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Am Fuße des Schloßberges lag das Dorf Rötteln. Es war ziemlich groß; seine kleinen, hellen Häuser schauten freundlich zwischen den jetzt noch unbelaubten Bäumen hervor. Mitten im Dorf, auf einem großen Platze, erhob sich das Kirchlein, umgeben von dem Gottesacker.
Tiefe Stille ruhte über Dorf und Burg Rötteln; die Mitternacht war vorüber. Hin und her drang ein schwacher Lichtschein aus einem der Häuschen – dort hatte der unheimliche Gast Einzug gehalten, und vergebens kämpften die Menschen gegen ihn an.
Gräfin Edelgundis und der Pater waren erst nach Mitternacht heimgekehrt; jetzt saß Rubertus in seinem Gemach, hatte vor sich auf dem Tisch sauber geschnittene Bogen Papier liegen, das Schreibzeug stand daneben, und eifrig glitt der gespitzte Kiel über das Papier.
*
Burg Rötteln, am 14. April
Anno Domini 1271.
»Es ist gut, so der Mensch auf seiner Pilgerschaft durch dies Erdenleben einen vertrauten Freund hat, dem er sein Herzen ausschütten kann und weiß, es ist gleich also, als ob er kein Wort verloren hätte, dieweil alles in der Brust des anderen verschwiegen ruhet wie im Grabe.«
Also sprach Pater Hieronymus eines Abends zu mir, da wir beide im Klostergarten zu Einsiedeln nach der Abendandacht saßen. Ein duftiger Frühlingstag war es, gleich dem heutigen, gewesen; jetzt wehte von den Bergen her ein kühler Wind, und über den Spitzen schoben sich die Abendwolken zusammen. Schweigend hörte ich der Rede meines ernsten Freundes zu.
»Aber«, fuhr er nach etlichen Minuten fort, »nicht allen ist das Glück beschieden, einen wahren Freund ihr eigen zu nennen. Des öfteren hat man es erfahren müssen, daß selbst die treuesten Freunde im Mißverständnis sich abwandten, – und was dann? Da gibt's einen Ausweg, Rubertus, und solchen merke dir: Tagebuchblätter sind die verschwiegensten Freunde, und sie verstehen auch nimmer falsch. So dir eine schwere Zeit begegnet, Rubertus, und dir stehet kein Freund zur Seite, so vertraue dein Leid den verschwiegenen Blättern an, und du wirst dich leichter fühlen. Vergiß aber nimmer, daß der verschwiegenste Freund unser Erlöser und Heiland selber ist. Da kannst du dich geben, wie du bist, und sicher sein, daß du nie mißverstanden wirst. Nur, was du mit ihm besprechen kannst, solches vertraue den Blättern an, und bedenke, alles, was du dich scheust, ihm mitzuteilen, ist ein Unrecht und muß bekämpft werden.«
Oftmals gedachte ich solcher Worte und habe den Federkiel zur Hand genommen und – wieder fortgelegt, – – heute aber drängt es mich, zu schreiben. Hab' gar mancherlei erlebt in diesen Stunden! Eine Seuche ist im Dorf; sie nennen sie die Valentinskrankheit. Allüberall wütet sie, drüben in Brombach, in Riehen und anderswo. Gräfin Edelgundis und Elisabeth gingen nach dem Abendimbiß hinab zum Dorf; ich begleitete sie. Im ersten Haus, da wir eintraten, rang der Vater mit dem Tode, eine Tochter von zwanzig Jahren lag auf dem Schragen. Verzweifelt kniete an der Leiche ihr Verlobter. Er hatte mich noch rufen wollen, ihr die letzte Ölung zu geben – der Tod war schneller gewesen! Mein Herz tat mir weh bei all dem Jammer! Aber ich konnt' ihm zusprechen, daß der Allmächtige auch ohne solch Sakrament einer Seele gnädig sei, so sie an ihn geglaubt hat, und wollt' noch mehr sagen, als Gräfin Edelgundis mich bat, ihre Tochter heim zu geleiten. Ihr mocht doch bang geworden sein beim Anblick der Leiche!
