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Ein Gerichtssaal.
Zwei Räte, ein Schreiber.
Erster Rat: So haben wir nun heute das Protokoll ohne unsern Herrn Präsidenten schließen müssen.
Zweiter Rat: Die Reise, die der Herr gemacht hat, war nicht länger aufzuschieben, er mußte bei der Visitation gegenwärtig sein.
Erster Rat: Dazu ist es so schönes und warmes Frühlingswetter, daß es zugleich eine Lustreise wird: die Aussichten sind unterwegs vortrefflich, die Chausseen ausgebessert, die Wirtshäuser unvergleichlich, und sein neuer Wagen der bequemste auf der Welt; da ist es nicht zu verwundern, wenn man die Geschäfte willig übernimmt, und einen ziemlichen Diensteifer sehn läßt.
Zweiter Rat: Herr Kollege, der Mann ist ein würdiger Mann, und es ist ein Glück für uns, daß er unserm Departement vorgesetzt ist: hätte einer von uns das Glück, künftig einmal diesen Posten zu bekleiden –
Erster Rat: Daran kann keiner von uns denken, dergleichen Fortun, dergleichen Karriere macht kein anderer.
Zweiter Rat: Glück? Verdienst, mein Lieber; das, was man Glück nennt, gibt es in so wohleingerichteten Staaten nicht.
Erster Rat: Nun, so nennen Sie es Zufall.
Zweiter Rat: Noch weniger. Zufall? Bester, wie vertrüge es sich mit der gesunden Philosophie, diesen zu statuieren?
Erster Rat: Je nun, leben und leben lassen: seien wir tolerant, damit andre uns auch unser bißchen Talent und Verdienst gönnen. Eins nicht ohne das andere. – Doch welch ein Getümmel draußen? Neue Parteien? Die Leute wissen ja doch, daß die Session vorüber ist. Nun, das Trappeln, das Rufen, das Streiten wird wahrlich immer ärger. Hören Sie nur die Ungezogenheit! Herr Sekretär, bedeuten Sie doch einmal den Leuten. Sekretär ab. – Meine Frau wird schon zu Hause mit dem Essen warten.
Zweiter Rat: Herr Kollege, Sie sollten sich unmaßgeblich vor dem jungen Menschen nicht so bloßgeben: er ist ja imstande, und trägt dem Präsidenten alles wieder zu.
Erster Rat: Menschenfurcht, Herr Kollege, ist mir unbekannt: ich verleumde, ich verfolge nicht, ich lasse dem Verdienst Gerechtigkeit widerfahren, aber das Glück ist doch am Ende das, was die Welt regiert. Doch Sie gehören zu den Ängstlichen, Sie sind allzu milde, auch zu fromm, und meinen gleich, man tut dem Schicksal und der Religion zu nahe, wenn man dem Glück seine Rechte einräumt.
Zweiter Rat: Nur, ums Himmels willen, klare Begriffe –
Erster Rat: Ich kann kaum mehr hören, so lärmet das Gesindel draußen. – Nun, Herr Sekretär?
Der Sekretär kömmt zurück.
Sekretär: Meine Herren Räte – ich bin außer mir – so etwas ist hier auf unserm Saal, in diesem Rathause noch nie erhört worden – ich dachte erst, es wäre ein Komödienspiel, oder ein allegorischer Aufzug, aber es ist die Wirklichkeit. –
Erster Rat: Was ist es denn?
Sekretär: Ich komme hinaus – und sehe – und erstaune – und weiß mich nicht zu fassen.
Zweiter Rat: Sie wollen ohne Not unsre Neugier spannen. –
Sekretär: Es gibt Augenblicke im Leben, wo sich unser Dasein und unsre Seele wie zum Traum verflüchtigen, wo wir einen Blick tun in die Rätsel des Universums; uns die Silbe schon wie auf der Zungenspitze schwankt, und wir in Ahndung die Auflösung schon herauskosten und -schmecken möchten, die die Scharade, die uns hienieden ängstigt, in ihrer nackten Blöße darlegen würde – und diesen Zustand hab ich jetzt erlebt.
