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Der Winter war beinahe vorüber, und die Römer rüsteten sich zur Wiederaufnahme des Feldzugs. Die Juden, die sich in Vespasians Lager geflüchtet hatten, drängten zur Belagerung der Hauptstadt; aber der römische Befehlshaber hielt es für geratener, zuerst das übrige Land zu erobern. Er und sein Feldherr Placidus nahmen Gadara, Bethanabris, die Gegend östlich vom Jordan, ganz Perea und die Küste des roten Meeres bis hinab nach Machaerus.
In einer klaren Mondnacht schritt ein römischer Soldat einsam am Ufer entlang und ließ den Blick traurig über die Trümmerhaufen gleiten, die beredten Zeugen der Strafgerichte Gottes über Sein abtrünniges Volk. Marcellus – denn er war es und kein anderer – fühlte, daß die Zuchtrute des Allmächtigen über die Gegend hingegangen war, und tiefe Wehmut erfüllte sein Herz, das schon den ganzen Tag über unter den Grausamkeiten gelitten hatte, die er mitansehen mußte. Er hatte als Römer für den Ruhm seines Vaterlandes gefochten, aber als christlicher Soldat auch des Erbarmens nicht vergessen, obwohl ihn seine Kameraden der Schwäche und Feigheit beschuldigt hatten. Nun hatte er die Einsamkeit aufgesucht, um ungestört mit seinem Gott reden zu können. Von einer Felsenhöhe aus sah er in weiter Ferne Jerusalem liegen und seine Gedanken flogen zu Naomi. Ach, daß er Gelegenheit hätte, sie und die Ihrigen zu retten! Das vom Messias geweissagte Los Jerusalems lag ihm schwer auf der Seele; denn niemand außer denen, die Jesum als ihren Heiland und Erlöser angenommen hatten, sollten nach dem Worte des Herrn entrinnen. Er kannte Zadoks Unbeugsamkeit inbezug auf die Religion seiner Väter und fürchtete, daß Naomi seine Verachtung der Nazarener teilte. Und was sollte aus seiner Schwester werden? Bisher hatte Rufus nicht Gelegenheit gefunden, sie ins Lager zurückkommen zu lassen; wenn Vespasian sich also entschloß, Jerusalem anzugreifen, so mußte sie die Belagerung mit durchmachen.
Marcellus war so sehr von seinen traurigen Gedanken hingenommen, daß er das Geräusch nahender Fußtritte nicht bemerkte und wie aus einem Traume emporschreckte, als ihm plötzlich die Spitze eines Schwertes entgegengehalten wurde und die barsche Frage an sein Ohr drang: »Wer da?« An der Stimme erkannte er ohne Mühe Zadoks Sohn Javan, und es war ihm sofort klar, daß derselbe auf irgend eine Weise aus dem Lager entronnen war und nun nach Jerusalem zu kommen suchte.
»Bist du es, Javan?« sagte er. »Stecke dein Schwert in die Scheide, denn von mir hast du nichts zu fürchten. Aber, was tust du hier?«
»Ich bin auf der Flucht begriffen, Marcellus. Hätte ich irgend einen andern Römer in dieser dunklen Schlucht hier getroffen, so müßte ich ihn ohne Erbarmen niedermachen; aber ich vertraue dir, obwohl du ein Heide bist!«
»Ich habe keine Gewalt über dich, sonst wäre es meine Pflicht, dich zur Rückkehr zu zwingen,« entgegnete Marcellus. »Du hattest geschworen, daß du das Lager nicht verlassen werdest; willst du dein gegebenes Wort nicht halten und mit mir umkehren?«
»Ist ein Jude verpflichtet, ein einem Heiden gegebenes Versprechen zu halten?« fragte Javan geringschätzig. »Das Leben und die Freiheit eines Sohnes Abrahams sind weit mehr wert als hunderte solcher Versprechungen. Die schlauen Römer verdienen es nicht, daß man ihnen Wort hält.«
»Jedem rechtlich denkenden Menschen ist sein Wort heilig,« erwiderte Marcellus. »Der allmächtige Gott, der Zeuge deines Versprechens gewesen ist, wird dich nicht für schuldlos halten, wenn du es brichst.«
»Was hast du mit dem allmächtigen Gott Israels zu tun, Marcellus? Und wie kommt es, daß du Seinen Namen so ehrerbietig aussprichst?«
»Das kommt daher, daß ich Ihn als den Herrn der Heerscharen und den König aller Könige kennen gelernt habe, und weiß, daß Er alles sieht und alles hört, ja daß kein Gedanke vor ihm verborgen ist. Ich würde daher die Gefangenschaft und selbst den Tod weniger fürchten als eine wissentliche Übertretung Seiner heiligen Gebote.«
»Wenn auch du den wahren Gott kennen gelernt hast, Marcellus, so sind doch deine Landsleute Heiden. Wie gesagt, einem Juden würde ich mein Wort nicht brechen, aber einem Heiden gegenüber mache ich mir kein Gewissen daraus. Lebe wohl, Marcellus; unsere nächste Begegnung wird wohl vor den Mauern Jerusalems stattfinden.«
»Da du denn doch entschlossen bist zu gehen, laß uns wenigstens als Freunde scheiden,« antwortete Marcellus, indem er Javan die Hand reichte. Dieser schlug ein, griff aber zugleich ans Schwert, als fürchte er, der junge Römer führe Verrat im Schilde.