Schweigend gingen wir durch die Nacht; da hob Elisabeth an: »Pater Rubertus, warum läßt Gott so viel des Leides über ein Haus, ein Herz ergehen, so er doch ein Gott der Liebe genennet wird?«
»Eben weil er ein Gott der Liebe ist, Herrin, tut er solches«, entgegnete ich gedankenvoll; »er will das Menschenherz lösen vom Irdischen, daß es sich erschließe dem Himmlischen. Solange noch das Herz mit einem Faden an die Welt gekettet ist, bestehet die Gefahr, das Irdische möge es schließlich wieder ganz umstricken. Da sind alsdann Leid und Schmerz die Messer in Gottes Hand, um solche Fäden zu zerschneiden. Schauet die Efeuranken in unseren Wäldern an. Sie ranken sich am Boden hin; ihre feinen Wurzeln dringen in die Erde. Da kommt der Sturm; er reißt die zarte Ranke los, und nun lernt sie sich um den starken Baum zu schlingen und ihn zu umziehen. So alsdann wieder ein Sturm daherbrauset, ist sie geborgen; der Baum trägt sie. Sehet darin das Bild eines Menschen, der es durch Leiden gelernt hat, daß das Kreuzesholz unseres Erlösers besser ist, um sich daran zu halten, denn alles auf Erden.«
Einige Augenblicke schwieg sie und erwiderte dann lebhaft: »Es gibt aber auch Ranken, die lassen sich nimmer dazu bringen, die Erde zu verlassen und sich am starken Baum zu halten, und andere gibt's, die wurzeln kaum mit einer Wurzel am Boden; sie streben sogar von selbst danach, zur Höhe zu kommen.«
»Wehe den ersten«, antwortete ich ernst. »Ihr wisset wohl, Herrin, wie es solchen ergehet: sie werden schließlich zertreten und von den Tieren vernichtet. Wohl aber den anderen, sie bleiben zur Zierde des Baumes und werden erhalten.«
Sie sah mich erstaunt an. »Ihr redet so ganz anders, denn sonsten ein Pater«, sagte sie, »woher kommt solches?«
»Ich sage es Euch ein andermal, Herrin, nicht heute.«
Sie nickte und streckte mir die Hand hin; wir waren am Burgtor angelangt. »Ich verstand Euch doch gut«, sprach sie leise, »und ich danke Euch! So mich ein Schmerz treffen wird, will ich der Efeuranken gedenken und lernen, mich nur um so fester ums Kreuzesholz zu schlingen.«
Der Torwächter ließ sie ein, und ich eilte schnellen Schrittes ins Dorf zurück. Etliche Stunden später kehrte ich mit der edlen Frau heim, beruhigten Herzens und dankerfüllt. Bei dem Vater war die Gewalt des Fiebers gebrochen; Balthasar aber, der Verlobte des toten Mädchens, sagte mir, da wir gingen: »Hochwürden, Ihr tatet mehr an mir in dieser Nacht, denn sonsten je ein Mensch getan hat oder tun wird. Ihr habt mich gelehret, Gott zu erkennen und an seine Liebe zu glauben, wenngleich er uns zu Boden schlägt. Ihr habt mich dem Leben zurückgegeben, – ohne Euer Dazwischenkommen hätt' ich's mir genommen, noch diese Nacht! Euch haben die Heiligen gesandt, mir zu helfen, – o habet Dank!«
Wie danke ich meinem Gott solches! Ob unser Abt sonderlich erbaut gewesen wäre, so er mich diese Nacht hätt' reden hören? Glaub' kaum! Und doch, hätt' ich von anderem reden können, denn von der großen Liebe, die da ruft: Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken? Hätt' ich von anderem reden können, denn von dem gütigen Vater, der jedes seiner Kinder zu sich ziehen will durch Leid und Weh? Und die innewohnende Kraft solcher Lehre zeigte sich wieder an dem Mann, der zwar gebeugt, aber still und ergeben neben der toten Braut stand.
*
Der Pater legte die Feder hin; ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Er legte den Kopf an die Lehne des Stuhles und versank in tiefes Nachdenken.
