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Einundzwanzigstes Kapitel.

Der Sohn des Ananus durchstreifte nicht mehr die Straßen der Stadt; man hatte ihn seit Beginn der Belagerung nicht mehr gesehen. Die Hungersnot machte sich fühlbar, und je mehr das Elend sich steigerte, um so wütender hausten die Empörer. Nichts war mehr vor ihnen sicher; der Hunger tötete den letzten Rest von menschlichem Gefühl. Leute, die früher ihr Leben für Frau und Kinder hingegeben hätten, entrissen ihnen jetzt jedes Bröcklein Brot, das ihnen etwa in die Hände fiel, und verschlangen es vor ihren Augen.

Einige wenige Ausnahmen gab es allerdings; hie und da fand sich noch der eine oder andere Jude, der fortfuhr nach Gottes Geboten zu handeln. In Zadoks Haus z. B. leuchteten Glaube, Hoffnung und Liebe noch immer, und strahlten umso heller, je finsterer es ringsum ward. Javans Einfluß hatte die Plünderer fern gehalten, so daß sich die Not dort weniger fühlbar machte als anderswo. Zadok hatte Korn und Lebensmittel aufgespeichert, und davon teilte er denen mit, die in seiner Familie Zuflucht gesucht hatten oder heimlich Hilfe bei ihm suchten.

Mit der Zeit nahmen aber auch seine Vorräte dermaßen ab, daß er das wenige, was noch da war, für die Seinen aufheben mußte, obwohl es Naomi kaum übers Herz brachte, die Unglücklichen abzuweisen und viele heiße Tränen darüber vergoß. Am Lager ihrer Mutter fühlte sie sich jedoch immer wieder aufgerichtet. Sie sah dieselbe zwar von Tag zu Tag schwächer werden, aber jemehr ihre Lebenskraft abnahm, umsomehr nahm der innere Mensch zu, und sie reifte der Herrlichkeit entgegen. Selbst Zadok klagte nicht mehr über den ihm bevorstehenden Verlust seiner sanften Gefährtin, so weh es ihm tat, diejenige, die so lange das Licht seiner Augen und die Wonne seines Herzens gewesen war, langsam dahinschwinden zu sehen.

Wenn er nach mehrstündiger Abwesenheit müde und bedrückt von dem Jammer und Elend, das er gesehen hatte, nach Hause kam, war er kaum mehr imstande, sich soweit zu ermannen, daß er seiner sterbenden Frau und bekümmerten Tochter noch etwas sein konnte. Er wußte, daß Naomi keine Hoffnung mehr für ihr Land hatte, sondern fest glaubte, daß die schreckliche Weissagung von Jesus von Nazareth in Erfüllung gehen werde; umsomehr staunte er über ihre Standhaftigkeit und Ergebung. Kannte er doch die Kraft und den Frieden nicht, den der Glaube an den Herrn Jesum gibt!

Wie gesagt, trotz des namenlosen Elends, das über sein Volk hereingebrochen war, verzweifelte Zadok noch immer nicht an dessen endgültigen Sieg. Er konnte nicht glauben, daß Gott Israel und die Stadt, da Seine Ehre gewohnt hatte, verlassen werde, und erwartete mit Bestimmtheit, daß Er mit allmächtigem Arm eingreife, um Sein erwähltes Volk zu retten. Diese Hoffnung hielt seinen und vieler anderer Mut aufrecht. Javan hatte noch mehr Hoffnung als sein Vater; er freute sich sogar der verzweifelten Lage Jerusalems, weil er sich sagte, wenn die Not aufs höchste gestiegen sei, werde die Sonne der Gerechtigkeit aufgehen und der Messias in Seiner ganzen Herrlichkeit erscheinen. Der Rabbiner Joazer, der diese Illusionen teilte, suchte sie auch Salome einzuflößen; aber er bemerkte bald, daß sie nicht auf seine Gedanken einging und warf Naomi vor, daß sie ihre Mutter mit ihren falschen Anschauungen angesteckt habe. Naomi leugnete das auch nicht; sie wünschte nichts sehnlicher, als daß Salome ihren Glauben bekennen möchte, ehe die Schwäche noch mehr überhand nahm, aber wenn sie in sie drang, es zu tun, antwortete dieselbe ihr nur, sie habe nicht die Kraft dazu. War Naomi von ihrer Seite, so geriet ihr Glaube ins Wanken; neigte sich aber die Tochter wieder über sie, um ihr die Verheißungen der heiligen Schrift ins Gedächtnis zurückzurufen, so wurde sie ruhig. War der Feind auf der einen Seite abgewiesen, so versuchte er sie auf der andern anzugreifen; doch »Der, welcher für sie war, war stärker als alles, was wider sie war.«