»Du kennst mich nicht, Javan,« sagte letzterer mit einem Anflug von Wehmut. »Ich hoffe, es wird das dereinst anders werden. Sei meiner Schwester Claudia ein Bruder, bis wir sie in Sicherheit bringen können. Grüße sie und auch Naomi, die ich wie eine zweite Schwester liebe. Sage ihr, daß ich jederzeit bereit bin, für sie und die Ihren das Leben aufs Spiel zu setzen.«
In dem Ton der Stimme und dem ganzen Benehmen des jungen Römers lag etwas so besänftigendes, daß sich Javan dessen Einstich nicht entziehen konnte und freundlich erwiderte: »Verzeih daß ich dir mißtraut habe, Marcellus; du hast dich mir gegenüber immer edelmütig gezeigt. Ich werde meiner Schwester deinen Auftrag bestellen, wenn ich auch hoffe, daß sie des Schutzes eines Römers niemals bedürfen wird. Sollte es dennoch der Fall sein, so würde ich sie keinem Angehörigen deines Volkes lieber anvertrauen als dir.«
Die beiden jungen Männer trennten sich mit einem Händedruck, und jeder ging seines Weges.
Nachdem Placidius die Eroberung von Perea beendigt hatte, harrte er in der Umgegend von Jericho eines neuen Marschbefehls seitens Vespasians. Die römischen Truppen rückten Jerusalem immer näher, so daß Pella Zadok kein sicherer Aufenthaltsort mehr zu sein schien, und er seinen Bruder bat, mit Judith und Naomi nach Jerusalem zu kommen. Amaziah konnte sich der Meinung seines Bruders nicht anschließen, da Jesus selbst das Städtchen Seinen Jüngern als Zufluchtsort angewiesen hatte, aber weil Naomi ebenfalls nach Hause drängte, traf er sofort die nötigen Vorbereitungen, um die Tochter zu ihren Eltern zurückzubringen. Judith und Maria wurden während seiner Abwesenheit bei Freunden untergebracht.
Als Naomi im Elternhause anlangte, war Zadok gerade im Tempel, aber ihre Mutter, sowie Claudia und Deborah begrüßten sie mit überströmender Zärtlichkeit, und des Fragens wollte kein Ende werden. Unter traulichen Gesprächen verlief eine Stunde um die andere, bis endlich Zadoks Stimme im Hausflur erschallte. Wie liebevoll schloß Zadok die lang entbehrte Tochter in die Arme, und mit welcher freudigen Bewegung nahm letztere den Segen des Vaters entgegen! Dennoch konnte sich Naomi einer gewissen Bangigkeit nicht erwehren, wenn sie dachte, daß die ihr in so reichem Maße entgegengebrachte Liebe sich vielleicht gar in Haß verwandeln könnte. Sie war fest entschlossen, ihren Eltern ihre Bekehrung freimütig zu bekennen, und auch Amaziah war mit der Absicht gekommen, seinem Bruder mitzuteilen, welche Umwandlung mit ihm und seiner Frau vorgegangen war, und ihn zu bitten, auch seinerseits die christlichen Wahrheiten eingehend zu prüfen. War auch nicht viel Hoffnung vorhanden, daß Zadok sich werde überzeugen lassen, so wollte er wenigstens seine Schuldigkeit ihm gegenüber getan haben.
