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Die Sonne neigte sich langsam hinter den den Berg Zion krönenden Gebäuden, und ihre scheidenden Strahlen spiegelten sich in den marmornen Mauern und goldnen Zinnen des Tempels zu Jerusalem, als die junge Naomi und ihre Freundin Claudia aus dem Hause des Priesters Zadok traten und ihre Schritte einem östlich vom Bache Kidron gelegenen prächtigen Obstgarten zulenkten. Unweit der Stelle, wo die schäumenden Fluten des Siloa in den Kidron mündeten, ließen sich die Mädchen nieder, um die Kühle des orientalischen Abends und die herrliche Aussicht auf die wundervolle, sich in ihrer ganzen Pracht vor ihnen ausdehnenden Stadt zu genießen.
»Wie wohltuend ist diese Stille nach dem Geräusch des Tages!« sagte Claudia. »Als ich mich auf Wunsch meines Vaters vor dem Tumult des römischen Lagers in die heilige Stadt flüchtete, erwartete ich nicht, Waffengeklirr und Kriegsgetümmel hier zu finden, anstatt der Ruhe, die geherrscht hat, als ich meine glückliche Kindheit bei dir verleben durfte. Es graut mir, wenn ich denke, was uns noch alles bevorstehen mag. Sobald die galiläischen Städte erobert sein werden, werden unsere Legionen sicherlich gegen Jerusalem marschieren, und was können eure Truppen bei all ihrer Tapferkeit gegen Vespasian ausrichten? Wie können eure Tore den Ansturm der schrecklichen römischen Kriegsmaschinen aushalten?«
»Wir fürchten sie nicht, Claudia,« erwiderte flammenden Auges die heißblütige junge Israelitin. »Unsere schöne heilige Stadt wird nie und nimmer in die grausamen Hände der Heiden fallen. Der Gott unserer Väter wird uns vor ihnen zu schützen wissen und nicht zugeben, daß das Haus, in dem Seine Ehre wohnt, von Leuten entweiht werde, die Seinen Namen nicht kennen.«
»Ich bewundere deine Zuversicht, Naomi, wenn ich sie auch nicht teilen kann,« entgegnete Claudia. »Schade, daß du nicht als Römerin geboren bist! Wahrlich, du könntest es mit unsern Heldinnen vergangener Zeiten aufnehmen!«
»Ich halte es lieber mit den Töchtern Israels,« antwortete Naomi. »Obwohl wir jetzt um unserer Sünden willen im Unglück sind, gehöre ich lieber dem Volke Gottes an als der Nation, die Jehovah zur Zuchtrute für Sein auserwähltes Geschlecht gebraucht. Bald wird Er in den Wolken erscheinen, um Seine Kinder vor ihren Bedrückern zu befreien. Dann werden die Götzendiener vor Seiner Herrlichkeit zurückweichen und die Seinen für immer der jetzt auf ihnen liegenden Schmach enthoben werden.«
Eine jähe Röte flog über Naomis sonst so bleichen Züge, während sie den Gefühlen Ausdruck gab, die sie bis ins innerste Herz bewegten. Beim Anblick ihrer gen Himmel emporgehobenen Hände und Augen hätte man denken können, sie höre bereits den Schall der Trompeten und sähe den Messias in den Wolken herabsteigen. Die Erwartung Seiner unmittelbaren Wiederkunft war zu jener Zeit weit verbreitet unter den Juden und trug nicht wenig dazu bei, sie in ihrer Empörung gegen die Römer zu bestärken. Sie waren der festen Überzeugung, daß von Israels Untergang als Volk keine Rede sein könne, sondern daß ihr König rechtzeitig erscheinen werde, um den Thron Davids wieder aufzurichten und die Nation zu noch größerer Herrlichkeit zu erheben, als sie zu Salomos Zeiten besessen hatte.
