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Siebentes Kapitel.

Wäre die Sorge um ihre Eltern und Claudia nicht gewesen, so hätte Naomi die Tage, die sie bei ihrem Onkel verleben durfte, als die glücklichsten ihres Lebens angesehen. Aber nicht etwa, weil die Umgegend so schön war, noch weil Amaziah und Judith sie wie ihre eigene Tochter liebten, fühlte sie sich so heimisch unter ihrem friedlichen Dache. Man denke sich ihr Erstaunen, als ihre Tante sie am Abend ihrer Ankunft zu Maria von Bethanien führte!

Die alte Christin war allein, aber sie fühlte sich nicht von der Einsamkeit bedrückt; denn ihre Erinnerungen und Hoffnungen verklärten ihr bescheidenes Heim mit himmlischem Lichte. Sie ging ihren Gästen mit einem Lächeln des Willkomms entgegen, und Naomi erschrak nicht wenig, als sie sie in Beisein ihrer Tante mit den Worten begrüßte: »Der Herr, unser Heiland segne dich, mein Kind!« Als Judith sah, was in ihrer Nichte vorging, reichte sie ihr liebevoll die Hand und sagte: »Ich habe dich hierher geführt, geliebte Naomi, um dir in Gegenwart unserer ehrwürdigen Freundin mitzuteilen, daß ich eine demütige Jüngerin Dessen bin, den du gelernt hast, als Herrn und Meister anzubeten. Gott hat deinen Onkel und mich durch das gleiche Werkzeug zur Erkenntnis der Wahrheit geführt wie dich. Seither sind mehrere Jahre vergangen; aber die Vorsicht hat uns geboten, unsern Glaubenswechsel geheim zu halten, und bei der ländlichen Zurückgezogenheit, in der wir leben, ist uns das gelungen. Wie sehnte ich mich darnach, dich, teure Naomi, in den Lehren des Christentums unterweisen zu dürfen; aber ich brachte es nicht übers Herz, mich deinen Eltern gegenüber eines Vertrauensbruchs schuldig zu machen. Bei dem Vorurteil, das dein Vater gegen die Jünger Jesu hat, fühlte ich, daß ich fürs erste nichts anders tun konnte, als für dich zu beten. Du kannst dir aber denken, wie sehr ich mich freute, als mir Maria erzählte, daß du dich zum Glauben an den Sohn Gottes bekannt habest.« Naomis Herz strömte über von Dankbarkeit, als sie der Tante Worte hörte. »Nun bin ich nicht von allen meinen Lieben innerlich getrennt,« sagte sie. »O, wollten doch mein Vater, meine Mutter und mein armer Bruder an den Erlöser glauben, um in Ihm den Frieden zu finden, der mir durch die Erkenntnis zuteil geworden ist, daß Er durch Seinen Kreuzestod meine Sünden getilgt hat! Diese Erkenntnis verdanke ich dir, geliebte Maria; denn ich fühlte dir gleich bei unsrer ersten Begegnung ab, daß du trotz Armut und Verfolgung glücklicher bist als der selbstbewußteste Jude, und ich sagte mir, daß der Friede, der in deinem Herzen regiert, nur die Frucht wahren Glaubens sein könne. Derselbe Glaube und dieselbe Hoffnung erfüllen nun gottlob auch meine Seele.«

Judith erzählte hierauf ihrer Nichte die Einzelheiten ihrer Bekehrung und Aufnahme in die christliche Gemeinde zu Jerusalem, der auch ihr Mann und ihr Sohn durch die heilige Taufe einverleibt worden waren. Naomi war nicht wenig erstaunt zu vernehmen, wie sehr die Zahl der Christen seit der Hinrichtung des Apostels Jakobus zugenommen hatte.

»Seit jenem traurigen Ereignis, dessen du dich gewiß erinnerst, Naomi,« fuhr Judith fort, »ist die Gemeinde Christi verfolgt und zerstreut worden, und diejenigen ihrer Glieder, die in Jerusalem geblieben sind, haben sich nicht mehr zu zeigen gewagt wie zu Lebzeiten ihres allgemein geachteten Bischofs. Er war der einzige Apostel, den ich persönlich kannte, obwohl ich als junges Mädchen mehrere der andern gesehen habe. Wieviel hat Maria in dieser Beziehung vor uns voraus; denn sie ist nicht nur mit den meisten der Jünger befreundet, gewesen, sondern hat sogar mit dem Meister selbst in intimem Verkehr gestanden.«

