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Die zehnte Muse

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Die fünf Geschwister Barrisons in ihrem Temperamentsausbruch im Frou-Frou-Knietanz um 1900.

 

Zur Geschichte des Berliner Brettls

Der Bänkelsang und das erotische Lied haben bestimmt schon in früher Zeit die galanten Instinkte des Bürgers beschäftigt. Die Stellen, wo solche Lieder in theatermäßigem Rahmen erschollen, waren später die kleinen Singspielhallen und Tingeltangel mit ihren Podien, auf denen gefällige Damen mehr oder weniger galante Lieder anstimmten, mit einem Worte: die Brettl.

Die Geschichte des Berliner Brettls wird vielleicht einmal geschrieben werden. Sie läuft nicht nur neben der Tages- und Zeitgeschichte nebenher. Vielmehr ist sie mit ihr eng verknüpft.

Die dem französischen Café concert nachgebildeten Tingeltangel hat es wohl auch in Berlin schon lange gegeben, und sie haben sich sogar schließlich, wenn auch nicht immer sehr angenehm, weiterentwickelt. Auch hier hat wohl Wien mit seinen Volkssängern und Paris mit seinen Chansonetten ursprünglich zur Spree hinübergewirkt, vielleicht auch der Hafenrummel des hamburgischen St. Pauli mit seiner berühmten Reeperbahn.

Brettl aber im heutigen Sinn der Kabaretts und Kleinkunstbühnen, die sich jetzt sogar zu Miniaturrevuehäusern auswachsen, gibt es wiederum erst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Berlin.

Bis dahin gab es nur ein ziemlich scheußliches Tingeltangel – oft Café chantant genannt –, das mit der Prostitution mehr zu tun hatte als mit erotischer Kultur, geschweige denn mit Montmartrestil oder der Heurigenpoesie der Wiener Volksgärten. Der Münchener Witz nannte die Chansonetten dementsprechend »Schamstdinetten ... «.

Das Tingeltangel war eigentlich dazu angetan, das galante Leben der Berliner zu senken. Irgendeine Rolle bei der Bildung der öffentlichen Meinung spielte es auch nicht, da es über das Niveau der Stammtische nicht hinauskam, selbst wo es einmal politisch wurde. Und irgendeine dichterische Form, wie sie die Pariser Chansonniers fanden, suchte es überhaupt nicht.

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Th. Th. Heine:
Lola Barrison in ihrer Unschuldsklage

Das zündende Couplet war lediglich in der alten Berliner Posse zu Hause, die sich von der Erotik uns Galanterie seht fern hielt. Auch in Witzblättern lebte es nicht: dafür aber in den Wiener und Pariser Operetten, die nach Berlin kamen. Und in diesen war allerdings eine gewisse Anmut und galante Gebärde.

Das Tingeltangel aber blieb auch in seinen Versuchen, galant und erotisch zu sein, ziemlich spießig, und die Tingeltangelmuse war eine Animiermamsell, die dem Bürger zwinkernde Hoffnungen machte – durch eindeutige Liederchen und lächerlich stereotype Tanzgesten – Hoffnungen, denen er schon wegen seines schmalen Geldbeutels nicht nachgehen durfte.

Oben in der Friedrichstadt – in einer Querstraße vor dem Bahnhof Friedrichstraße – befand sich vor allem die berühmte »Academy of music« des smarten Yankees Benny Moore. Er fuhr, gelähmt, im Rollstuhl durch sein Etablissement und wies allzu laute Gäste darauf hin, daß hier kein Tingeltangel sei, sondern eine »Academy of miuusiek«, wobei er auf dem U gefühlvoll verweilte.

Die meist ziemlich feudalen Stammgäste spielten sozusagen mit. Der Hausschlager des Repertoires war das berühmte Opodeldok-Lied, das von einer strammen schwedischen Diva angestimmt und vom gesamten Chorus begleitet wurde. Dieses Lied bekam immer neue Verse, und diese Verse waren – das muß man leider sagen – so frei, daß der Rotstift des Zensors, wenn dieser sie überhaupt zu sehen bekommen hätte, wahrscheinlich noch roter errötet wäre als er ohnehin schon war. Äußerst berühmt war auch das parodistische Solo vom »boxenden Känguruh«, das ein richtiger Leutnant von den »Tempelhofer Husaren« – also vom Gardetrainbataillon – auf dem Podium mit erschütternder Bravour verübte.

Die Sektzimmer dieser Tingeltangel waren selbstverständlich der Ort zweifelhafter Freuden, und wenn die Ansicht, daß Sekt und Austern das Körpergewicht zunehmen lassen, richtig ist, so bestätigte sie sich durch die Tatsache, daß die blonden und brünetten Nachtigallen dieser Singe- und Sektstätten meist sehr üppige Huldinnen waren.