Naomis Worte verfehlten nicht ihres Eindrucks auf Claudia; aber deren Hoffnungen erschienen ihr trügerisch, und sie sagte daher nach einer kurzen Pause: »Naomi, dein Fanatismus blendet dich, so daß du die Gefahr nicht siehst, in der ihr schwebt. Anstatt dich eitlen Träumereien hinzugeben, tätest du wohl daran, deinen ganzen Einfluß bei deinem Vater dahin aufzubieten, daß du ihn überredest, solange es noch Zeit ist, die Stadt zu verlassen und sich der Gnade des Kaisers anzuvertrauen. Zadok gilt nicht nur bei seinen Volksgenossen, sondern auch bei den Römern für einen weisen, aufrichtigen und besonnenen Mann, so daß viele seinem Beispiel folgen würden und namenloser Jammer verhütet werden könnte. Dann könnte dein Volk wieder in Frieden und Sicherheit wohnen, und die von unseren Legionen verwüsteten Strecken Landes würden wieder aufblühen. Hättest du solche Greuelszenen mit angesehen, wie ich sie erlebt habe, so würdest du tun, was in deinen Kräften steht, sie von der dir so teuren Stadt fernzuhalten.
Mich schaudert bei deren Erinnerung, und ich bin der festen Überzeugung, daß der Anblick der vielen Leiden, von denen meine Mutter im Lager Vespasians Zeuge sein mußte, ohne einen Finger zu deren Linderung rühren zu können, viel dazu beigetragen hat, ihr Ende zu beschleunigen. Ach, daß wir hätten hier bleiben können! Wer weiß, ob sie dann nicht heute noch am Leben wäre!«
Bei diesen Worten strömten Tränen über Claudias liebliches Gesichtchen Die heidnische Philosophie konnte sie nicht über den Verlust der geliebten Mutter trösten, und doch war sie noch zu sehr in den von kleinauf eingesogenen Lehren befangen, um ihr Herz dem ihr von der Freundin nahegebrachten Glauben an den einigen Gott zu öffnen, der Wohl und Wehe jedes Seiner Menschenkinder in Seiner allmächtigen Hand hält und mit Weisheit und Liebe über deren Geschicken waltet. Wieder auf das Thema des Krieges zurückkommend, fuhr sie daher fort, Naomi die Notwendigkeit einer schleunigen Unterwerfung unter den Kaiser vor Augen zu stellen.
»Claudia,« sagte letztere endlich, indem sie von der Moosbank aufstand, auf der sie sich mit der jungen Römerin niedergelassen hatte, und die Hände gegen die hohen Türme der Stadt ausbreitete – »Claudia, zehnmal lieber möchte ich innerhalb dieser heiligen Mauern umkommen, wenn es Jehovah so beschlossen hat, als mein Volk wieder dem verhaßten Joche der Römer unterwerfen zu sehen. Es ist uns gelungen, es abzuschütteln, und nun werden wir unsere Freiheit wahren, sollte es uns auch den letzten Mann kosten. Du hältst mich für eine Fanatikerin, aber glaube mir, wie ich, denkt jeder echte Sohn und jede echte Tochter Israels, und sollten deine stolzen Legionen gegen unsere Mauern anstürmen, so wird ihnen ein Empfang zuteil werden, der ihnen zur Genüge beweisen wird, daß die Bewohner Jerusalems heute noch vom Geiste ihrer Väter beseelt sind.«
»Mögen uns die Götter vor einem solchen Kampfe bewahren!« antwortete Claudia schaudernd, indem sie, dem Beispiel der Freundin folgend, aufstand und sich zur Heimkehr anschickte. »Ich müßte es sonst bitter bereuen, daß ich meinen Vater bat, mich hieher zu schicken anstatt nach Cäsarea, wie er vorgehabt hatte. Hätte er eine Ahnung gehabt, daß sich der Krieg von Galiläa nach Judäa erstrecken werde, so hätte er mich nicht hieher gelassen, und falls sich seine Mutmaßung verwirklicht, daß Vespasian die Belagerung Jerusalems ins Auge faßt, so wird er mich holen und nach Cäsarea führen lassen, von wo ich mich leicht nach Rom einschiffen und meinen Bruder Marcellus erreichen kann. Übrigens würde unser Zusammensein wahrscheinlich von kurzer Dauer sein; denn, wie mir Marcellus schreibt, erwartet er, in die nach Judäa bestimmten kaiserlichen Truppen eingereiht zu werden. Ach so, daran dachte ich gar nicht, daß er dann als Feind deines Volkes ins Land kommt und dieser grausame Krieg auch eure bisher so herzlichen Beziehungen wesentlich verändern wird!«
Da die jungen Mädchen gerade an der Haustür anlangten, blieb Naomi zu ihrer nicht geringen Genugtuung die Antwort erspart; denn sie hätte Claudia um keinen Preis merken lassen mögen, wie nah ihr ihre Worte gingen.
