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Die Galanterie Berlins, dies farbenbunte und flimmernde Treiben in den Luxuslokalen, Tanzsälen, Bars und Kaffeehäusern und an vielen anderen öffentlichen Orten hat auch seine Kehrseite. Alle galanten und besonders die zu galanten Mädchen mußten befürchten, in jene große Schar abgestempelter und zu den Staatsbürgern zweiter Klasse gerechneten weiblicher Wesen eingereiht zu werden, die »Unter Sitte« stand. Diese Bezeichnung ist ebenso volkstümlich, wie unrichtig. Die polizeiliche Abteilung, die mit den galanten Mädchen zu tun hatte, hieß zwar Sittenpolizei. In Wirklichkeit hatte sie nur wenig mit dem sittlichen Betragen der Mitbürger zu tun. Sie erfüllte in ihrer letzten Gestalt mehr die Aufgabe eines Gesundheits- und Pflegeamtes.
Die Polizei verhängte früher die polizeiliche Aufsicht strafweise. Sie war der Meinung, daß jede Person, die gewerbsmäßig Unzucht treibt, bald ansteckungsverdächtig war. Sie ließ deshalb, um die Verbreitung der Geschlechtskrankheiten zu verhindern, jede Verdächtige zwangsweise ärztlich untersuchen. Erkrankte wurden unverzüglich ins Krankenhaus eingeliefert. Die Polizei war der Meinung, daß die Mädchen nicht von selbst sich heilen ließen, sondern manche von ihnen sogar voll bösartiger Rachegefühle sagten:
»Nun gerade! Das werde ich den Männern anstreichen, daß sie mich so weit gebracht haben!«
Die Sittenpolizei hatte also weniger für die Sitte als für die Gesundheit der Bevölkerung zu sorgen. Sie zog nur solche Mädchen in ihre Behandlung, die ausschließlich die wahllose Hingabe als Beruf trieben, suchte auch die gelegentlich Wildernden in ärztliche Behandlung zu bringen, wenn sie keine genügende Gewähr für eine private Heilung boten. Da viele der Mädchen an ethischem Tiefstand, hygienischer Indolenz und bösem Willen litten, schien eine zwangsweise ärztliche Kontrolle notwendig. Wie alle menschlichen Einrichtungen hatte sie viele Mängel. Besonders in früheren Jahrzehnten ging die Polizei oft rücksichtslos vor. Später lockerte sie ihre Strenge. Jedoch glaubte sie nicht jeden Zwang entbehren zu können. Zeigten sich doch unter den etwa 10 000 in Groß-Berlin Eingeschriebenen bis in die letzten Jahrzehnte hinein immerhin 4 % Erkrankte.
In den Räumen der Polizei untersuchten fachlich ausgebildete Laborantinnen die Ausscheidungen verdächtiger Personen. Wehe, wenn sich die dunklen Ballen der Gonokokken oder die geißelnden Peitschenbewegungen der Spirochäten feststellen ließen!
Die Polizei hatte einen Ermittlungsdienst auf Straßen, Plätzen und an allen öffentlichen Orten eingerichtet, wo die gar zu gefährlichen Mädchen verkehrten. Sie suchte besonders Neulinge zu ermitteln, weil diese viel häufiger mit bösartigen Krankheiten behaftet waren. Doch wandelten sich die überwachenden Aufgaben der Polizei immer mehr in fürsorgende um.
Schon in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die Fürsorgearbeit bei der Sittenpolizei durch Wohlfahrtsvereine aufgenommen. Bis 1910 wurden die Neueingelieferten einem Geistlichem zugeführt. Auch öffneten Asyle ihre Pforten solchen Mädchen, die sich noch helfen lassen wollten. Da jedoch viele rabiate Mädchen bei dem geistlichen Zuspruch wild wurden, trat 1910 auf Wunsch der Polizei an die Stelle des Geistlichen die erste Fürsorgeschwester. Ihre Tätigkeit wuchs sich langsam zu einer Hilfsstelle aus, die 1918 mit drei besoldeten Fürsorgeschwestern besetzt wurde. Um diese Hilfsstelle zu einem Pflegeamt auszugestalten, übernahm 1921 auf die Anregung weiblicher Stadtverordneten die Stadt Berlin diese Hilfsstelle bei der Sittenpolizei.
Das Pflegeamt war anfänglich nur eine kleine städtische Wohlfahrtsstelle. Aber jede »auf dem Alexanderplatz« Vorgeführte hatte nun doch die Möglichkeit weibliche Hilfe zu erhalten.
Wie wurden die berufsmäßigen Galanten ermittelt und behandelt? Mädchen, die sich irgendwo auffallend benahmen, wurden unauffällig verwarnt, um ihnen den Rückweg in ein ordentliches Leben nicht abzuschneiden.
