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Trotz des Aufruhrs innerhalb der Stadt und der von außen drohenden Gefahren gingen die Bewohner Jerusalems ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nach und fuhren fort, ihre Gärten und Weinberge zu bauen, wenn sie auch nicht wußten, wer den Ertrag einheimsen werde.
Zadoks am Bache Kidron gelegener Garten gehörte zu den schönsten jenes fruchtbaren Tales und war der Lieblingsaufenthalt seiner Frau und der beiden jungen Mädchen Naomi und Claudia. Bei schönem Wetter saßen sie dort den größten Teil des Tages bei ihrer Handarbeit, umgeben von den Mägden des Hauses, die unter der Aufsicht der alten treuen Deborah die Handmühle drehten oder unter fröhlichem Gesang den Bedarf an Leinwand spannen und webten.
Deborah war schon so lange in der Familie Zadoks, daß sie ganz als Glied derselben angesehen wurde. Sie hatte Javan und Naomi aufgezogen und hing mit rührender Zärtlichkeit an ihnen. Wenn nötig, hätte sie mit Freuden ihr Leben für sie hingegeben. Bruder und Schwester lohnten ihr die treue Fürsorge mit dankbarer Liebe, und nie zeigte sich Javan mehr zu seinem Vorteil, als wenn er nach einer kurzen Abwesenheit bei seiner Heimkehr den stolzen Nacken beugte, um den Kuß und Segenswunsch der ehrwürdigen Hüterin seiner Kindheit entgegenzunehmen. Naomi aber war ihre besondere Freude. Ihre Schönheit, Anmut und Liebenswürdigkeit, sowie ihr Eifer für die Verherrlichung Gottes und den Ruhm ihrer Nation bildeten das Hauptthema ihrer Gespräche und Lobeserhebungen. Schade nur, daß sie auch in Naomis Beisein nicht mit letzteren zurückhielt und dadurch dem jungen Mädchen die Meinung beibrachte, als sei sie über alle ihre Gefährtinnen erhaben und dazu bestimmt, eine hervorragende Stellung unter den jüdischen Frauen einzunehmen! Salome war es kein geringer Kummer zu sehen, wie sich die ihrem Kinde angeborne Neigung zu Stolz und Selbstvertrauen mehr und mehr entwickelte, und sie suchte dem Übel nach Kräften zu steuern, aber mit wenig Erfolg. Es sollte das mit Mitteln erreicht werden, an die Salome nie gedacht hätte. Was alle ihre mütterlichen Ermahnungen und Zurechtweisungen nicht zustande brachten, sollte einer höheren Macht gelingen.
Eines Tages begleitete Naomi die alte Haushälterin in das etwa zwei Kilometer von Jerusalem entfernt liegende Dorf Bethanien. Gestützt auf den Arm ihrer jungen Gefährtin, rief Deborah letzterer den traurigen Tag ins Gedächtnis zurück, an dem der fromme König David bei Gelegenheit seiner Flucht vor Absalom den gleichen Weg bedeckten Hauptes und barfuß in tiefem Seelenschmerz zurücklegte.
Es mußte in der Tat ein wehmütiger Anblick sein, den Gesalbten des Herrn von Gram gebeugt und tränenüberströmten Angesichts über den Bach Kidron gehen zu sehen, und so gut Naomi die traurige Geschichte von Kindheit an kannte, ward ihr Herz bei deren Erzählung aufs neue tief bewegt. Von den viel kostbareren Tränen aber wußte sie nichts, die der »Mann der Schmerzen« dort beim Anblick der Stadt Jerusalem vergossen hatte, als er ausrief: »O Jerusalem, Jerusalem, wenn du es wüßtest, so würdest du bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängstigen und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen, darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist.« Selbst wenn Naomi diese Weissagung gekannt hätte, hätte sie ihr wahrscheinlich wenig Beachtung geschenkt, als aus dem Munde des gekreuzigten Nazareners kommend, der ihr nur als Betrüger und Verbrecher bekannt war. Und doch sollte sie mit eignen Augen sehen, wie die betreffende Weissagung Wort für Wort in Erfüllung ging.
