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Von den Zinnen der Türme von Jotapata sahen Josephus und seine Offiziere das Römerheer die von den Pionieren Vespasians erbaute ebene Straße entlang kommen. Die Juden hatten gemeint, der steilen Berge und dichten Wälder wegen, welche die Feste von allen Seiten umgaben, sei ihre Stellung uneinnehmbar. Man denke sich daher ihr Erstaunten und ihre Bestürzung, als Vespasian die Bäume einfach fällen und die Felsen sprengen ließ, so daß seine Truppen eines schönen Tages ungehindert eine Meile vor Jotapata ihr Lager aufschlagen konnten und die Stadt zernierten. Im ersten Augenblick war der Schrecken der jüdischen Besatzung groß; bald aber faßte sie wieder Mut und beschloß, aufs äußerste Widerstand zu leisten. Das tat sie denn auch in einer Weise, die in der Weltgeschichte kaum ihres gleichen findet.
Schon am nächsten Tage wagten die Juden einen Ausfall. Die Römer wurden zurückgeworfen, und Josephus zog sich erst mit einbrechender Nacht nach wütendem Kampfe hinter die Stadtmauern zurück. Javan und seine Gefährten hatten sich bei dieser Gelegenheit dermaßen durch Unerschrockenheit und Tapferkeit ausgezeichnet, daß der jüdische Feldherr sie von Stund an in seiner Nähe behielt und insbesondere Javan mit seinem Vertrauen beehrte.
Bei der geschützten Lage der Stadt hatte Vespasian wenig Aussicht auf Erfolg, wenn es ihm nicht gelang, seine Kriegsmaschinen wenigstens im Norden aufzupflanzen und Jotapata von einem etwas günstiger gelegenen Hügel aus zu beschießen. Mit unsäglicher Mühe brachten die Römer endlich einen Wall zu stande, der beinahe bis an die Mauern der belagerten Stadt reichte; aber auch hier schaffte Josephus Rat, indem er die Mauern um dreißig Fuß erhöhen und zum nicht geringen Erstaunen des Feindes mit Türmen versehen ließ. Die Ausfälle wurden immer zahlreicher, und die Belagerer mußten es sich immer häufiger gefallen lassen, daß ihre Arbeiten im Feuer aufgingen. Bei Gelegenheit eines Angriffs, den Javan mit seiner kleinen Schar auf eine Abteilung römischer Pioniere machte, kam es zu einem Zusammenstoß zwischen ihm und einem feindlichen Hauptmann, der ihm hätte übel bekommen können. Noch rechtzeitig erkannte der Römer in dem jüdischen Offizier den früheren Spielgenossen seines Sohnes und gab die Verfolgung auf, weil es ihm widerstrebte, den Sohn des Priesters Zadok, in dessen Haus er seinerzeit so viel Freundlichkeit genossen hatte, gefangen zu nehmen. Javan ahmte seine Großmut nicht nach, sondern warf, sobald er sich in Sicherheit sah, den Speer mit solcher Gewalt nach dem Vater des Jugendfreundes, daß er ihn an der Hüfte verwundete.
»Mein Erbarmen war schlecht angewandt!« rief Rufus. »Wie ich sehe, ist der junge Fanatiker noch gerade so grausam und ränkesüchtig wie früher. Vorwärts, Kinder, beweisen wir ihm, daß wir ihn nicht aus Furcht laufen ließen!«
Die Soldaten ließen es sich nicht zweimal sagen, sondern eilten den Flüchtlingen nach und erreichten sie am Fuße der Mauer, ehe sich die Tore hinter ihnen schließen konnten. Es entspann sich alsbald ein wütender Kampf, in dem Javan eine bedenkliche Wunde am rechten Arm davontrug. Rasch nahm er das Schwert in die Linke, bohrte es dem Feinde ins Herz und stürzte sich, gefolgt von den Seinen, durchs Tor.
Da bei solchen Zusammenstößen verhältnismäßig wenig herauskam, beschloß Vespasian, den Belagerten die Zufuhr von Lebensmitteln abzuschneiden und sie durch Hunger zur Übergabe zu nötigen. Dem klugen Josephus gelang es jedoch immer wieder die Feinde zu täuschen, sie um den Erfolg ihrer mühevollen Arbeiten zu bringen, ihre Kriegsmaschinen anzuzünden und sie durch unvorhergesehene Ausfälle zu schwächen. Seine Leute taten Wunder der Tapferkeit, und den Römern wäre die Einnahme der Stadt wohl schwerlich geglückt, wenn der Verrat sie ihnen nicht in die Hände gespielt hätte. Einer der Bürger Jotapatas beging die Niederträchtigkeit, Vespasian von der Not der belagerten Einwohnerschaft in Kenntnis zu setzen und ihm den Rat zu erteilen, die Festung um die Zeit der letzten Nachtwache plötzlich zu überfallen, weil dann, die Besatzung in der Regel noch in tiefem Schlafe lag, und es nicht selten vorkam, daß auch die Posten ein wenig schlummerten. Vespasian argwöhnte eine neue List des Befehlshabers Josephus, behielt den Mann aber in Gewahrsam.
