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Fünfzehntes Kapitel.

Theophil saß traurig und einsam in seiner finstern Zelle. Der Gedanke an den nahen Tod hatte nicht Macht, seine Seele zu erschüttern, aber die Angst, daß seine teure Claudia nicht am Glauben festhalten könnte, war ihm ein tiefer Schmerz. Er fühlte, daß seine Traurigkeit überhand nahm, je länger er über die gemachte bittere Erfahrung nachdachte, und nahm seine Zuflucht daher zum Gebet. Während er zum Herrn flehte, Er möge sich Claudias in besonderer Weise annehmen, hörte er Schritte nahen. Die Riegel der schweren eisernen Tür wurden zurückgeschoben, und zu seiner großen Freude stand im nächsten Augenblick Naomi vor ihm. Bewegt drückten sie sich die Hand, und dann erzählte das junge Mädchen, was sie zu ihm führte. Wie freute sich der aufrichtigen Reue Claudias! Nun konnte er wenigstens mit der Hoffnung aus der Welt scheiden, daß er alle seine Lieben dereinst Wiedersehen werde.

»Sage ihr, daß alles vergessen ist, Naomi,« bat er. »Die tiefe Reue, die sie empfunden hat, beweist mir, daß sie ihren Heiland nie wieder verleugnen wird. Sie hat die Erfahrung gemacht, was es für Jammer und Herzeleid zur Folge hat, wenn man irgend etwas zwischen sich und seinen Gott kommen läßt, und ich bitte den Herrn, Er möge sie so befestigen im Glauben, daß sie selbst nicht wankt; wenn es ihr beschieden sein sollte, den gleichen Weg zu gehen wie ich. Und nun, geliebte Naomi, laß uns noch einmal miteinander die Kniee vor Gott beugen!«

Nachdem sie gebetet hatten, sprachen sie von diesem und jenem, was Theophil auf dem Herzen lag; dann kam der Kerkermeister, um Naomi zu ihrem Vater zurückzuführen. Als sich die Gefängnistür hinter ihr geschlossen hatte, konnte sie die so lange zurückgehaltenen Tränen nicht länger bemeistern. Auf den Arm ihres Vaters gestützt, dachte sie über die schwere Führung des begabten, liebenswürdigen jungen Mannes nach, der so recht der Stolz und die Freude seiner Eltern gewesen war, und ihr Vater störte sie nicht in ihrem traurigen Sinnen; denn auch er war trüb gestimmt und hatte nicht einmal den Trost und die selige Hoffnung, an denen sein Kind sich immer wieder aufrichten konnte.

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Plötzlich ließ sich die Stimme des Unglückspropheten vernehmen: »Wehe, wehe, Jerusalem!«

Naomi schrak zusammen und zog ihren Vater in den Schatten eines Torganges; aber der geheimnisvolle Mann folgte ihnen und rief, indem er den Bück durchbohrend auf sie heftete: »Wehe dir, Zadok, Sohn Aarons! Wehe deinem ganzen Hause, und wehe auch dir, junge Tochter Zions! Dein Stern wird unter- aber auch wieder aufgehen. – Eine Stimme gegen Osten! Eine Stimme gegen Westen! Eine Stimme aus den vier Winden ruft: »Wehe, wehe, Jerusalem!«

Zadok wollte ihn ermahnen, stille zu sein, aber er riß sich mit der Stärke eines Besessenen von ihm los und entfloh. Diese Begegnung hob natürlich Naomis Mut nicht, denn sie konnte sich des Gedankens nicht erwehren, daß ihr und den Ihrigen neue Trübsal bevorstand. Claudia, die sehnsüchtig auf ihre Heimkehr gewartet hatte, war bei allem Weh, das bei Theophils Botschaft durch ihre Seele zog, unaussprechlich dankbar für die Versicherung seiner Vergebung. Es war, als sei ihr eine schwere Last von der Seele genommen, und ihr Glaube an die Sache, die Theophil im Begriffe stand, mit seinem Blute zu besiegeln, wurde neu belebt.

Am nächsten Tage, dem Tage, an dem der Gefangene zum letzten Male verhört werden sollte, verließ Amaziah schon in aller Frühe das Haus, um, wie er seiner Frau sagte, einen letzten Versuch zur Rettung seines Sohnes zu machen. Zadok, Javan und Isaak begaben sich in die Ratssitzung, welche ausnahmsweise in einem Lokal des Gefängnisgebäudes stattfinden sollte. Isaak, der sich um die Hand Marias von Bethezob beworben hatte, weil ihn nach deren Reichtümern gelüstete, hatte der jungen Witwe auf vieles Bitten hin versprochen, sein mögliches zu tun, um Theophils Verurteilung zu verhindern; denn sie hatte ihm feierlich erklärt, wenn der junge Mann nicht freigesprochen werde, wolle sie nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Das Verhör begann mit der Frage Isaaks an den Gefangenen, ob er die ihm geschenkte Gnadenfrist gut benützt habe und bereit sei, Jesum von Nazareth als einen Betrüger anzuerkennen, der die gerechte Strafe für seine Verbrechen erlitten habe.