Endlich kam der Augenblick, da Zadok und Naomi sich eingestehen mußten, daß die Tage ihrer geliebten Kranken gezählt waren; aber zu der Tochter Freude wurde nun auch der Wunsch immer mehr rege in ihr, vor ihrem Ende noch Zeugnis von der Gnade ihres Erlösers abzulegen. Die Todesfurcht, die sie solange gequält hatte, schwand, und der Friede Gottes erfüllte je länger je mehr ihre Seele.

Mittlerweile stieg die Hungersnot aufs höchste. Ganze Familien starben aus, und die Straßen waren mit Toten und Sterbenden angefüllt, die niemand beweinte, noch beerdigte.

Den vielen Verbrechen, welche in jener Zeit verübt wurden, gesellte sich ein weiteres hinzu. Der des geheimen brieflichen Verkehrs mit Rom angeklagte Hohepriester Matthias wurde vor dem Altar ermordet, nachdem seine drei Söhne vor seinen Augen niedergemetzelt worden waren – kurz es war mit Jerusalem zum äußersten gekommen. Die Rache Gottes war über die stolze Stadt hereingebrochen. Innerhalb ihrer Mauern zerrissen sich die Parteien unter sich, und außerhalb derselben standen die Römer. Das tägliche Opfer hatte eingestellt werden müssen, weil keine Opfertiere mehr zu haben waren. Eine Menge Häuser stürzten ein, und die herrlichsten Paläste dienten nur noch Eulen und Fledermäusen zur Wohnung.

Der Greuel der Verwüstung, der in der Stadt Gottes herrschte, war ein Anblick, über den Menschen und Engel hätten weinen können; aber das tiefste Mitleid erregte die moralische Verkommenheit ihrer Kinder, in denen die menschliche Natur in ihrer ganzen Verderbtheit und Entblößung von jeglicher Scheu vor Gott und Menschen so recht zu Tage trat – ein schwaches Abbild von der ewigen Strafe, welche diejenigen ereilen wird, die in ihrer Empörung gegen den Herrn ihren Gott beharren!

Anfang Juli wurde endlich die Burg Antonia genommen. Titus befahl, daß sie dem Erdboden gleich gemacht und eine Straße auf dem Hügel angelegt werde, wo sie gestanden hatte. Noch einmal machte er dann den Versuch, die Rebellen zur Übergabe zu bewegen, aber umsonst. Johannes von Giscala begegnete jeder derartigen Aufforderung mit Hohnreden und Schmähungen, so daß dem Feldherrn nichts übrig blieb, als seine Angriffe gegen den Tempel zu richten, den er so gern verschont hätte. Tag für Tag machte das Zerstörungswerk zum Schrecken der Bewohner Jerusalems Fortschritte. Dennoch hielten viele an der Hoffnung fest, daß der Herr der Heerscharen noch im letzten Augenblick Seinen Tempel vor der Zerstörung retten werde, unter ihnen Zadok und Javan, die nicht aufhörten, ihren Brüdern Mut zuzusprechen; und den ganzen Tag über nach Kräften bei der Verteidigung des Heiligtums mithalfen. Kam Zadok dann abends heim, so bekümmerte er seine Frau und Tochter mit der Schilderung der militärischen Operationen der Römer. Er konnte und wollte nicht an ihre trüben Vorahnungen glauben, und der Gedanke, daß seine Frau vor der glorreichen Ankunft des Messias abberufen werden könnte, gereichte ihm zum tiefsten Schmerz. Während er voll Begeisterung von den Segenszeiten sprach, die Zion noch vorbehalten waren, sah sie ihn wehmütig an und sagte dann: »O Zadok, sprich mir nicht mehr von der Wohlfahrt unsers Landes. Die Zeit ist in weiter Ferne, da es ihm wieder wohlergehen wird. Ich werde dich bald verlassen Geliebter, – aber ich hoffe, binnen kurzem werden wir droben auf ewig wieder vereint sein.«

»Gott gebe es!« erwiderte Zadok.

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Die Klagemauer zu Jerusalem.
(Nach einer Photographie).