Als Deborah und Naomi beinahe auf dem Gipfel des Berges angelangt waren, bemerkten sie am Rande des Weges eine alte Frau, die tränenüberströmten Gesichts auf die Stadt niedersah. Obwohl einfach gekleidet, machte sie durchaus nicht den Eindruck einer Armen; man fühlte ihr nur ab, daß sie einen schweren Kummer auf dem Herzen hatte. Als sie den Blick der jungen Israelitin neugierig auf sich gerichtet sah, versuchte sie, rasch aufzustehen; dabei entglitt der Stock, der ihr zur Stütze diente, ihren Händen, und sie wäre gefallen, wenn Naomi sie nicht gehalten hätte. Nach einem herzlichen Dankeswort wollte die Alte sich entfernen, aber da sie ebenfalls die Richtung nach Bethanien einschlug, bestand das junge Mädchen darauf, daß sie ihren Arm nahm und versprach, sie ins Dorf zu geleiten. Deborah wäre es nie eingefallen, ihre junge Herrin von einem gefaßten Entschlusse abbringen zu wollen; sie eilte aber voraus, um sich nicht zu verspäten.
Kaum sah sich Naomi allein mit ihrer Schutzbefohlenen, so fragte sie mit herzgewinnender Teilnahme: »Willst du mir nicht sagen, warum du so traurig bist, Mütterchen? Es hat mir weh getan, dich weinen zu sehen, und ich würde so gern etwas zur Linderung deines Kummers tun.«
»Danke, mein Kind,« erwiderte die Alte bewegt. »Es ist lange her, seit ich ein freundliches Wort gehört habe. Ich stehe allein in der Welt; meine Angehörigen sind längst im Grabe, und die meisten meiner Freunde und Bekannten haben sich in eine andere Gegend geflüchtet. Aber deshalb habe ich nicht geweint; denn ich möchte mit keinem Menschen tauschen, befände er sich auch in der glänzendsten Lage von der Welt; meine Tränen galten vielmehr denen, die in falscher Sicherheit dahinleben und nicht ahnen, wie nahe sie dem Untergang sind.«
»Wieso?« entgegnete Naomi. »Gehörst du auch zu denen, die wie meine Mutter meinen, wir fielen den Römern in die Hände? Ich kann es gar nicht leiden, wenn die Leute solchen törichten Gedanken Raum geben; im Gegenteil, je näher die heidnischen Truppen unserer Stadt rücken, umsomehr freue ich mich, denn: »wenn sich alle Nationen gegen Jerusalem zum Kriege versammeln, wird Jehovah ausziehen und wider jene Nationen streiten, wie an dem Tage, da Er streitet, an dem Tage der Schlacht.« An jenem Tage werden Seine Füße auf dem Ölberg stehen, wie der Prophet Sacharja geweissagt hat. Ach, daß ich diesen herrlichen Tag, an dem endlich der Messias erscheinen wird, erleben dürfte!«
»Der Messias ist bereits gekommen,« sagte die Fremde mit feierlicher Stimme.
Naomi fuhr zusammen und rief mit dem Ausdruck des Entsetzens: »Wäre es möglich, daß du eine Anhängerin jenes galiläischen Betrügers bist, der die gerechte Strafe seiner aufrührerischen Lehren erlitt?«
»Ich bin eine demütige Bekennerin Jesu, des Sohnes des allmächtigen Gottes, der um unserer Sünden willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferwecket wurde,« antwortete die Fremde.