Theophil zögerte einen Augenblick mit der Antwort; dann sagte er mit einer würdevollen Ruhe, die seinen Feinden geradezu imponierte: »Möge Gott dir, Isaak, und deinen Kollegen die soeben geäußerte Gotteslästerung in Gnaden vergeben!« Im Aufblick zu Ihm erkläre ich hiermit feierlich, daß Jesus von Nazareth der Sohn des allmächtigen Gottes, der verheißene Messias und Heiland der Welt ist. Sein Tod war schon vor Grundlegung der Welt von Seinem Vater zur Sühnung der menschlichen Schuld bestimmt und ist durch den Hochmut, die Grausamkeit und den Unglauben der Juden herbeigeführt worden, die Ihn durch Mörderhand gekreuzigt haben. Ich habe mich Dem hingegeben, Der für mich gestorben ist, auf daß Er mich rette, heilige und verherrliche. Sollte ich Ihn nun aus Todesfurcht verleugnen? Nimmermehr; – Seine Liebe hat mir das Herz genommen und ist mir mehr wert als alles, was die Welt zu bieten vermag!«

»Ist das dein letztes Wort, Theophil?« fragte Javan sichtlich beunruhigt; »willst du wirklich an Leib und Seele zu Grunde gehen und auf ewig vom Erbteil Jakobs ausgeschlossen werden?«

»O Javan!« entgegnete der Gefangene, »ich frage dich meinerseits: bist du wirklich so verstockt, daß du das Heil Gottes verachtest? Meinst du, ich ließe die Retterhand wieder fahren, die sich mir entgegengestreckt und mich dem Verderben entrissen hat? Nein, Javan, der Himmel tut sich mir auf; ich gehe nicht zurück. Für Fleisch und Blut ist das, was vor mir liegt, furchtbar, aber der Stecken und Stab Jesu meines Heilands werden mich auf dem Gange durchs finstere Todestal stützen. Ich verzeihe euch allen von Herzen und werde bis zu meinem letzten Atemzug für euch beten. Möget ihr, wenn eure Todesstunde naht, denselben Führer haben wie ich und, von Ihm geleitet, dem Siege entgegengehen!«

Ein Murmeln ging durch den Saal, und manche Stimme drückte Bewunderung und Mitleid für den heldenmütigen jungen Mann aus. Zadok befürwortete warm seine Freisprechung, und Isaak unterstützte ihn darin, ohne damit den Beschluß des Rates zu ändern, welcher dahin lautete, daß jeder dem Tode verfallen sei, der sich als Jünger des gekreuzigten Nazareners bekenne.

Plötzlich öffneten sich die Türen des Saales und Amaziah erschien an der Spitze einer wohlbewaffneten Schar mit dem Rufe: »Ich werde dich retten oder mit dir sterben, mein Sohn!«

Es entstand ein namenloser Tumult. Ohne sich offen auf Amaziahs Seite zu stellen, bot Isaak alles auf, die. Verwirrung zu vermehren. Zadok vergaß seiner Amtswürde und ermunterte mit Wort und Gebärde die zu Theophils Befreiung Herbeigeeilten; aber es war alles umsonst.

Amaziahs Plan war Javan verraten worden, und letzterer hatte die nötigen Vorkehrungen zu dessen Vereitlung getroffen. Auf einen Wink des Sohnes Zadoks waren die in Bereitschaft stehenden Soldaten zur Stelle; Amaziahs Leute waren im Nu entwaffnet, Theophil in Gewahrsam gebracht und die andern Nazarener vorgeführt. Da dieselben bereits verhört waren, wurde ihnen nur noch angekündigt, daß sie am nächsten Morgen im Gefängnishofe enthauptet werden sollten. Theophil, der nach Räumung des Saales wieder hereingeführt worden war, begegnete bei Verlesung des Todesurteils Javans Blick und war erstaunt über den Ausdruck warmen Interesses, der aus demselben sprach. Kaum waren jedoch die Gefangenen in ihre Zellen zurückgebracht, so erhob sich Zadoks Sohn und beschuldigte Isaak des Verrats an der Religion seiner Väter und seiner Partei. Die Beweise, welche er vorlegte, waren so schlagend, daß der Angeklagte sein Spiel für verloren gab und hastig den Saal verließ. Eine Stunde später stand er vor dem Haupteingang des von den Zeloten und Idumäern besetzten Tempels und verlangte deren Anführer Johannes von Giscala zu sprechen. Er wurde sofort zu ihm geführt und mit Freuden als Verbündeter ausgenommen.

Javans Entrüstung über Isaaks Verrat an seiner Partei war groß. Er hatte ihn in alle seine Pläne bezüglich Simons von Gioras eingeweiht und wußte, daß dieselben scheitern mußten, wenn sein Erzfeind Johannes von Giscala davon Kenntnis erhielt. Seine einzige Hoffnung auf Erfolg lag darin, daß er Simon mit seinen Truppen in Jerusalem einließ, ehe Johannes von Giscala Zeit hatte es zu verhindern. Nur sollte Amaziah vorher die Stadt verlassen haben. Dem Fanatismus und der Rachsucht des jungen Israeliten waren durch Theophils Verurteilung Genüge getan, und seines Vetters heldenmütiges Benehmen hatten ihn zu der Überzeugung gebracht, daß die Nazarener nicht durch Leiden und Verfolgungen unterzukriegen waren. Er wollte daher nicht, daß noch sein Onkel verhaftet werde, und auch Zadok bot seine ganze Überredungskunst auf, um letztern zur schleunigen Flucht zu bewegen. Amaziah, der sich der Gefahr, in der er schwebte, wohl bewußt war, war im Begriff, den Bitten seines Bruders zu willfahren, aber Judith war nicht zu veranlassen, die Stadt zu verlassen, so lange ihr Sohn lebte, so daß die Abreise schließlich auf den nächsten Abend festgesetzt wurde.


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