»Nur hätte ich so sehnlichst gewünscht, daß du mit mir den Messias auf den Wolken des Himmels könntest herabkommen sehen, um Israel zu erretten!«

»Zadok, ich glaube, daß der Messias erst am jüngsten Tage wiederkommen wird. Wir stehen in der von den Propheten vorausverkündeten Zeit der Zerstreuung Israels.«

»Wie kommst du zu diesem Glauben, Salome? Ich fürchte, Naomi hat dich mit ihren Anschauungen angesteckt, denn früher dachtest du wie ich über das Kommen des Messias. Die Hoffnung auf Sein Erscheinen hält mich aufrecht in den Greuelscenen, die sich tagtäglich vor meinen Augen abspielen.«

»O, daß du diese trügerische Erwartung aus deinem Herzen bannen könntest, Zadok! Daß dir Gott in Gnaden die Augen über den wirklichen Zustand unseres Volkes öffnen könnte! Wir sind schuldig. Eine schwere Sündenlast liegt auf den Kindern Abrahams. O Zadok, ich kann dir die Wahrheit nicht länger vorenthalten! Ich glaube, daß Christi Blut allein die Sünde wegwaschen kann von dem Lande, wo dieses Blut vergossen worden ist und von denen die gerufen haben: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!«

»Salome, was soll das heißen?« rief Zadok erschrocken. »Habe ich dich recht verstanden?«

»Sieh mich nicht so böse an, geliebter Mann,« entgegnete Salome mit bebender Stimme. »Fluche nicht deiner sterbenden Frau, die nicht anders kann als bekennen, daß sich ihre ganze Hoffnung für die Ewigkeit auf das Verdienst Jesu von Nazareth gründet. Ich vertraue für die Vergebung meiner Sünden einzig und allein auf Sein Blut und ich befehle meinen Geist getrost in Seine Hände, weil Er mich zu Seinem Eigentum erkauft hat.«

»Muß ich das von der Gattin meiner Wahl erleben?« rief Zadok heftig. »O Gott meiner Väter, nun ist das Maß meines Jammers voll! O Salome, das tust du mir an, du, die du mir in den langen Jahren unserer Ehe nie den geringsten Kummer bereitet hast! Ich dachte, der Glaube Abrahams halte dich bis zuletzt aufrecht und wir würden uns im Schoße des Vaters der Gläubigen wiederfinden. Nun ist mir mit einem Male diese Hoffnung geraubt! Du hast den Herrn deinen Gott verlassen und betest die Kreatur an, setzest dein Vertrauen auf einen gekreuzigten Übeltäter anstatt auf den Urquell des Lebens.«

Salome zitterte an allen Gliedern; aber der Herr ließ Sein schwaches Kind nicht allein. Ein Glaubensblick auf Ihn gab ihr neuen Mut. Sie streckte ihm die abgemagerte Hand entgegen und sagte: »Zadok, ich habe dich unaussprechlich geliebt, wie es nicht anders möglich war. Mein einziger Lebenszweck war, dir wohlzugefallen! Ich fürchte, ich habe mehr an dich gedacht als an meinen Gott. Meinst du, es wäre mir da leicht geworden, einen Glauben anzunehmen, den du nicht teiltest? Ich habe mich lange gewehrt, aber der Herr ist mir schließlich zu mächtig geworden, hat allmählich die Decke, die auf meinem Herzen lagerte, hinweggenommen und mir das Heil in Christo geoffenbart. Als mir der heilige Geist die Augen für die Herrlichkeit des Evangeliums öffnete, konnte ich sie nicht wieder schließen.«

Zadok schwieg, und Salome fuhr fort: »Es war das von den Knechten des Herrn niedergeschriebene Wort Gottes, das diese Umwandlung in meinem Herzen bewirkte. Erfülle mir nun diese meine letzte Bitte, geliebter Mann! Ich beschwöre dich im Namen unsers hochgelobten Herrn, lies das Evangelium, höre auf die Worte deines Kindes, und vor allem bitte Gott, daß Er deinen Geist erleuchte und dich fähig mache, die Wahrheit zu erkennen! Dann wirst du in dem verachteten Nazarener den Messias erkennen. Haben die Propheten nicht vorausgesagt, daß Er von den Menschen verachtet und verworfen werden, daß Er ein Mann der Schmerzen sein wird? Zadok, kannst du diese Worte des Propheten Jesajas lesen ohne darin eine Ankündigung der Leiden und des Todes Jesu zu sehen? Wenn du glauben wolltest, daß Er um deiner Sünden willen verwundet und um deiner Missetat willen geschlagen worden ist, so würdest du Ruhe finden für deine Seele, und der Friede Gottes würde dein Herz erfüllen. Versprich mir, daß du tun willst, was ich dich gebeten habe, heißgeliebter Mann. Ich bin zu schwach, um so mit dir zu reden, wie ich gern möchte.«