Naomi ließ den Arm der alten Christin los, wie wenn sie sich durch deren Berührung zu beflecken fürchtete, und verächtliche Worte schwebten auf ihren Lippen. Im nächsten Augenblick hatte jedoch ihr liebevolles Herz den Sieg über die Regung des Stolzes davongetragen, und sie bot der Greisin den Arm wieder. Diese nahm ihn mit wohlwollendem Lächeln und sagte freundlich: »Du bist gelehrt worden, uns als eine verächtliche Sekte zu betrachten, weil wir, im Gegensatz zu unseren Obersten, Jesum von Nazareth als den verheißenen Messias anerkennen. Aber die Offenherzigkeit, die aus deinem ganzen Wesen spricht, führt mich zu der Annahme, daß du nur bei deinem Irrtum beharrst, weil du nicht weißt, worauf unser Glaube beruht. Offenbar hältst du die verschiedenen Lügen für wahr, welche erfunden worden sind, um den Mord des Herrn der Herrlichkeit zu rechtfertigen und Seine wunderbare Auferstehung von den Toten zu verheimlichen.«
»Ich weiß,« entgegnete Naomi, »daß die Jünger des Nazareners Seinen Leichnam stahlen und darnach behaupteten, Er sei auferstanden. Wer hat Ihn nach Seiner Kreuzigung jemals lebend gesehen?«
»Ich,« antwortete die Fremde feierlich, »ich habe Ihn mit eignen Augen im Kreise Seiner Jünger gesehen, Ihn mit eigner Hand betastet und mit eignen Ohren Seiner holdseligen Stimme gelauscht. Wie hätte ich da noch zweifeln sollen! Ich war bei Seinen betrübten Jüngern hinter verschlossenen Türen, um Seinen Tod zu beweinen, als Er plötzlich unter uns trat und mit der uns allen so wohlbekannten Stimme sagte: »Friede sei mit euch!« Man macht sich keinen Begriff von dem, was damals in unserer Seele vorging. Wir konnten nicht glauben, daß Er es wirklich war, denn unsere Herzen waren verhärtet, und wir dachten gar nicht daran, daß Er uns vorausgesagt hatte, Er werde sterben und am dritten Tage wieder auferstehen. Erst als Er uns Seine Wundenmale zeigte, erkannten wir hocherfreut den geliebten Meister. Ich sah ihn darnach noch mehrmals – zuletzt, als Er angesichts Seiner sämtlichen Jünger in einer Wolke gen Himmel fuhr, nachdem Er uns mit dem Versprechen getröstet hatte, daß Er im Geiste allezeit bei uns sein werde. Während wir Ihm staunend und anbetend nachsahen, traten zwei Engel in weißen Kleidern zu uns und sagten: »Was steht ihr hier und sehet gen Himmel? Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen, wird kommen, wie ihr Ihn gesehen habt, gen Himmel fahren.« Daraufhin kehrten wir voller Freude und Dankbarkeit nach Jerusalem zurück.
»Deine Worte setzen mich in Verwunderung, und ich würde für mein Leben gern mehr von diesem Jesus von Nazareth hören. Darf ich dich zuweilen besuchen, wenn ich es unbemerkt tun kann? Ich weiß wohl, daß mein Vater böse werden wird, wenn er es entdeckt; aber ich fühle, daß es sich hier um das Heil meiner Seele handelt und bin überzeugt, daß Gott mir meinen Ungehorsam nicht zurechnen wird, weil es mir darum zu tun ist, Seinen Willen kennen zu lernen.«
Ein Blick auf das ernste, flehende Gesicht des jungen Mädchens überzeugte Maria, daß der Herr bereits Sein Werk in dessen Seele begonnen hatte, und sie sah ein, daß es ihre Pflicht war, dasselbe den Irrtümern zu entreißen, in denen es befangen war, selbst wenn es in direktem Widerspruch zum Willen ihrer Eltern stand. Konnte doch die Bekehrung ihres Kindes mit Gottes Hilfe das Mittel werden, auch sie zum Lichte zu führen! Sie gab daher ihre Zustimmung, daß Naomi komme, so oft sie könne. Mit einem warmen Segenswunsch erhob sich hierauf die Greisin, ergriff die ihr dargebotene Hand und ging mit dem jungen Mädchen langsam der soeben von ihrem Besuche zurückkehrenden Deborah entgegen.
»Gott segne dich!« sagte die Alte noch einmal, verabschiedete sich von den neuen Bekannten und lenkte ihre Schritte heimwärts, während Deborah und Naomi Jerusalem zueilten.