Erst wenn die Mädchen immer wieder auffielen, wurden sie nach dem nächsten Polizeirevier geführt, wo ihre Persönlichkeit festgestellt wurde. Meist wurden sie dann wieder entlassen. Der Sittenpolizei wurden sie gewöhnlich erst dann vorgeführt, wenn sie schon mehrmals zum Revier eingeliefert und dort ergebnislos verwarnt worden waren. Nur Mädchen von außerhalb wurden meist ohne Verzug vorgeführt, weil sonst die Zeit zu ihrer Rettung verstrichen wäre. Doch hatte nie der Sittenbeamte zu entscheiden, sondern nur der Reviervorstand. Verdächtige Mädchen, die bei ihren Eltern oder sonst gut beleumdeten Personen wohnten, wurden nur schriftlich vorgeladen und sofort wieder entlassen.
Auch jene, die nun wirklich auf dem Alexanderplatz eingeliefert wurden, erfuhren noch jede denkbare Rücksicht, wenn sie nicht schon unter Kontrolle standen. Die »Erstmaligen« wurden nicht ins Polizeipräsidium an der Stadtbahnseite entlanggeführt, wo die eingeschriebenen Mädchen zur Kontrolle kommen mußten. Sie wurden auch nur, wenn sie sich längere Zeit herumgetrieben oder sich bei Kupplern aufhielten, in dem »Blauen Wagen« transportiert. Alle andern wurden in einer geschlossenen Droschke vom Revier zur Sittenpolizei gefahren, begleitet von einem Beamten. Sie fuhren von der Alexanderstraße aus hinein, um jeden überflüssigen Makel zu vermeiden.
Die Sittenpolizei brachte sie in einem streng abgesonderten Flügel des Polizeigefängnisses unter, wo sie meist nur einige Stunden festgehalten wurden. In den letzten Jahren wurden die Neueingelieferten nur von weiblichen Beamten vernommen und untersucht. Vor allem nahm sich auch die Frauenhilfe der Neueingelieferten mit liebevollem Verständnis an und suchte zu retten, was zu retten war. Nachdem das Mädchen vernommen und untersucht worden war, besprach die Sozialbeamtin oder die Fürsorgeschwester ihre Lage mit ihr und machte eine Notiz in den Polizeiakten, was mit dem Mädchen geschehen soll: ob sie zu entlassen, ins Krankenhaus zu bringen, zu warnen oder der Kontrolle zu unterstellen war. Die weniger Belasteten und besonders die Jüngeren kamen ganz und gar zur Frauenhilfsstelle. Da wurde nun oft gefragt: »Wie lange sind Sie in Berlin?« Und oft wurde geantwortet: »Sechs Monate«. – »Wovon haben Sie gelebt?« Und da wurde selten geantwortet – nur Schweigen.
Die Jüngeren wurden möglichst in Fürsorgeerziehung gegeben. Manche wurden auch in den zahlreichen Anstalten und Rettungshäusern untergebracht, die von Vereinen und religiösen Gesellschaften unterhalten wurden.
Andre wiederum wurden in Schutzhaft genommen, weil keine andere Gelegenheit bestand, um sie unterzubringen, bis sie wieder bei den Eltern, beim Vormund oder sonst gut untergebracht waren. In vielen Fällen gelang es, ihnen durch eine bevorzugte Vermittlung beim Arbeitsnachweis eine geeignete Arbeit zu schaffen, nachdem ihre gewöhnlich bei allen möglichen Wirtinnen und an anderen Stellen verpfändeten und verstreuten Sachen herbeigeschafft waren und ein städtischer Gewerbearzt ihre körperliche Leistungsfähigkeit untersucht hatte. Nicht alle stellten sich als leistungsfähig heraus, überhaupt mußte vielfach der Arzt eingreifen. Sehr viele litten zweifellos an einem gewissen Schwachsinn. Und es war gut, daß die Frauenhilfsstelle mit der städtischen Beiratsstelle für Gemüts- und Nervenleidende zusammenarbeitete. Dort wurden viele der zahlreichen geistig minderwertigen Mädchen auf ihren Geisteszustand untersucht. Und manche der einst Galanten war froh, wenn das Irrenhaus seine ruhigen Wände für sie öffnete.
Viele kamen auf sehr romanhafte Weise zur Frauenhilfsstelle. Fand da ein junger Maler ein Mädchen im Tiergarten. Ernst und traurig stand sie und starrte ins Wasser. Er fragte, ob er ihr helfen könne. Nein, sie sei schwer krank und wolle sich das Leben nehmen. Er brachte sie zur Fürsorgestelle, wo sie einen großen Roman von Betrogensein, Ansteckung und Verlassenwerden erzählte. Die Frauenhilfe prüfte die Erzählung und fand, daß sie fast ganz und gar ein Märchen war. Und so hörte sie auch von den Eltern des Mädchens genau das gleiche, was so viele Eltern sagten:
»Lassen Sie das Mädchen laufen. Wir wollen nichts mehr wissen von ihr.«
Für viele der Eingelieferten bewirkte der Frauendienst oft beim Gericht Bewährungsfristen oder Aufschub vor der Eintragung. – Die Schwestern konnten allerdings nur in einzelnen Fällen helfen, konnten nur für jene Mädchen sorgen, die eine Hilfe haben wollten. Aber nicht alle wünschten sie. Viele waren schon zu gleichgültig und verbissen.