Erster Rat: Herr Belletrist, zur Sache! Lassen Sie die neumodischen Aufstutzungen für Ihre gelehrte Gesellschaft.
Sekretär: Sie werden nicht glauben, ja Ihren Augen selbst nicht trauen – – –
Zweiter Rat: Lieber, wir verlieren die Geduld.
Sekretär: Ich komme hinaus, und sehe – was? halb schwebend, halb wandelnd, halb bekleidet, halb nackt, halb freundlich, halb ernst, auf einer rollenden Kugel, fliegend den Schleier, mit entblößten Schultern und Bein, ein weiblich Gebild, in dem ich zu meinem Erstaunen erkenne, auch sie von allen Umstehenden so nennen höre, die Fortuna, die weltbekannte, die allgesuchte, die allerwünschte.
Erster Rat: Die Fortuna? Ist es möglich?
Zweiter Rat: Das Glück? Personifiziert? Albernheit! Der junge Mensch ist dumm, abgeschmackt und abergläubisch geworden.
Sekretär: Und um sie her stehn sechs Kläger, sechs wunderliche Figuren, die sie mit Gewalt ins Haus geschleppt haben, und hier von einer hohen Obrigkeit Recht und Gerechtigkeit gegen die nichtsnutzige Person, wie sie sie im Zorne nennen, verlangen und begehren. Dies ist das Schreien und Lärmen draußen.
Erster Rat: Aber wir leben doch in einem merkwürdigen Jahrhundert, das muß man gestehn.
Zweiter Rat: Lieber, es wird die fremde Schauspielerin sein, die um Konzession anhält: halb bekleidet, halb nackt, halb lächelnd, halb ernst, halb schwebend, halb wandelnd, alles paßt aufs Haar, und der Phantast weiß nicht, was er spricht.
Sekretär: Verdutzt, angepflöckt, stand ich am Treppengeländer, als ich von neuem das Gerümpel hörte, das vorher die Herren störte und betäubte; und, was war's? Ein kleiner dicker Kerl, mit groben Gliedern, schlecht gekleidet, mit starken Stiefeln und tüchtigen Absätzen, der sich damit abgibt, nicht anders zu gehn, als indem er radschlägt; dieser poltert zum Zeitvertreib die Treppe auf und ab: die Dame Fortuna rief nach ihm, als nach ihrem Bedienten, der dumme Kerl rappelt herauf, bald Kopf oben, bald unten, schlägt so gegen mich, der ich hingerissen oben lehne, wirft mir die harten Absätze gegen das Haupt, und mich selbst eiligst die Treppe hinunter, die ich, wie mir es schien, im raschen anapästischen Maß abpurzelte, und noch von den langen Anschlagssilben die Beulen am Kopfe habe. Die Göttin sagte, der Zufall habe mich hinabgestürzt, und ich verwunderte mich still über die unverschämte Lüge.
Zweiter Rat: Da haben wir's, der Mensch ist auf den Kopf gefallen, und spricht im Wahnsinn.
Sekretär: Ich will die Dame hereinlassen, so können Sie sich selbst überzeugen.
Es treten ein die sechs Kläger, Fortuna, ihr Diener, der im Hereintreten ein Rad schlägt.
Erster Rat: Ums Himmels willen, was ist das? Wer sind Sie? Wo kommen Sie her? Was wollen Sie?
Die Kläger: Hier bringen wir endlich –
Erster Kläger: Schweigt! laßt mich reden. – Wir bringen hier vor Ihren Richterstuhl das falsche Weib, welches mich, so wie alle jene Menschen, durch ihre Bosheit unglücklich gemacht hat.
Zweiter Kläger: Immer will er noch kommandieren und herrschen. Diese Gewohnheit scheint tief im Menschen zu wurzeln, und schwer auszurotten.
Erster Rat: Wir wissen immer noch nicht, wen wir vor uns haben.
Erster Kläger: Diese Frau heißt Fortuna, die Göttin des Glücks, die uns aber alle, wie wir hier sind, höchst elend gemacht hat; es ist uns gelungen, sie einzufangen, und wir übergeben sie hiermit dem löblichen Magistrat, um sie abzustrafen.