Nach dem Abendessen versammelte Zadok die Seinen zum Gebete um sich, und kein christlicher Gottesdienst hätte mit mehr Lauterkeit des Herzens gehalten werden können als diese jüdische Familienandacht. Naomi beteiligte sich von ganzem Herzen an derselben, konnte sich aber des Eindrucks nicht erwehren, daß Gebeten, die Gott nicht im Namen Jesu dargebracht werden, das Wesentliche fehle; sie schloß daher jede Bitte mit den ihr so teuren Worten: »Um Jesu, deines lieben Sohnes, willen.«
Ohne daß sie es wollte, sprach sie sie plötzlich laut aus, so daß alle Anwesenden sie hörten. Im selben Augenblick gab sie sich Rechenschaft von dem, was sie getan hatte, und als sie von den Knieen aufstand, begegnete sie dem erstaunten, ängstlich forschenden Blick ihres Vaters. Sie hatte ihn am nächsten Tage um eine Unterredung bitten wollen; nun aber wußte sie, daß ihr Geheimnis entdeckt war. Schwankenden Schrittes ging sie auf Zadok zu, sank vor ihm auf die Kniee und sagte, indem sie den Saum seines Gewandes ergriff: »Ja, mein Vater, ich habe den Namen des Herrn Jesus Christus angerufen. O, verstoße mich nicht, wenn du hörst, daß ich trotz meiner Unwürdigkeit in Dessen Nachfolge getreten bin!«
Was sich bei diesem Bekenntnis seines Kindes in den ernsten Mienen des Priesters aussprach, läßt sich nicht in Worten wiedergeben. Im ersten Augenblick war er wie gelähmt; dann aber behielten die gewohnten Vorurteile und sein Priesterstolz die Oberhand über jede weichere Regung; ein Blick tiefster Verachtung traf Naomi, und der ins innerste Herz getroffene Vater riß sich von seinem Kinde los, um in der Einsamkeit seines Zimmers über das Entsetzliche nachzudenken, das geschehen war. Amaziah vertrat ihm jedoch den Weg und sagte: »Verschließ dein Herz nicht gegen deine Tochter; und höre auch, was ich dir zu sagen habe. Der Glaube, zu dem sich Naomi soeben bekannt hat, ist seit mehreren Jahren schon der meinige und der meines teuren Weibes, und wir sind zum Teil die Werkzeuge gewesen, deren sich Gott bedient hat, um dein Kind tiefer in die erfaßte Wahrheit einzuführen.«
»Tor, der ich gewesen bin!« rief Zadok, »daß ich meinen Schatz so lange aus meiner Obhut gelassen habe. Aber, wie hätte ich denken können, daß mein Bruder meine Liebe auf diese Weise vergelten werde? Hättest du Naomi ein Schwert ins Herz gebohrt, so wäre mir das weniger schrecklich gewesen, als daß du ihr die Lehren jenes betrügerischen Nazareners beigebracht hast. Ich hatte meine ganze Hoffnung auf sie gesetzt, und was ist nun aus ihr geworden? Ein Fluch, ein Schandfleck für ihre Familie, eine Abtrünnige! O Gott Israels, räche Deinen heiligen Namen und laß nicht zu, daß diese Nazarener die Lämmlein Deiner Herde rauben! Bring mein Kind zur Religion ihrer Väter zurück, damit sie nicht von ihrem Volke ausgestoßen werden müsse!«
Zadok sprach mit der ganzen Leidenschaftlichkeit eines Hebräers. Seine Hände waren fest ineinander gepreßt, seine Augen schossen Blitze, und er zitterte an allen Gliedern. Salome blickte bald auf ihn, bald auf ihre noch immer auf den Knieen liegende Tochter, deren rabenschwarzes Haar aufgelöst über Gesicht und Nacken herabhing und die Tränen verbarg, die unaufhaltsam über ihre Wangen liefen. Sie teilte ihres Mannes Entrüstung nicht, sondern beugte sich zu dem heißgeliebten Kinde nieder und versuchte es aufzuheben. Naomi aber wollte nicht aufstehen.