Er gedachte jener Zeit, da ihm zum ersten Male Zweifel aufgestiegen waren, ob die Lehre seiner Kirche in allem das Wahre enthielte, dieweil doch so manches, das er nicht im Worte des Hochgelobten fand, von ihr gelehret wurde. Er war darob in schwere Gewissensbedrängnis geraten und hatte sich in seiner Not an Pater Hieronymus, einen der ältesten Mönche im Kloster, gewandt, um ihm sein Herz auszuschütten.
Der hörte ihm mit feinem Lächeln zu und sprach alsdann: »Ja, du hast recht! Gleichwie zu den Zeiten unseres Erlösers die Pharisäer viel Menschenwort zum Gotteswort getan, also ist es auch zu dieser Zeit und in unserer Kirche. Du aber und ich, wir beide sind nimmer berufen, zu erforschen, wo Gotteswort aufhört und Menschenwort anfängt, noch aufzudecken, was an Überflüssigem sich eingeschlichen hat. Das bedarf anderer Geister, denn wir sind. Wir wollen uns aber am heiligen Gotteswort halten, wie ich es schon lange und du jetzt droben in der Bibliotheka gefunden hast, und weiter forschen nach dem wahren Weg des Heils. Und so sich dir trostbedürftige Seelen nahen, so sprich ihnen von der bereitwilligen Hilf' und Fürsprach' der Heiligen zum zweiten; zu allererst rede von der Liebe des barmherzigen Erlösers, zu dem wir jederzeit persönlich nahen dürfen ohne Vermittlung anderer! So du aber von dieser großen Liebe zu anderen reden willst, mußt du sie allererst in ihrer vergebenden Kraft in deinem Herzen kennengelernt haben.«
So hatte Pater Hieronymus gesprochen, und Rubertus bewegte es in seinem Herzen. Dann kam jene Zeit, wo er auch an sich erfuhr und verstehen lernte, wovon der Pater geredet hatte, und nun saß er täglich mit Hieronymus gebeugt über der Bibel, um durch sie den Willen des Hochgelobten zu erkennen.
Auf diese Weise vergingen etliche Monde. Eines Morgens kam Rubertus zu dem Pater in die Zelle und sprach: »Nimmer hält's mich in den Klostermauern! Ich möcht' draußen in der Welt wirken unter denen, die dem Heil ferner sind denn ich, – ich will zum Abt und ihn bitten, mir eine Stelle als Kaplan oder Leutepriester zu geben.«
Hieronymus schaute ihn lange an, dann sprach er langsam: »Warte, warte, bis dir der Höchste selbsten den Weg zum Leben draußen weisen wird. Geschieht das, so wirst du im Segen wirken, sonst gerät es dir und anderen zum Unheil. So wie du heut vor mir, stund ich einsten vor meinem Abt mit demselben Begehr. Hätt' er mich nimmer fortgelassen, es wär' besser gewesen – – hör' auf mich und warte in Geduld.«
Und Rubertus blieb und wartete, – – ach welch ein köstlich und – schwierig Ding ist das rechte Warten! Rubertus wartete, – – zuerst mit viel Ungeduld, dann mit mehr Ruhe und endlich mit Ergebung in Gottes Willen.
So verstrich ein Jahr, und fast hatte er jetzt vergessen, was einst ein glühend Begehren in ihm gewesen war, da ließ ihn der Abt rufen und erklärte ihm in kurzen Worten: »Wenn die Sonne zum dritten Male die Erde grüßt, ziehest du als Burgpriester nach Rötteln, dem Schloß im Wiesetal. Der älteste derer von Rötteln, Graf Walter, hat hergesandt. Ich fand dich passend für die Stell'.«
Mit blitzenden Augen stürzte Rubertus zu Hieronymus und konnte ihm nicht schnell genug die Neuigkeit verkünden. Der hörte still zu; doch als Rubertus den Namen Rötteln nannte, sprang er hastig auf und schritt zum kleinen Fenster. Er schwieg noch, als Rubertus längst geendet, und wendete sich erst um, wie ihm der junge Mönch leise die Hand auf den Arm legte.