Erster Rat: Ganz wohl. Herr Sekretär, führen Sie das Protokoll.
Erster Kläger: Vor vielen Jahren schon war ich genannt, gerühmt, und in allen Unternehmungen glücklich, man gab mir Gewalt und hob mich höher und höher, ich ward der Herrscher des Volks, und nun, als mein Glück beginnen sollte, als ich die Früchte aller meiner Anstrengungen genießen und mich als Monarch fühlen wollte, ward ich gestürzt, und mir wieder aus den Händen gerissen, was ich kaum errungen hatte; nun bin ich das Sprichwort der Welt, das Gelächter der Toren, der Spott des Volks.
Fortuna: Er spricht die Wahrheit, aber er vergißt zu sagen, daß er mir wohl seine Erhebung zu danken, doch mich nicht wegen seines Sturzes zu beschuldigen hat. Hätte er mit Weisheit meine Gunst gebraucht, sich nicht durch Willkür und Tyrannei verhaßt gemacht, durch Treulosigkeit die Freunde entfernt, durch Hochmut und Falschheit sich Feinde erweckt, hätte ihn sein Glück, statt ihn weise und vorsichtig zu machen, nicht zum wahnwitzigen Dünkel geführt, so daß er die Klugheit von sich stieß, sich sein eigner Götze ward, und so selbst seinen Untergang herbeirief, so glänzte er noch mit meinen Gaben, und meine freigebige Güte umkleidete ihn noch. – Seht, er steht stumm und weiß nichts zu sagen.
Zweiter Rat: Das läßt sich hören.
Sekretär: Liegt Moral in dieser Antwort, die Frau zeigt Belesenheit und Bildung.
Erster Kläger: Kein Wort werde ich gegen euch Elende verlieren. Geht ab.
Zweiter Kläger: Was aber soll ich sagen? Welche Bestrafung des bösen Weibes soll ich begehren? Denn in mir hat sie sich nicht bloß an einem einzelnen Wesen, sondern an der ganzen Menschheit versündigt. Doch, was sage ich? Immer wieder behaupte ich, daß sie gar nicht existiert, oder daß ich ihr nichts zu danken habe, sondern alles mir selbst und meinem großen Genie.
Erster Rat: Machen Sie sich deutlich: worüber klagen Sie denn?
Zweiter Kläger: Freund, ich war der größte, der berühmteste Weltweise und Denker, mein Name flog von Pol zu Pol, meiner Schüler waren unzählige, meiner Verehrer so viel es Menschen gab; Journale, Zeitungen waren voll von meinem Lobe, man nahm meinen Namen zum Motto, mein Bildnis zum Aushängeschild – ich dachte und dachte, untersuchte, unterschied, bis endlich durch einen unglücklichen Zufall –
Diener: Holla! ho! was soll das nun wieder?
Zweiter Rat: Warum mengt Er sich denn hinein?
Diener: Ich? Weil ich keine Schuld daran trage, und meinen ehrlichen Namen nicht so will verlästern lassen.
Erster Rat: Sprech Er mit, wenn Er gefragt wird.
Diener: Mit einem Wort, der gute ehrliche Herr, den Fortuna mit einem unvergleichlichen Ingenium ausgestattet hatte, ließ sich nicht genügen, er strebte über sein und das Ziel der Menschen hinaus, ward hoffärtig, leugnete Gott und Welt, am Ende sich selbst, schnappte richtig über, ward Schwärmer und Zweifler, ging alle Narrheiten durch, und kommt nun, da ihm das Rädlein im Kopf abgelaufen ist, und sagt, der Zufall habe getan, was er allein verschuldet hat.
Fortuna: Eigendünkel hat ihn verleitet, die Mäßigkeit zu verachten, die auch im Sinnen und Dichten nur die rechte Bahn findet; aus Hochmut hat er selbst die Spiegel in seinem Innern zerschlagen, in denen er das Verhältnis der Welt und sich selbst betrachten konnte; was seine Sünde getan, soll ich büßen, die ich ihn mit Wohltaten überschüttet habe.