»O Mutter!« rief sie in namenlosem Weh, »hat mich der Vater nicht verflucht? Laß mich hier liegen bleiben, bis er wieder den Segen über mich gesprochen hat!«
»Er hat dir nicht geflucht, meine Naomi,« entgegnete die Mutter; »er hat nur seine Entrüstung über deinen Religionswechsel ausgesprochen. Sobald du ihm sagen wirst, daß du auf seine Lehren hören und dir Mühe geben willst, auf den rechten Weg zurückzukehren, wird er dich wieder segnen und der Friede wird wieder in unserm Hause einziehen. Ich will Fürbitte bei ihm für dich einlegen, und ihm in deinem Namen versprechen, daß du die heilige Religion deiner Väter wieder zu der deinen machen willst.«
Tränen erstickten ihre Stimme und sie kniete neben ihrer Tochter nieder. Zadok konnte das nicht ohne tiefe Bewegung sehen; er hob sie vom Boden auf und sagte: »Um deinetwillen, Salome, verzeihe ich unserm Kinde; aber als Tochter werde ich sie erst wieder anerkennen, wenn sie auf die von dir gestellten Bedingungen eingeht und mir feierlich verspricht, daß sie nie mehr den Gott der Nazarener anrufen wird. Tust du das, Naomi, so steht mein Herz dir wieder offen, und ich schließe dich mit Freuden in meine Arme.«
Schon war die Vaterliebe im Begriff, den Sieg über die Priesterwürde davonzutragen, da erhob sich Naomi und sagte mit bebenden Lippen, aber fester Entschlossenheit: »Du verlangst, daß ich meinem Glauben entsage, mein Vater. Eher könnte ich am hellen Mittag sagen, die Sonne scheine nicht, als in Jesus von Nazareth nicht den Abglanz der Herrlichkeit Gottes sehen. Es war finster in meiner Seele, mein Herz war hart wie Stein, hochmütig und friedelos, als ich vor einigen Monaten mit einer greisen Jüngerin Jesu zusammentraf, die mir von der Macht und Liebe sowie von den Wundertaten ihres Meisters erzählte. Als ich hörte, wie Er den Thron Seines Vaters verlassen und Sein Leben freiwillig in den Tod gegeben hat, um die sündige Menschheit wieder mit Gott zu versöhnen, ist mir ob solcher Liebe und solchen Erbarmens das Herz gebrochen, und die frühere Verachtung hat einer tiefinnigen Dankbarkeit gegen Jesum Platz gemacht. Könnte ich noch meine eigne Gerechtigkeit aufrichten wollen, nachdem der Sohn Gottes Sein heiliges Leben in den Tod gegeben hat, um mich von meinen Sünden zu erlösen? Könnte ich noch mein Vertrauen auf Kälber- und Bocksblut setzen, nachdem des Messias Blut vollkommene Sühnung für mich getan hat? Ich habe Jesum als Herrn und Christ aufgenommen, und Er hat meiner Seele Frieden geschenkt. Nie und nimmermehr werde ich Den verlassen, der Sein Leben für mich hingegeben hat! Nie und nimmer werde ich den Namen Dessen verleugnen, in Dem allein Heil und Seligkeit zu finden ist!«
Naomis Mut war mit jedem Worte gewachsen. Sie mußte staunen über ihre Kühnheit, aber mehr noch über die Geduld, mit der ihr Vater sie anhörte. Endlich sagte letzterer: »Wollte Gott, du wärest so fest für die Wahrheit und die Religion deiner Väter eingestanden, wie du für die neu angenommenen Irrtümer einstehst! Ich kann es nur aufs tiefste beklagen, daß das Übel schon so tief in deinem Herzen wurzelt. Mein Herz ist zu sehr verwundet, als daß ich dir im Augenblick so antworten könnte wie ich möchte. Geh in dein Zimmer und bleibe dort, bis ich morgen zu dir komme oder dir den Rabbiner Joazer schicke. Kehrst du zu dem Glauben deiner Väter zurück, so soll alles vergeben sein – wo nicht, so schenke mir Gott Kraft, Seinen heiligen Satzungen gemäß, dich als abtrünniges Familienglied aus dem Hause zu entfernen, sollte mir auch das Herz darüber brechen!«
Mit diesen Worten verließ Zadok den Saal und zog sich in sein Zimmer zurück, um die Nacht hindurch mit Gott um die Seele seines Kindes zu ringen. Niemand in der Familie begab sich zur Ruhe. Salome und Claudia hofften Naomi überreden zu können, auf die Wünsche ihres Vaters einzugehen, und Amaziah blieb zur Unterstützung seiner Nichte; auch hoffte er, seine Worte möchten nicht ohne Einfluß auf Salome und Claudia bleiben. Hätte Zadok um die Unterredung gewußt, die in einem der anstoßenden Gemächer stattfand, so hätte er derselben ohne Zweifel ein Ende gemacht; denn er hätte um keinen Preis geduldet, daß seine sanfte Frau eine Verteidigungsrede der Lehre der Nazarener von den beredten Lippen seines Bruders anhöre. Salome hatte nie ihres Mannes und Javans Haß gegen Jesum geteilt; im Gegenteil, obgleich sie ihn für einen Gotteslästerer hielt, hatte sie sich doch eines Gefühls der Bewunderung für Ihn und Seine Jünger nicht erwehren können.
Was Claudia betraf, so hatte sie viel weniger Vorurteile zu überwinden, als ihre jüdischen Freunde. Sie hatte, dem Rate ihres Bruders zufolge, in den letzten Monaten viel in der heiligen Schrift gelesen, und Gott hatte das Wort an ihrem Herzen gesegnet, so daß die Wahrheiten des Evangeliums, die ihr in jener Nacht nahe gebracht wurden, ihres Eindrucks auf sie nicht verfehlten.