»Rötteln?« fragte er, und als Rubertus nickte, sprach er weiter: »Ich kenne die Burg im Wiesetal nicht, aber doch weckt ihr Name Erinnerungen in mir, die besser ungeweckt blieben! Geh jetzt, mein Sohn, laß mich allein, – möge auf deinem neuen Lebenswege Segen erblühen!«
Rubertus ging; über seine große Freude war der erste kleine Schatten gefallen. Aber es war nur ein kleiner Schatten gewesen, und frohe Zuversicht und Heiterkeit strahlten aus seinen Augen, die sonst so ernst dreinschauten, als er am letzten Abend Pater Hieronymus gegenübersaß.
Sie reden miteinander von diesem und jenem, bis endlich der Pater zu dem scheidenden Bruder sprach: »Mein Ausspruch über Rötteln mag dich gewundert haben, – und das mit Recht. Ehe du nun heute scheidest, will ich dir sagen, was mein Vermächtnis nach meinem Tode an dich ist. Dort in der Lade findest du zu unterst Tagebuchblätter; nimm sie und verbrenne sie, nachdem du sie gelesen hast. Du bist mir lieb gleich einem Bruder. Unsere Seelen fanden sich, so sollst du auch mein Leben kennen, – doch erst, so ich nicht mehr bin. Du gehest morgen in die Welt, aus der man dich einst zu uns brachte, und du gehest gerne. Heut lasse ich dich unbesorgt ziehen, – vor einem Jahr wär's nicht der Fall gewesen! Heut bist du gereifter, und nun wirst du zum Heil der Mitmenschen und mit Vorsicht aus dem Born schöpfen, der sich dir und mir hier in der Stille erschlossen hat.
Eins aber bitt ich dich: sei vorsichtig! Gunst und Ehrbezeugungen der Hohen dieser Welt und schöne Frauenaugen sind schon manchem edlen und reinen Herzen zum Fall gediehen! Hüte dich, und so du Gefahr merkest, so fliehe! Hat die Welt dir aber weh getan, lernest du den Schmerz da draußen kennen, so komm heim, in den stillen Klostermauern wird's auch alsdann wieder in dir stille werden. Und nun geleit' dich Gott.«
Am anderen Morgen, als die Mönche zur Frühmette im Chor der Kirche vereint waren, hatte Rubertus die Reise angetreten durch Schnee und Eis, durch Sturm und Kälte, geleitet von mehreren Knechten, die der Rötteler Herr mit Rossen zu seiner Begleitung gesandt hatte.
So langten sie am dritten Tage gegen Abend in Rötteln an, zuerst froh bewillkommt von Elisabeth, der jungen Gräfin, die just über den Hof schritt, da er vom Rosse stieg.
Zwei Monde waren seitdem verstrichen; der Frühling wollte ins Land ziehen. Ihm aber war unter den so verschiedenen, doch gleich edlen Bewohnern der Burg die Zeit wie im Fluge dahingegangen. Manch Wörtlein von dem, was er in der Stille des Klosters eingesammelt hatte, streute er, edlen Samenkörnern gleich, da und dort aus, und mehr denn einmal schon hatte Gräfin Edelgundis gesagt: »Wie redet Ihr so anders denn Pater Eusebius, und wie anders dringet Eure Rede in die Herzen!«
Und daß seine Worte von Segen begleitet waren, hatte er ja in dieser Nacht an Balthasar, dem verzweifelnden Manne, gar deutlich gesehen. Aber auch an einer anderen hatte er es gemerkt, das war an Elisabeth, der holden Waldblume, die hier so lieblich erblüht war.
Ja Elisabeth! Sie gemahnte ihn mit den lichten Haaren und den blauen Augen, die einem klaren Bergsee glichen, immer an die liebe Heilige, deren Namen sie trug – deutlich sah er auch deren Bild vor sich –, und nun wußte er plötzlich nicht, um welcher Elisabeth Haupt der Heiligenschein strahlte, welche von beiden ihn so hold anlächelte, – – ihm schienen es alle beide zu sein, – sie nickten, reichten ihm die Hände, – er wollte sie erfassen, er lächelte auch, – und mit diesem Lächeln um den ernsten Mund sank das Haupt an die Lehne des Stuhles, – Pater Rubertus schlief fest und tief.