Erster Rat: Diese Untersuchung gehört nicht vor unser Forum, hier mangeln die Tatsachen, dies psychologische Problem muß auf andre Art aufgelöst werden.
Zweiter Rat: Ist der Herr Weltweise denn wirklich toll und unbrauchbar geworden? Kann er keine Vorlesungen mehr halten? Schreibt er nicht mehr?
Diener: Ganz ruiniert ist er, manchmal rasend, immer dumm: also zu gar nichts mehr zu brauchen.
Sekretär: Sehr merkwürdig, daß sich der Geist, oder sozusagen die inwendigen Springfedern und Ressorts so anstrengen können, daß sie vor zu gespannter Elastizität diese ganz verlieren. Sie sind also jetzt ohne alle Einsichten, Herr Philosoph?
Zweiter Kläger: Dummkopf! Ich ohne Einsichten? Ich, der tiefsinnigste der Menschen?
Sekretär: Warum klagen Sie denn also?
Zweiter Kläger: Weil – weil – Bester, wer sitzt gern im Narrenhause? Dahin hat man mich unter dem Vorwande geliefert, ich sei nicht bei mir selber – und wenn ich auch dunkle Augenblicke haben sollte –
Sekretär: Ah so! Treten Sie mir nicht so nahe, ich fürchte mich vor tollen Menschen. Es steckt außerdem an, wie Sie werden gelesen haben, und wer weiß, ob ich nicht jetzt gerade sehr reizbar und empfänglich bin.
Zwei Wächter treten herein.
Erster Wächter: Nichts vor ungut! wir suchen unsern Narren, der uns entsprungen ist. – Ei, da steht er ja und spekuliert. – Kommen Sie nur im guten, lieber Mann.
Zweiter Kläger: Gern, die ganze Welt ist ja ein Narrenhaus.
Zweiter Wächter: Richtig, darum gehn so vernünftige Leute wie Sie gleich vor die rechte Schmiede, um nicht lange vergeblich anzufragen.
Sie führen ihn ab.
Dritter Kläger: Hören Sie mich an, meine Herren, und lassen Sie sich nicht mit Verrückten ein. Was mich betrifft, so werden Sie gewiß einsehen, daß mich die falsche Frau unglücklich gemacht hat. Sie hat mich reich gemacht, das ist wahr, aber wie elend neben meinem Reichtum? Kannst du es leugnen, du Falsche, daß ich mit der innigsten Dankbarkeit deine Gaben annahm? Bewillkommte ich nicht den ersten Goldhaufen wie einen Gott in meinem Hause? Kniete ich nicht vor dem Glanz? Schloß ich ihn nicht in mein innerstes Herz? Kann ein Mensch, können Geschwister, Verwandte, Freunde sagen, daß ich ihrer seitdem gedacht, einen geachtet und geliebt? Hat noch ein andres Gut der Erde meine Seele an sich gezogen? Nein, ganz und ausschließend ergab ich mich diesem; er war mein Herr, ich sein Knecht. Aber hat dieser Herr mich, so treu ich ihm war, gütig behandelt? Half es mir, daß ich vor ihm kniete und ihn anbetete? Nein, er gönnte mir keine Ruhe in der Nacht, keine Freude am Tage, ja keinen Bissen Brot; seht selbst, wie ich zum Gerippe geworden bin. Nun hab ich nicht Frau noch Kinder, keine Geschwister, noch Verwandte, nicht Freunde und Teilnehmende, und dieses Geld selbst quält und martert mich, und ist mein Verfolger, sosehr ich es auch liebe.
Erster Rat: Es scheint, Bester, Sie haben keinen guten Gebrauch von den Reichtümern gemacht, die Ihnen das Schicksal gönnen wollte; nach Ihrer eignen Beschreibung sind Sie äußerst geizig, und dafür kann dann freilich die gute Göttin nicht.