Der letzteren Vater war als Befehlshaber der in Judäa stationierten Truppen lange in Jerusalem in Garnison gestanden, und es war zwischen ihm und dem Priester Zadok eine auf gegenseitiger Achtung beruhende Freundschaft entsprungen. Zwischen beiden Familien hatte ein lebhafter Verkehr geherrscht, und die Kinder waren miteinander aufgewachsen. Nie hatte der Religionsunterschied das zwischen ihnen bestehende wahrhaft geschwisterliche Verhältnis auch nur mit einem leisen Schatten getrübt. Marcellus war der treue Gefährte der Mädchen auf deren häufigen Ausflügen in die Umgegend von Jerusalem, und die Zuneigung, welche zwischen Marcellus und Naomi herrschte, rief höchstens dann und wann ein Lächeln bei den Eltern hervor, so lange beide Kinder waren. Erst als sie älter wurden, kamen Zadok und dessen Frau Salome ernstliche Bedenken, da sie nie und nimmer zugegeben hätten, daß ihre Tochter einen Götzendiener heirate. Ein solcher Gedanke wäre Naomi übrigens gar nicht in den Sinn gekommen; denn, obwohl sie ihren Freunden mit warmer Liebe zugetan war, ging ihr doch Jehovah, ihr Gott, über alles, und es tat ihr in der Seele weh, daß es ihr nicht gelang, Marcellus und Claudia zum Glauben ihrer Väter zu bekehren. Lieber wäre sie gestorben als einen Heiden zu heiraten, und erst an der Leere, die sie nach dem Wegzuge des Jugendfreundes empfand, wurde ihr klar, daß letzterer einen zu großen Platz in ihrem Herzen einnahm, und sie gab sich redlich Mühe, ihn zu vergessen. Seither waren zwei Jahre verflossen und sie war wieder das frische, fröhliche Mädchen von früher, der Sonnenstrahl des Hauses, so daß nicht einmal ihre Mutter, die Vertraute aller ihrer Freuden und Leiden, ahnte, daß des Marcellus Bild doch noch nicht ganz aus ihrem Herzen verwischt war und daß durch der Schwester Rückkehr und deren Lobeserhebungen über des Bruders Liebenswürdigkeit und Tugend die nur in den Hintergrund gedrängten Gefühle neue Nahrung erhalten hatten. Der Umstand, daß ihr eigner Bruder Javan gerade die gegenteiligen Eigenschaften hatte, die der junge Römer besaß, trug wahrscheinlich nicht wenig dazu bei, ihr letzteren in besonders günstigem Lichte zu zeigen. Javans Herrschsucht hatte in ihrer Kindheit häufig Anlaß zu Mißhelligkeiten zwischen beiden Knaben gegeben; denn Marcellus nahm stets Partei für die Schwachen und Unterdrückten, während Naomis Zuneigung für den jungen Römer des Bruders Eifersucht und Entrüstung hervorrief. Nur der Schwestern Dazwischenkunft war es immer wieder gelungen, ernstliche Streitigkeiten zwischen Javan und Marcellus zu verhüten.
