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Nacktkunst und Nacktkultur

siehe Bildunterschrift

F. A. v. Kaulbach: Isidora Duncan in ihrer Jugend.

Um 1900 kam die Amerikanerin Isadora Duncan nach Berlin und zeigte zunächst vor Künstlern ihre neuen Tänze. Nichts von dem, was in den letzten Jahrhunderten als Kunsttanz gegolten, war zu sehen. Weder Spitzentanz noch irgendein sonst an das übliche traditionelle Ballett erinnerndes Tänzeln. Sondern Sprünge, Schreiten, Gleiten und Bewegungen, wie sie uns von antiken hellenischen Vasenbildern bekannt waren. Auch die schablonenmäßige Balletteusenkleidung, das gebauschte Röckchen um die Körpermitte und die Trikotbeine und die gepanzerte Schnürbrust, war nicht mehr zu sehen. Lose, schleierartige Gewänder ließen die biegsamen Bewegungen der Gestalt, aller Gliedmaßen erkennen. Die Beine waren weder mit Trikots noch mit Ballettschuhen bekleidet. Der Drang zum Natürlichen, zu einer neueren, freieren Schönheit hatte seinen ersten Sieg erfochten. Sie hatte diesen Erfolg zu einem beträchtlichen Teil dem Zuge zum Natürlichen und der immer stärker werdenden Abneigung gegen die verknöcherte und inhaltlos gewordene Tradition zu verdanken.

siehe Bildunterschrift

V. Arnaud: Gipfelung:
»Kolossal, wie hoch sich der Barfußtanz entwickelt hat!« –
»Ja, höher geht's nimmer!«
(Jugend 1921).

Wäre Isadora Duncan selbst mit einem feineren Körper begabt und mit mehr Grazie durchgebildet gewesen, hätte sie einen vollen Sieg errungen. Ihr Einfluß ward jedoch überall erkennbar. Der große Zug zum Natürlichen, der die Mode und das ganze öffentliche Leben der Geschlechter miteinander erneuerte, der zum Ablegen der Schleppenkleider, des Schnürkorsetts und vieler anderer Torheiten führte, der das Freibadwesen begünstigte und sogenannte Nacktklubs entstehen ließ, half ihr ganz außerordentlich. Sie konnte im Grunewald unter der Leitung ihrer Schwester eine Tanzschule eröffnen, an der auch begabte, aber unbemittelte Kinder unterrichtet, ausgebildet und verpflegt wurden.

Zahlreiche Tänzerinnen haben dann die Ideen der Duncan weitergeführt. Ruth St. Denis enthüllte fast ganz den Oberkörper und betonte in ihren rhythmischen Tänzen die weichen Reize des bewegten Leibes.

siehe Bildunterschrift

Ernst Stern: Nackt o'clock bei Pacholkes.
(Satire auf die kleinbürgerliche Auffassung der Schönheitskultur.)
(Um 1909)

Die letzte Konsequenz zog Olga Desmond auf ihren vielumstrittenen Schönheitsabenden. Sie betonte weniger den Tanz als die Schönheit des weiblichen Körpers. Sie trat in vollkommener Nacktheit auf die Bühne hinaus. Sie hatte alle falsche Scheu abgeworfen und wollte nur dem Ideal des schönen weiblichen Körpers dienen, wollte nur durch die unverhüllten Linien des weiblichen Körpers wirken. Einen Drang nach reiner, wirklicher und wahrhaftiger Schönheit wollte sie dokumentieren. Jedes Surrogat durch Schmuck oder Kleidung, jede von außen herangetragene Verschönerung sollte vermieden werden. Vielleicht war ihr das alles noch nicht bewußt; aber ihr innerer Wille führte sie. Sie wirkte durchaus nicht als eine entblößte Tänzerin, sondern als eine nackte, die durch die Ebenmäßigkeit ihrer Bewegungen ihre natürliche Schönheit offenbarte und unterstützte. Ein mit Vorurteilen zu ihrem Auftreten gekommener Kritiker mußte eingestehen: »Als sie erschien, schwebte andächtiges Schweigen hernieder und alle Zweifler verstummten. Die Keuschheit dieser Kunst ergriff aller Herzen und drang durch die dicke Kruste aller Vorurteile ... Das Gefühl des Geadeltseins ergreift jeden nicht geradezu Empfindungslosen, weil ihm hier eine Ahnung davon aufgeht, wie wunderbar groß der Schöpfungsgedanke war, als der Mensch ins Leben trat ... Manch einer gelobte sich im stillen, alles tun zu wollen, damit die Folgen des Stubenhockens und Biervertilgens wieder verschwinden. Und dann ergreift ihre Frauen die Reue, wenn das Mädchen mit ihrem bis zu den Zehen unverbildeten Körper erscheint und sie verfluchen heimlich Schnürbrust, modische Stiefel und Chaiselongue-Faulenzerei. Es können Ströme des Segens von solcher Erkenntnis ausgehen. Manch einem kommt hier zum erstenmal zum Bewußtsein, was Körperkultur ist.«

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Nackttanzverbot {Demonstration in der Wilhelmstraße).
Der Geheimrat vom Dienst: »Keine Aufregung, meine Damen! Kommen Sie rein, wir wollen uns in Ruhe unterhalten!«
(Aus der Inflationszeit.)