»Ja,« entgegnete Marie, »ich habe mit eignen Augen sehen dürfen, was Propheten und Könige zu schauen gelüstete, und nachdem ich Zeuge von der Erniedrigung unsers Herrn und Heilandes gewesen bin, habe ich keinen größeren Wunsch als den, nun auch, den König in Seiner Schöne zu sehen. Wenn Er wiederkommen wird in Herrlichkeit, werden Ihn aller Augen schauen, und alle werden Ihn als den Sohn Gottes bekennen. Aber ach, wie wird es dann denen ergehen, die Ihn verworfen und Seine Gnade nicht angenommen haben?«

»Was halten die Christen von Jesu Wiederkunft?« fragte Naomi »Glauben sie, daß dieselbe nahe bevorsteht?«

»Einige der Brüder erwarten sie sogar zu Lebzeiten des Apostels Johannes,« antwortete Maria. »Zu dieser Annahme gab ihnen jenes Wort Veranlassung, das Jesus seinerzeit zu Petrus sagte: Wenn ich will, daß Johannes bleibe, bis ich komme, was geht es dich an? aber der Apostel selbst hält das für ein Mißverständnis und wartet sehnlichst darauf, daß ihn sein geliebter Meister bald heimrufe.«

»Demnach lebt Johannes also noch!« rief Naomi erstaunt. »Ich glaubte, du seist die einzig noch Übriggebliebene, die den HErrn persönlich gekannt hat.«

»Allerdings steht der Apostel in sehr vorgerücktem Alter,« erwiderte Maria, »aber er ist noch verhältnismäßig rüstig, und hat nicht nur die Leitung sämtlicher asiatischer Gemeinden, sondern trägt viel zur Auferbauung der Gläubigen bei. Was stiften nur seine Briefe für Segen – und das vor allem durch den Geist der Liebe, den sie atmen! Wer hätte gedacht, daß aus dem von Natur so heftigen Jüngling ein so sanfter Mann werden könnte! Eine solche Veränderung könnte nur Jesus in ihm zustande bringen.«

»Und gottlob, daß eine ähnliche Wandlung in allen vorgehen wird, die den Heiland im Glauben erfassen, wenn sie Ihn auch mit den leiblichen Augen nicht sehen!« sagte Judith. »Zu meiner Freude durfte ich das schon an dir wahrnehmen, geliebte Naomi. Der Ausdruck stolzen Selbstbewußtseins, der aus deinen Mienen sprach, ist nicht mehr vorhanden, und dein ganzes Wesen zeigt, daß du in die Schule des von Herzen Demütigen und Sanftmütigen getreten bist und dich von Ihm unterweisen läßt.«

»Wie könnte ich noch stolz sein, nachdem mir Gott in Gnaden die Augen über mein Sündenelend geöffnet und mir gezeigt hat, was es meinen Heiland gekostet hat, mich zu erlösen! Beim Gedanken an Seine Liebe strömt mein Herz von Dankbarkeit über, und es steigt der Wunsch in meiner Seele auf, daß auch ich gewürdigt werden möchte, das Leben für Ihn zu lassen.«

»Geliebte Naomi,« warnte Maria mit sanfter Stimme: »verlaß dich nicht auf deine natürliche Liebe und Glaubensfestigkeit! Ich bitte Gott, daß du in Kraft Seines Geistes alle Proben, die, Er gut findet, über dich zu verhängen, siegreich bestehen mögest; aber ich begehre weder für dich noch für mich der Versuchungen, denen einige unserer Brüder und Schwestern ausgesetzt waren. Denke an Petrus, der trotz seiner glühenden Liebe zu seinem Meister und trotz seines Löwenmutes, im kritischen Augenblick unterlag, weil er seiner eignen Kraft vertraut hatte. Es ist dies ein Beweis von der Ohnmacht und Selbstsucht des natürlichen Herzens, und nicht umsonst hat der Evangelist Matthäus getreulich ausgezeichnet, wie schmählich die Jünger ihren Herrn in der Stunde der Gefahr verlassen haben. Zur Zeit der Kreuzigung Christi war der Geist noch nicht auf sie herabgekommen, und ohne denselben kann niemand der Versuchung wiederstehen. Wenn wir nicht von neuem geboren werden aus Wasser und Geist, so können wir nicht ins Reich Gottes kommen, wie Jesus dem Nikodemus gesagt hat. Nachdem die Apostel aber nach der Verheißung des Meisters mit Kraft aus der Höhe angetan waren, verkündeten sie die Wahrheit mit aller Freimütigkeit und gingen getrosten Mutes dem Tode entgegen. Kommt auch der heilige Geist nicht mehr in sichtbarer Gestalt auf die Jünger und Jüngerinnen Jesu herab wie am Pfingstfeste, so nimmt Er doch Wohnung in unsern Herzen, gießt Seine Liebe in uns aus und macht uns willig und tüchtig zum Dienste des Meisters.«