Zweiter Rat: Wenn Sie aber mit Wohlhabenheit so gesegnet sind, wie Sie selbst sagen, so könnten Sie viel für das Vaterland und diese unsre gute Stadt in ihren Bedrängnissen tun, wenn Sie zu billigen oder gar keinen Zinsen ein Kapital uns anvertrauen wollten.
Dritter Kläger: Ist das das Ende vom Liede? Ich empfehle mich, da kein Recht noch Gerechtigkeit hier zu finden ist. Geht ab.
Erster Rat: Sonderbare Menschen! Was gibt es denn noch zu klagen?
Vierter Kläger: Seht mich an, meine Herren! Nicht wahr, ich bin ein Schauspiel zum Erbarmen? Ein Bein verloren, einen Arm zu wenig, den Kopf bepflastert und voll Wunden, die Nase lädiert, ein Auge ausgestoßen, und mein ganzer noch übriger Leichnam so dick vernarbt, wie die Rinde einer alten Eiche. Bei jeder Wetteränderung spüre ich meine Wunden. Ist's nicht kläglich?
Erster Rat: Warum sind Sie aber so zerhackt und fragmentiert worden?
Vierter Kläger: Richtig, ein Auszug, eine Epitome eines Menschen bin ich nur noch, eine abgekürzte Übersicht, eine philosophische Reduktion, denn was ich nur irgend habe entbehren können, was nicht zum äußersten Bedarf war, hat man mir abgenommen: und wer ist schuld, als jene böse Sieben, die mir Stärke und Tapferkeit verlieh, mich aber dafür so wie eine gestutzte Weide hat behauen lassen.
Fortuna: Nicht ich! dieser Mann konnte sich begnügen mit dem Ruhm seines Mutes; aus vielen Gefechten war er glücklich und unbeschädigt gekommen, er war ein geliebter Anführer; aber er konnte nicht ruhen, wo er nur von Händeln und Kriegen hörte, mußte er zugegen sein, er selbst stritt und zankte mit jedem, es war nicht anders, als fiele sein eigner Körper ihm zur Last, und so hat er dem Glück und Schicksal Trotz geboten, und nur er selbst sich beschädigt.
Erster Rat: Dies läßt sich hören –
Vierter Kläger: Was läßt sich hören? Ein Narr ließ sich eben hören, und wenn ich nicht mehr bedächte – Teufel! ich wollte euch mit dem Degen so um die Ohren schlagen – hätt ich nur noch meinen ehemaligen rechten Arm, so solltet ihr andre Dinge sehn. Geht ab.
Fünfter Kläger: Sehen Sie in mir einen sehr alten, alten Mann; ich bin nun schon über die Maßen alt, und habe die traurige Aussicht, noch viel älter zu werden, denn das ist die elende Gabe, die ich von jener Frau erhalten habe, ein unendlich langes Leben zu führen. Ich kann ihr nicht dafür danken, denn ich habe nie gewußt, wie ich meine Zeit zubringen soll: sehn Sie, es ist doch eigentlich sehr langweilig, so zu leben und immerfort zu leben, es fällt genaugenommen nicht viel Neues vor, ja genau besehn, ist das, was die Leute etwas Neues nennen, immer schon etwas Altes. Wie soll man nur ein so langes Leben hinbringen? Alles ermüdet mich, alles ekelt mich an. Ich weiß nicht, wie so viele ein hohes Alter ein Gut nennen können. Und doch will ich freilich auch nicht gern sterben. Gähnt. Nicht wahr, ich bin recht unglücklich?
Erster Rat: Lieber, alter, langweiliger Mann –
Fünfter Kläger: Sagen Sie nichts, ich bitte Sie recht sehr, schon vorher hat mich alles das Sprechen herzlich gelangweilt, ich habe es auch nur vergessen fortzugehen; aber jetzt soll mich nichts mehr aufhalten, vielleicht ist draußen, oder auf der Straße etwas, das mir besser gefällt. Geht.