Der Fanatismus, der sich mit den Jahren der Seele des israelitischen Jünglings bemächtigte, ließ dessen angeborne schlimme Charaktereigenschaften nur schroffer hervortreten. Anstatt daß er sein Herz dem mildernden, besänftigenden Einfluß geöffnet hätte, gebrauchte er sie zum Deckmantel für seine selbstsüchtigen Zwecke. Sein Vater gehörte zur strengsten Sekte der Pharisäer und beobachtete nicht nur das mosaische Gesetz bis auf den letzten Buchstaben sondern auch alle im Laufe der Jahre hinzugekommenen menschlichen Aufsätze, ohne jedoch unter die Strafpredigt unseres Herrn und Meisters zu fallen: »Ihr haltet Becher und Schüsseln auswendig reinlich, inwendig aber seid ihr voll Raubes und Fraßes. Ihr macht die Denkzettel breit und die Säume an euren Kleidern groß, um von den Menschen beachtet zu werden.« Wenn er auch nach Gewohnheit der Priester und Schriftgelehrten an den Straßenecken und auf öffentlichem Marktplatze betete, so war er doch ein aufrichtig frommer Mann, der es andererseits keineswegs versäumte, mit seinem Gott im Kämmerlein zu reden.
Javan tat es seinem Vater in Beobachtung der kleinsten Gesetzesvorschriften womöglich noch zuvor, hingegen fehlte es ihm an der echten Herzensfrömmigkeit, die Zadok kennzeichnete, und sein stolzer, unbeugsamer Sinn war seinen Eltern eine Quelle tiefen Herzeleids.
Salome war eine schüchterne Natur, die sich willenlos von ihrem Manne leiten ließ und nicht die geeignete Persönlichkeit war, einen Jungen von so schwierigem Charakter wie Javan in des Vaters häufiger Abwesenheit in Schranken zu halten.
Der Eltern Vorliebe für Naomi, die, trotz redlichsten Bemühens seitens Zadoks und seiner Gattin, sie zu verbergen, dann und wann zu Tage trat, übte einen nachteiligen Einfluß auf Javan. Anstatt daß er sich eines liebenswürdigeren Benehmens befleißigt hätte, wurde er immer finsterer und mied mehr und mehr den Verkehr mit den Seinen. Naomi bot alles auf, seine Liebe zu gewinnen, aber mit wenig Erfolg. Oft gelang es ihr zwar, mit ihrem Harfenspiel den Ausdruck des Mißmuts von seinem Gesicht zu bannen; aber es waren weder die Buß- noch Lobgesänge, die ihm das Herz rührten; nur Ankündigungen der Rache Gottes gegen die Feinde Israels fanden Eingang in seine von Haß und Bitterkeit erfüllte Seele. Er war wie wenige in den Schriften des alten Testaments bewandert und wußte auch in der mündlichen Überlieferung gründlich Bescheid; denn er setzte seinen ganzen Ehrgeiz darein, dereinst den Titel eines Rabbiners führen zu dürfen.
Das war die Familie, in der die junge Heidin Claudia wie eine Tochter des Hauses gehalten war. Es mag befremdlich erscheinen, daß ihr Vater sie in solche intimen Beziehungen zu einer jüdischen Familie treten ließ; aber Rufus war nur Heide der Erziehung nach, nicht aber, weil ihm Jupiter oder Mars höher gestanden wären als Jehovah. Sein Soldatenberuf hatte seine Aufmerksamkeit von der Religion abgelenkt, und die Frage, welche Gottheit am meisten Ehre zu beanspruchen hatte, kümmerte ihn wenig. Der Gedanke, daß seine Tochter sich jemals versucht fühlen könnte, Jüdin zu werden, war ihm lächerlich; darum willfahrte er ohne Bedenken deren Bitte, nach Jerusalem zurückkehren und sich unter den Schutz einer von ihm so hochgeachteten Familie begeben zu dürfen.