Zadok konnte sich nicht genug über den Mut wundern, der plötzlich seine von Natur so schüchterne Frau beseelte, und er rief bewegt:

»Was ist nur an dieser neuen Lehre, was ihre Anhänger so unerschrocken macht? O Salome, warum hast du mir nicht gesagt, als die ersten Zweifel in deiner Seele aufstiegen? Ich hätte dir dann wieder zurechthelfen können.«

»Ich habe deinen Zorn gefürchtet, Zadok, weil ich wußte, wie sehr du gegen die Lehren des Evangeliums warst. Aber ich habe das Gesetz und die Propheten mit inbrünstigem Gebet gelesen und gesehen, daß sie alle von den Leiden des Messias reden, ja daß nicht nur Seine zukünftige Herrlichkeit und Seine Siegesherrschaft bis auf die kleinsten Einzelheiten darin beschrieben sind, sondern auch Seine Verwerfung, Seine Verurteilung und Seine Kreuzigung. Es mußte also kommen, auf daß die Schrift erfüllt werde. Jesus hat gelitten, ist gestorben, auferstanden und darnach gen Himmel gefahren, wie die Propheten vorausverkündigt hatten. Und in derselben Weise, wie Er aufgefahren ist, wird Er wiederkommen in der Herrlichkeit Seines Vaters. Dann wird für Israel der Siegestag anbrechen; dann wird es sehen, in Welchen es gestochen hat und Buße tun; Er aber wird Seines Bundes gedenken und sich wieder zu Seinem Volke bekennen. Zadok, wenn wir dereinst mit Ihm herrschen wollen, müssen wir hienieden an Ihn glauben. Willst du dich nicht auch Dem anvertrauen, der einem schwachen Herzen wie dem meinigen alle Furcht genommen hat?«

»Ich muß gehen,« sagte Zadok sanft, »du bist zu schwach für eine solche Unterredung; überdies sehe ich wohl, daß für den Augenblick alles, was ich dir sagen könnte, vergeblich wäre. Ich beklage die mit dir vorgegangene Umwandlung, aber ich kann dir nicht böse sein, noch dir mit Klagen oder Vorwürfen die letzten Augenblicke deines Lebens verbittern. Gott segne dich und bringe dich zu dem Glauben deiner Väter zurück, ehe es zu spät ist! O Salome, wenn dein Name aus dem Buche des Lebens gestrichen würde; aber das kann nicht sein! Der Herr wird sich deiner erbarmen und dir verzeihen!«

»Geh nicht so traurig von mir, Zadok. Ich habe so viel für dich gebetet, daß ich nicht an der Erhörung zweifeln kann. Sage mir nur das Eine: Willst du das Evangelium lesen?«

»Ja, Salome, ich will die vermeintlichen göttlichen Offenbarungen lesen, obwohl sie in Wirklichkeit nur Lügen enthalten. Ich will mir Zeit nehmen, sie zu lesen, wäre es auch nur, um besser imstande zu sein, dir zu antworten.«

»Gott sei Dank, Zadok! Lies nur; dein gesundes Urteil wird dann bald die Wahrheit herausfinden. Ich bin glücklicher als seit Monaten, weil ich dir offen gesagt habe, was meine Seele bewegt, und weil ich die leise Hoffnung hege, daß du bald desselben Glaubens sein wirst, wie ich.«

Zadok verließ das Zimmer und suchte seine Tochter auf. Ängstlichen Blickes legte diese das kostbare Manuskript beiseite, in dem sie soeben las; aber wie groß war ihre Freude als ihr Vater ihr mitteilte, welches Bekenntnis ihre Mutter ihm abgelegt und daß sie ihm das Versprechen abgerungen hatte, in dem heiligen Buche zu lesen! Trotz der strengen Vorwürfe, die ihr Vater ihr darüber machte, daß sie ihre Mutter mit dem Evangelium bekannt gemacht hatte, konnte die junge Christin ihr Glück nicht verbergen, und als er mit der kostbaren Pergamentrolle hinausging, eilte sie zu Salome, um mit ihr gemeinsam dem Herrn für Seine gnädige Durchhilfe zu danken.


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