Sechster Kläger: Alle sind fortgegangen, und es scheint wohl, daß wir hier kein sonderliches Recht finden werden. Wenn Sie mich ansehen, so werden Sie noch jetzt die Spuren finden, daß ich ein sehr schöner Mann gewesen bin, aber gerade diese Gabe der Dame Fortuna hat mich unglücklich gemacht, denn alle Menschen sind mir aufsässig geworden, die Weiber haben mich gehaßt, die Männer verachtet, die häßlichsten erbärmlichsten Geschöpfe machten neben mir Glück, meine Verdienste wurden nie bemerkt, darüber bin ich ein Menscheinfeind und Verächter aller Geschöpfe geworden, stehe einsam und verlassen im Alter da, und fluche dem Geschenk, welches mir die Frau zu meinem Verderben zugeteilt hat.
Erster Rat: Aber, mein Herr, vielleicht haben Sie durch Eitelkeit und Hoffart die Menschen von sich gestoßen –
Sechster Kläger: Recht so! das ist auch so eine Nase, solche platte Physiognomie, die mitsprechen, die sich etwas herausnehmen will, wo unsereins auftritt, die wir doch den Stempel des Überirdischen, des hohen Menschlichen wenigstens empfangen haben; aber solch pockengrübiges, verzacktes und schief ausgeschnittenes Gesicht, wo die Gartenschere beim Silhouettieren ausgefahren ist, weil ein boshafter Geist den Bildner an den Ellenbogen gestoßen hat; solch gekrümmtes, versessenes, verstudiertes Wesen –
Erster Rat: Ich weiß nicht, mein Herr, warum ich diese Grobheiten dulde, und den veralteten, mit Moos überzogenen Herrn Antinous nicht –
Sechster Kläger: Sie sind unter mir, ich entferne mich, um mich nicht zu vergessen, denn man soll immer nur mit seinesgleichen streiten. Ab.
Erster Rat: Grobes Gesindel –
Fortuna: Sie sehn selbst, mit welchem Unrecht ich geschmäht bin, und ich danke Ihnen für den geleisteten Beistand. Schwebt hinweg.
Sekretär: Sehn Sie, sehn Sie doch die artige Tournure, den allerliebsten Pas, die graziöse Wendung, mit der die Holdselige zur Tür hinausschwebt.
Diener: Leben Sie wohl. Will gehn.
Sekretär: Wer ist Er denn eigentlich?
Diener: Der Diener, der Begleiter, der lustige Gesellschafter der Dame. Wollte ich klagen, so fände ich gar kein Ende, denn wie ich auf Erden verlästert und verleumdet werde, ist nicht mit Worten auszudrücken. Fällt einer auf die Nase, so hat es der Zufall verursacht, brennt ein Haus ab, stürzt ein Mensch aus dem Fenster und bricht den Hals, geht ein Schiff zu Grunde, platzt einem Soldaten das Gewehr: wer hat alles dies veranstaltet? der Zufall! Am auffallendsten war es mir neulich, als ich hörte, einem sei durch einen Zufall das Maul aufstehn geblieben; Unsinn und kein Ende! Täglich hört man: durch einen Zufall ging die Tür auf: nein, wenn sie zugeschlagen wird, meine Herren, wenn das Maul zusammenklappt, dann ist es ein Zufall, anders nicht; der Fuchs und Wolf werden in den Eisen nur durch einen Zufall gefangen, wenn es der Jäger auch noch so künstlich veranstaltet hat; die Maschinerie der Mausfallen beruht einzig auf einem Zufall: darauf bitte ich in Zukunft Rücksicht zu nehmen.
Sekretär: Bester, Er spricht Unsinn, für den vernünftigen Menschen gibt es gar keinen Zufall.
Diener: So? Weg da! Platz da! Er schlägt Rad, wirft die Tische um, und kollert zur Tür hinaus.
Sekretär: Himmel und Erde! Sehn Sie, Herr Rat, alle Skripturen, meine saubern Abschriften, die großen Tintenfässer drüber- und hineingegossen, die Tintenflaschen zerbrochen, alles ein schwarzes Meer, in welchem alle Buchstaben, alle Beweise, alle Protokolle, wie Pharao mit seinem Gefolge ersoffen sind.
Erster Rat: Der Bösewicht!