»Darf ich hoffen, daß durch des Herrn Gnade Sein Geist auch in meinem Herzen Wohnung genommen hat?« fragte Naomi. »Ich sehe von Tag zu Tag mehr, wie verderbt es ist, aber ich gewinne den Heiland immer lieber und wünsche nichts sehnlicher als Ihm ähnlich zu werden.«

»Die Gefühle, die du da beschreibst, sind der beste Beweis, daß der heilige Geist von dir Besitz genommen hat,« erwiderte Maria. »Möge Er in dir bleiben und dich zum Dienste des Herrn tüchtig machen, dich befestigen, stärken, gründen, so daß du bereit bist, Ihm entgegenzugehen, wenn Er kommt!«

Naomi war tief bewegt von den Worten der Greisin; sie umarmte sie schweigend und verließ dann mit Judith das Haus. Die Sonne war bereits untergegangen, als sie heimkamen, und Amaziah war in banger Besorgnis gewesen, es möchte ihnen ein Unfall zugestoßen sein, da sie so lange ausgeblieben waren. Bei den herrschenden Unruhen hielt er es für geraten, daß sie ihre Spaziergänge nicht mehr so weit ausdehnten; da er aber wußte, wie ungern sie Marias Gesellschaft missen würden, schlug er vor, daß letztere bis zu ihrer Rückkehr nach Jerusalem ihre Wohnung bei ihnen aufschlage.

Dieser Plan wurde gleich am nächsten Morgen zur Ausführung gebracht, obwohl sich Maria nur schwer von den Räumen trennte, in denen ihr geliebter Meister so gern geweilt hatte. Nur die Hoffnung, ihrer jungen Freundin von Nutzen sein zu können, vermochte sie zu der Übersiedelung zu bewegen. Sie machte daraus auch gar kein Hehl. »So lang es irgend geht, will ich in Bethanien bleiben,« sagte sie. »Ich denke, meine Tage sind gezählt, und wenn es Gottes Wille ist, beschließe ich sie am liebsten, wo ich so lang gelebt habe; doch darf ich mich nicht unvorsichtigerweise der Gefahr aussetzen, sondern wenn es nötig werden sollte zu fliehen, muß ich wie die andern Geschwister einen Zufluchtsort suchen. Amaziah und Judith werden mir sicherlich erlauben, sie dann nach Pella zu begleiten. Gott gebe, Naomi, daß ihr du und die Deinen unserm Beispiel folgt, um dem Untergang zu entgehen!«

»Mein Vater wird Jerusalem nicht verlassen, so lang ein Stein auf dem andern steht, und meine Mutter wird sich keinesfalls von ihm trennen. Du wirst daher verstehen, daß auch ich bleibe, teure Maria. Mein Platz ist bei meinen Eltern. Wenn Unglück über sie hereinbricht, wird es ihnen ein Trost sein, mich um sich zu haben, und wenn der Tod sie ereilen sollte, kann ich ihnen wenigstens die Augen schließen. Was mich persönlich betrifft, so hat der Tod seine Schrecken für mich verloren. Ich weiß, an wen ich glaube, und überdies möchte ich weder meine geliebten Eltern noch den Untergang unserer Stadt überleben.«

»Ich bin überzeugt, der Herr wird dir zeigen, was du zu tun hast wenn der Augenblick kommt, dich zu entscheiden,« entgegnete Maria. »Zur Zeit halte ich es ebenfalls für das Richtige, daß du bei Vater und Mutter bleibst und nach Kräften zu ihrem zeitlichen und geistlichen Wohle beiträgst. Aber du darfst dein Leben nicht unnötigerweise aufs Spiel setzen. Der Herr hat dich in Gnaden zu Seiner Erkenntnis gebracht; zum Danke dafür mußt du dich Ihm nun aber auch zum Dienste weihen, so lange Er es für gut findet, dich auf Erden zu lassen. Für den Gläubigen ist der Augenblick, da er in den Armen seines Heilandes entschläft, allerdings Wonne und Seligkeit; aber trotzdem haben wir alle Ursache, Ihn für jeden Tag zu preisen, den Er uns schenkt, und ihn zu seiner Verherrlichung zu benützen.«