Das Bekenntnis zur gänzlich unverbildeten Schönheit, das Olga Desmond zum erstenmal im Januar 1909 auf einem der Schönheitsabende ablegte, hatte zweifellos ideale Werte und war eine neue fleischgewordene Verwirklichung eines ehrlichen und verfeinerten Schönheitsideals – wenn es auch den allerhöchsten künstlerischen Ansprüchen nicht immer voll genügte. Daß hier ein vergeistigtes Ziel freier und offener Innigkeit und deutscher Reinheit sich offenbarte, daß hier mehr die Schönheit als die Nacktheit betont werden sollte, ward allgemein anerkannt. Schönheit kann nur in der Nacktheit vollendet gedeihen. In Verhüllung wird sie stets alle möglichen Fehler verstecken, wird sie stets entarten. Nur die Nacktheit bietet die Gewähr für wirkliche Körperkultur.

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Nachlassen des Interesses für den Tanz.
Celly Allright: »Es mußte ja so kommen, – mehr als alles kann man nicht ausziehen!«

Körperkultur aber ist stets ein Gewinn. Sie kommt letzten Endes, wenn sie nicht übertrieben und nur Selbstzweck wird, auch dem Geist zugute. Denn ein von Natur schöner Körper, eine Schönheit, die nicht durch allerlei Nachhilfen und Täuschungen dargestellt ist, wirkt in ihrer Ehrlichkeit auf ihren Besitzer: Täuschung muß zu innerer Unwahrhaftigkeit führen.

Die Körperpflege, die damals in alle Kreise drang, förderte allgemein die weibliche Schönheit, insbesondere auch die der Berlinerin. In allen Turnkursen für Frauen vollzog sich eine Wandlung vom muskelstärkenden Turnen zur rhythmischen und harmonischen Bewegung, die dem weiblichen Körper mehr angepaßt war und seiner Schönheit diente. Das alles ging Hand in Hand mit der Mode, die nun mit gutem Grund zur beinenthüllenden, fußfreien Weise überging, die in ihren anschmiegenden Linien auch die fließenden Formen des weiblichen Körpers betonte.

siehe Bildunterschrift

Celly de Rheidt bei einem Kabarettanz um 1923.
(Beispiel von Nacktkitsch.)

Gleichzeitig erstarkte die Nacktkulturbewegung. Sie war gegen theatralische Schönheitsabende und wollte in ihren sogenannten Nackt-Logen nur die »natürliche Morgennacktheit«. Gleichgesinnte schlossen sich zu »Nacktgenossenschaften« zusammen, die im Winter in den Wohnräumen eines Genossen ihre Nacktübungen veranstalteten und im Sommer irgendwo in der weiteren Umgebung Berlins ein Fleckchen suchten, wo sie ungestört ihren Zwecken huldigen konnten. Die Schönheitsabende und diese Nacktlogen veranlaßten einen großen Presse- und Parlamentsskandal. Die Nacktlogen wehrten sich mit Erklärungen: »Wir sind moralisch reif genug, uns ohne Scheu und Verlegenheit unserer Kleidung zu entledigen, wenn die Umstände gerade ihre Abnahme erheischen. Auch da sollte man nicht eingreifen, wo sich einer einstellte mit Durst nach Schönheit und reinem Genuß. Nicht ihn und seine Gemeinde sollte man zwingen, aus trüber Quelle zu schöpfen. Verlernen sollten wir's, in Museen und Galerien erschrocken und überrot am Nackten vorbeizueilen, von dem wir noch nichts haben wahrnehmen können – bis auf das, was die Sinne reizt. Lernen sollten wir, uns zuerst von allen andern Wirkungen des Nackten ergreifen zu lassen und zuletzt erst von der sinnlichen.«

siehe Bildunterschrift

Nacktklubspiel im Freien.
(Beispiel ehrlicher Nacktkultur.)

Diese Nacktkulturbewegung wendete sich zwar gegen jede öffentliche Schaustellung von Nacktheit. In Wahrheit aber hing ihr Dasein eng mit allen diesen ähnlichen Erscheinungen zusammen. Die Darstellungen auf den Bühnen, die in den von Celly de Rheydt inaugurierten Kabarett-Nackttänzen allerdings mehr geschäftlich als wahrhaftig erschienen, wie auch die Massenvorführungen weiblicher Schönheiten in Revuetheatern – die Freibadbewegung, die Modelinie mit der Betonung des schönen weiblichen Beines – die Nacktlogen mit ihrer letzten heutigen und häufigen Konsequenz, dem ungehinderten Nacktleben auf versteckten Inseln der Havel- und Spreegewässer – sie alle hängen zusammen mit einer neuen geistigen Verfassung der Gegenwart. Sie alle haben auch ihr Teil beigetragen zu einer gewissen Verfeinerung der Galanterie des Berliners. Sie sind nur möglich geworden, weil die Galanterie des Berliners in den letzten Jahrzehnten schon verfeinert worden war. Auf dem Boden der derben und oft rohen Galanterie des Berliners von früher hätten sie nie aufkeimen können, hätten sie zu wüsten Ausschreitungen geführt, anstatt zu solcher Ergriffenheit, wie sie die Berichterstatter der Schönheitsabende bekundeten. Sie konnten nur auf eine Verfeinerung der Sitten folgen. Sie selbst verfeinerten die Sitten. Der Verkehr der Geschlechter in der Öffentlichkeit ward achtungsvoller voreinander. Die unverhüllte weibliche Schönheit ward nicht angepöbelt, sondern galant und verständnisvoll gegrüßt.


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