Zu der vom Verräter angegebenen Stunde marschierten die römischen Soldaten auf die Mauern zu, und Titus führte einen Teil der fünften Legion auf den Festungswall. Ehe die Wachen sichs versahen, waren sie niedergemetzelt, und die Römer hatten freien Eingang in die Stadt. Wer ihnen Widerstand entgegensetzte, fiel unbarmherzig dem Schwerte anheim, und Frauen und Kinder wurden gefangen genommen. Wohl vierzigtausend Personen mochten seit Beginn der Belagerung umgekommen sein, und von Jotapata selbst blieb nur ein Trümmerhaufen übrig.
Während des Blutbads fahndeten die Römer vergeblich nach Josephus, der durch seinen hartnäckigen Widerstand ihren besondern Groll auf sich geladen hatte. Als dieser sah, daß die Stadt verloren war, ließ er sich in einen ausgetrockneten Brunnen nieder, der durch einen geheimen Gang mit einer unterirdischen Höhle in Verbindung stand. Dort fand er eine Anzahl von Flüchtlingen vor, unter andern Javan und eine Frau. Letztere versprach, ihm einen geheimen Ausweg zu zeigen, verriet aber statt dessen seinen Zufluchtsort an die Römer, welche ihn mit allen Mitteln zu bewegen suchten, sich zu ergeben. Schließlich gelang dies einem seiner Bekannten, dem Tribun Nicanor; aber als seine Genossen bemerkten, daß er schwankend wurde, erklärten sie ihm, wenn ihm die Wahrung seiner persönlichen Ehre so wenig am Herzen liege, wollten sie wenigstens Sorge tragen, daß er seinem Vaterlande keine Schande mache. Er könne wählen, ob er ehrenhaft durch ihre Hand sterben oder als Verräter dem Tode anheimfallen wolle. Josephus bot seine ganze Beredsamkeit auf, um sein Leben zu retten; aber umsonst.
»Javan,« rief er endlich, »willst auch du mich verlassen, der du so tapfer an meiner Seite gekämpft und alles daran gesetzt hast, um ein Wort der Anerkennung aus meinem Munde zu hören? Willst du nun gemeinsame Sache mit diesen Galiläern machen, die mir ans Leben wollen?«
Javan warf ihm einen halb mitleidigen, halb verächtlichen Blick zu, senkte aber das Schwert, und sofort folgten die andern seinem Beispiel. Diesen günstigen Augenblick machte sich Javan zunutze und sagte: »Seid ihr entschlossen zu sterben, so laßt uns losen, wer zuerst daran kommt. Fällt mir natürlich nicht ein, mich als einziger dem Tode entziehen zu wollen!«
Dieser Vorschlag wurde ohne Widerrede angenommen, und einer nach dem andern bot mutig seine Brust dem Speere dar. Merkwürdigerweise waren Josephus und Javan die letzten, welche das Los traf, und es gelang ersterm nun ohne Mühe, seinen jungen Genossen zu bewegen, sich den Römern auf Gnade und Ungnade zu ergeben. Nicanor führte die beiden ins römische Lager, wo sie ihres weiteren Schicksals harrten. Der etwas rauhe aber gutmütige Rufus besuchte Javan häufig und suchte ihm die Gefangenschaft auf alle erdenkliche Weise zu erleichtern. Ganz konnte er es jedoch nicht unterlassen, Javan den schnöden Undank vorzuhalten, dessen er sich ihm gegenüber schuldig gemacht hatte.
»Mich dünkt,« sagte er, »bei Gelegenheit jenes Zusammenstoßes hat der Heide mehr Edelmut bewiesen als der Jude trotz seiner vielgerühmten Frömmigkeit. Ich habe dich unserer früheren freundschaftlichen Beziehungen wegen entrinnen lassen, während du nur darauf bedacht warst, mir zu schaden.«
Der Vorwurf war keine geringe Demütigung für den stolzen, jungen Pharisäer; er wußte kein Wort zu erwidern, und Rufus, der den Gefangenen nicht noch kränken wollte, ging zu einem erquicklicheren Gesprächsgegenstand über.
Gebe Gott, daß wir, die wir Christi Namen tragen, den Feinden des HErrn nicht Anlaß zur Lästerung geben; denn gleichwie nicht alle Juden echte Söhne Abrahams sind, so nennt sich gar mancher einen Christen, dem es nicht einfällt, Jesu Beispiel nachzuahmen!