Diese Frauenhilfe, die zentral arbeitete für die Altberliner Bezirke, die aber auch in Charlottenburg, Schöneberg, Neukölln, Lichtenberg und Spandau bei den dortigen Sittenpolizeistellen eigene Frauenhilfsstellen unterhielt, ist der Beweis, daß die Sittenpolizei nicht mehr die barsche und rücksichtslose Institution von einst ist. Diese Abteilung wächst sich immer mehr zu einem großzügigen Pflegeamt aus, das allen Schwachen und Gefallenen, die es wollen, und bei denen es lohnt, jede Möglichkeit zum Aufstieg bieten kann.
In den Jahren nach dem Kriege wurde die zwangsweise Behandlung immer mehr gelockert. Jenen, die durch ihren Anhang oder durch ihren Zusammenhalt mit Verwandten eine gewisse Beständigkeit gewährleisteten, wurde meistens erlaubt, sich zu einem Privatarzt zu begeben und nur zu bestimmten Zeiten Atteste über ihren Gesundheitszustand einzureichen. Zustände, die noch Hoffnung auf Besserung boten sollten nicht gewaltsam zerrissen werden. Nur die Alleinstehenden mußten sich zur regelmäßigen Kontrolle einfinden. Die mit Krankheit behafteten mußten sich in die Überführung nach der von der Behörde bestimmten Heilanstalt fügen.
Diese Entwicklung von der einst so sehr strengen Kontrolle und Reglementierung zur Fürsorge ist in letzter Zeit ganz wesentlich vorgeschritten. Die Mädchen, denen das Betreten von ganz bestimmten Straßen, Zirkussen und anderen öffentlichen Orten untersagt war, dürfen sich frei bewegen. Auch dürfen sie jetzt wohnen wo sie wollen. Wenn sie von Zeit zu Zeit ärztliche Bescheinigungen über ihren Gesundheitszustand vorlegen, brauchen sie sich auch nicht mehr von Polizeiärzten untersuchen lassen. Leider gibt es aber unter diesen Mädchen manche, die genötigt werden müssen, für ihre Gesundheit zu sorgen – um nicht die Gesamtheit zu schädigen. Sie sind abgestumpft gegen Krankheit und ebenso ordnungsscheu. Wenn sie nun auch nicht mehr zum »Abstempeln« zur Polizei müssen, so wird doch die Gesundheitsbehörde sich um sie kümmern müssen. Und bei dem unzuverlässigen Wesen der Mädchen wird es nicht immer ohne Zwang abgehen. Wird die sittenpolizeiliche Kontrolle abgeschafft, so wird doch gegen strafrechtliches Verhalten in der Öffentlichkeit vorgegangen werden. Allerdings werden die Formen wesentlich freier und humaner als früher. Ist doch durch die Gesetze bestimmt worden, daß eine Reglementierung nicht mehr vorgenommen werden darf. Überwachung bleibt bestehen.
Für die Jugendlichen und Gefährdeten ist die Frauenhilfsstelle zu einem Pflegeamt ausgestattet worden. Das Amt hat eigene Räume außerhalb des Polizeipräsidiums bekommen. Alle Angestellten sind weiblich. Die von der Polizei oder anderen Stellen Überwiesenen, die sittlich oder gesundheitlich gefährdet sind, werden ebenso liebevoll behandelt, wie jene, die sich selbst melden. Eine Frauenärztin untersucht alle ins Pflegeamt kommenden. Mehrmals in der Woche hält auch eine Ärztin eine psychiatrische Sprechstunde. Mehrere Zimmer bieten den Gesunden Unterkunft, bis sie bei Verwandten oder in Heimen untergebracht worden sind oder bis sie Arbeit gefunden haben.
Dieses Pflegeamt, das in der Art arbeitet, wie die einst an die Sittenpolizei angeschlossene Frauenhilfsstelle – nur noch gründlicher und umfassender – will allen helfen, die sich helfen lassen wollen. Allen, die nicht wissen, wohin, will das Amt helfend zur Seite stehen. Die Sittenpolizei, einst eine barsche und rücksichtslose Institution, die alle herunterdrückte, die mit ihr zu tun hatten, ist also für alle überwunden, die es wollten.
Den Schwachen und Gefallenen ist die Möglichkeit zum Aufstieg gegeben.