, das Naomi und seinen übrigen nazarenischen Verwandten zur Warnung diente.
Zadok suchte die unglücklichen Eltern mit der Hoffnung zu trösten, daß Theophil dem christlichen Glauben entsagen werde, um den Seinen Herzeleid zu ersparen; aber Amaziah erklärte unter Tränen, lieber wolle er den einzigen heißgeliebten Sohn zu Tode gepeinigt sehen, als erleben, daß er seinen Herrn und Meister verleugne.