Zweiter Rat: Was soll man denken? Soll man dies einen Zufall nennen?
Sekretär: Ich bin ganz dumm geworden und irre an mir selbst; und nun alles wieder ins reine zu schreiben! Und wer es nur lesen könnte! Wir müssen die Akten aus allen Fenstern hinaushängen, daß die Sonne sie wieder trocknen kann.
Der Präsident tritt herein.
Präsident: Was gibt es hier für Verwirrung, meine Herren?
Erster Rat: Wir hatten hier das sonderbarste Verhör von der Welt, Herr Präsident; sechs Kläger brachten in diesen Saal niemand anders herein, als die Göttin des Glücks, die berühmte Fortuna, ihr folgte ein wilder fataler Kerl als Diener, der Zufall, der hier auch alles durcheinandergeworfen hat, so daß wir viele Mühe werden anwenden müssen, um die alte Ordnung wiederherzustellen.
Präsident: Wie? Und Sie haben die Leute wieder fortgelassen? Himmel! festhalten hätten Sie sie müssen; die Frau hätte uns Weisheit abgeliefert für ewige Zeiten, bis zu den letzten Kanzellisten hinab wären Sie alle Salomos geworden, und Geld, Geld, welches wir alle so höchst nötig brauchen, um unsre Verbesserungen in den Gang zu bringen: eine lebendige, unerschöpfliche Münze hätte sie uns werden müssen. Und den Zufall, den verderblichen, der oft die besten, klügsten Plane vernichtet, der so oft aller Weisheit spottet, der schon so viel Unheil über die Welt gebracht hat, ihn hätten wir bei Wasser und Brot dort im tiefsten Loch des Turmes festgesetzt, man hätte ihn so nach und nach verkommen und verderben lassen, daß kein Hahn darnach krähte. Denken Sie doch, welchen Ruhm! welchen Nutzen wir unserm Vaterlande, ja der Menschheit gestiftet hätten! Das vergebe ich Ihnen niemals, meine Herren: war keine Wache da, so mußten Sie zum allgemeinen Besten selber zugreifen.
Zweiter Rat: Wir dachten nicht daran, wir haben nicht den praktischen Blick, das schnelle Genie, welches den Herrn Präsidenten vor allen Staatsbeamten so sehr auszeichnet.
Erster Rat: Der Herr Präsident tragen ja den Arm in einer Binde? Ihnen ist doch kein Unglück begegnet.
Präsident: Eine kleine Verletzung, die nichts zu bedeuten haben wird. Hier draußen vor der Stadt, nahe am Tore, ist mir etwas höchst Seltsames begegnet: indem ich hereinfahren will, erhebt sich vor mir ein weibliches schönes Gebilde, es schien, als wollte sie in den Wagen zu mir hereinschweben, ich hätte sie halten können, aber sie flog über die Chaise hinweg, und, indem ich ihr erstaunt nachsehe, wälzt sich radschlagend ein dicker plumper Kerl in den Weg, zwischen die Pferde hinein, schlägt im Purzelbaum den Kutscher vom Sitz, macht die Pferde scheu, poltert zu mir herein, verletzt mich am Kopf, der Wagen wirft um, und indem wir uns besinnen, aufraffen, den Wagen richten, Bediente und Kutscher wieder ihre Stellen einnehmen, sind schon beide Gespenster weit weg entschwunden. Der Arm aber ist mir ausgerenkt.
Sekretär: Das war sie, das war sie, Ihr Gnaden, Fortuna und der Zufall. Ach, hätten Sie sie doch gegriffen und festgehalten, die Bösewichter.
Präsident: Höchst sonderbar. Ja, ich hätte sie nur am langen Haupthaar, am Schleier fesseln sollen, sie war mir so nahe, so – doch, gehn wir, meine Herren, schweigen wir von der ganzen Geschichte, um nicht seltsame Gerüchte und albernes Geschwätz in der Stadt zu veranlassen. Alles nährt jetzt leider die Vorurteile und den Aberglauben, man kann nicht behutsam genug verfahren. Kommen Sie.
Alle gehn ab.