Ehe Maria Zeit hatte, etwas zu erwidern, kam ihr Vetter Theophil mit der Nachricht von dem plötzlichen Erscheinen der Idumäer unter den Mauern Jerusalems. Unter diesen Umständen hielt es Amaziah für angezeigt, mit seinen Angehörigen so bald wie möglich nach Pella aufzubrechen. Nach dem ihr durch Theophil übermittelten Wunsche ihrer Eltern sollte sich Naomi ihnen anschließen. Letztere hätte am liebsten die Gefahren ihrer Eltern geteilt; doch freute sie sich andererseits der Gelegenheit, die sich ihr in Pella bot, den christlichen Gottesdiensten beizuwohnen und durch die heilige Taufe in die Gemeinde der Gläubigen aufgenommen zu werden.

Den ganzen Winter über dauerten die inneren Zwistigkeiten in Jerusalem fort, so daß von Naomis Heimkehr keine Rede sein konnte; aber zu ihrer Freude erhielt sie wenigstens von Zeit zu Zeit beruhigende Nachrichten von den geliebten Eltern und Claudia. O, wie inbrünstig flehte sie um deren Bekehrung, damit sie nicht auch den schrecklichen Gerichten anheimfielen, die nach Gottes Wort über diejenigen kommen sollten, die die Gnade in Jesu Christo verschmähten!

Sie selbst erstarkte von Tag zu Tag im Glauben; die einfachen schönen Gottesdienste gingen ihr tief zu Herzen. Nicht selten fanden dieselben des Nachts in irgend einer abgelegenen Felsenhöhle statt, wo die verbannten Gläubigen, geschützt vor den Angriffen der Juden, ungestört ihre Loblieder ertönen lassen konnten. Naomis Verlangen, durch die Taufe in die Gemeinde Christi ausgenommen zu werden und am heiligen Abendmahle teilnehmen zu dürfen, wuchs von Tag zu Tag. Nach gründlicher Unterweisung in der christlichen Heilslehre und nachdem sie auch durch ihren Wandel Zeugnis von der Echtheit ihres Glaubens abgelegt hatte, wurde ihr Herzenswunsch erfüllt. Wie freute sie sich, öffentlich ihren Heiland bekennen zu dürfen! Auch war sie fest entschlossen, ihren Eltern gleich bei ihrer Rückkehr nach Jerusalem mitzuteilen, daß sie sich zum Christentum bekehrt habe und demnach die jüdischen Zeremonien nicht mehr mitmachen könne. Sie kannte deren Vorurteile gegen die Nazarener wohl, und der Gedanke an ihren Kummer ging ihr tief zu Herzen; aber sie vertraute ihrem Heiland, daß Er sie durch alle Versuchungen und Proben hindurchtragen werde; denn bei der Gewissenhaftigkeit, mit der in ihrem Vaterhause auf pünktliche Beobachtung des Gesetzes gehalten wurde, war es unmöglich, ihren Glauben geheim zu halten – sie hätte denn zur Heuchlerin werden müssen.

Nach Aufnahme der jungen Christin in die Gemeinde durfte sie am heiligen Nachtmahle teilnehmen. Dasselbe wurde in der ersten Christenheit etwas anders gefeiert als heutzutage. Vor der Einsegnung von Brot und Wein vereinigten sich Arm und Reich als Brüder und Schwestern zum Abendessen und nahmen gemeinsam die auf Kosten der Gemeinde bereiteten Speisen. Es war das das sogenannte Liebesmahl.

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Besonders auffallend war Naomi die große Einfachheit, deren sich ihre neuen Glaubensgenossen, was Nahrung und Kleidung betraf, befleißigten. Ihrer Ansicht nach stimmte dies übrigens vollkommen mit den Lehren des Christentums. Wie sollten Leute, die sich hienieden als Fremdlinge und Pilger betrachten, dem Luxus huldigen? Natürlich legte sie ebenfalls ihren Schmuck ab und hätte ihn am liebsten zu Gunsten ihrer armen Brüder und Schwestern verkauft, wenn Judith sie nicht darauf aufmerksam gemacht hätte, daß sie das nicht ohne Einwilligung ihrer Eltern tun dürfe, da diese sicherlich nicht gern sehen würden, daß das Geld Leuten zu gute komme, die sie für unwürdig hielten, die gleiche Luft mit ihnen zu atmen.


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