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Th Th. Heine: Lola Barrison in ihrem Halbjungfrau-Tanz

Die Namen dieser Tingeltangel sind heute verschollen. Wer weiß noch vom » Reichsadler, wo manche Herren Großschlächter und Viehkommissionäre ihre galanten Zerstreuungen gesucht haben sollen. Der kurzbeinige kleine Wirt war einst Inhaber eines Würzburger Mensurlokals gewesen.

Der Musenstall der »Mutter Klara Maehr«, die so etwas wie eine würdige Nachfahrin der berühmten »Mutter Graebert« war, versammelte mehr kleinbürgerliche Besucher. Der sogenannte bessere Besucher war eine Sensation. Der Droschkenkutscher, der eines Tages einen solchen feinen Fahrgast vor dem Tingeltangel ablud, äußerte: »Wenn Klara det sehen würde, wie Sie mit meine Droschke bei ihren Tempel vorfahren, war' se stolz wie'n Spatz uffm Roßappel ... «

Auch der frühere Schlächtermeister Louis Beu in Berlin N hatte sich mit einem Tingeltangel etabliert. Es ging die Rede, daß er auch die Engagements in diesem seinen neuen Geschäft – und zwar die der Sängerinnen – nach dem Fleischgewicht abschließe. Die Lage seines Etablissements im Quartier latin führte ihm nicht wenig Kundschaft von der Alma mater zu,

die selbstverständlich mit ihm allerlei Witze machte. Hierbei führte ein äußerst erfinderischer Mediziner, der es später zum Generaloberarzt brachte, und der eines Tages Herrn Beu dazu zu bringen wußte, sich eines Abends als Extranummer auf dem Podium unter den Klängen der Hauskapellen von seinem »Schnutenfeger« – wie der Berliner den Friseur nennt – rasieren zu lassen.

Diese Anekdoten aus dem alten Berlin scheinen erfreulicherweise darauf hinzuweisen, daß selbst in dieser galanten Atmosphäre der Berliner vielleicht meist weniger erotisch als ulkselig gestimmt wurde.

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Die Saharet tanzt ihre eigenartige Kankan-Linie.

Die alten Tingeltangel sind nun fast ganz verschwunden. Von ihnen wurde eines in der Ziegelstraße zum Sargmagazin! Das Heim der »Mutter Maehr'' bezog später die Heilsarmee. Um das Oranienburger Tor herum, in der Weinmeisterstraße, am Schlesischen Bahnhof, am Kottbuser Tor nur noch fristete und fristen einige ein freudloses Leben und parodieren sich nur noch selber.

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Anna Held in ihrer charakteristischen Brettlpose. (Um 1900)

Um 1895 begann die Zeit, in der die großen Varietes zuerst französische, spanische, englische, amerikanische Soubretten und Tänzerinnen herausstellten. Auch das aber wurde mehr internationaler Einschlag in das Berliner Amüsierleben, als daß es sich in das Berlinische umgesetzt hätte.

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Die Otero: Frou-Frou und die Entdeckung des schönen Frauenbeins (Um 1900)

Immerhin stellten die Otero, Tortajada, Cléo de Merode, Anna Held, die von Franz von Lenbach gemalte Saharet, erotische Typen hin, die der Berliner noch nicht gesehen hatte, und die der galanten Phantasie Beispiele tanzender und singender Frauen gaben, denen gegenüber die Grazien der Berliner Tingeltangel überaus schlecht abschneiden mußten. Tatsächlich wirkten diese fremden Frauen und ihre Kunst stark auf die Hebung des galanten Geschmacks, und das Berliner Tingeltangel begann leise auch bei seinen Stammgästen in seiner bisherigen Form so lächerlich zu werden, wie es das verdiente.

Die kleinen Musenhallen im Norden und Osten verödeten, und die Stammkundschaft, wo sie nicht ganz ausblieb, wurde mindestens nicht vornehmer. – Die großen Varietés, die schöne ausländische Frauen und bunte Ausstattungsstücke zeigten und ausländische Tänze importierten, blühten um so mehr. Der Wintergarten und das Apollotheater feierten mit ihren Programmen glänzende Erfolge, wie sie früher das Adolf-Ernst-Theater und das Zentraltheater mit ihren Tanzpossen gefeiert hatten.

Trotzdem fühlte der Berliner, daß ihm etwas fehlte. Die junge Weltstadt verlangte nun einmal etwas anderes als die von sogenannten Chansonetten bevölkerten Podien der Singspielhallen der Elsasser Straße. Die naturalistische Literatur hatte zudem das wirkliche Elend dieser Welt ziemlich scharf abgemalt und diese anscheinend so lustige Welt entgöttert, und auch der pathetisch-romantische Berliner Dirnenroman hatte diesem Berliner Quartier latin am Oranienburger Tor nicht den leisen Bohêmezug wiedergeben können, den es immerhin einmal besessen hatte.

Das Berliner Tingeltangel war schon tot, ehe es starb. Der Berliner lief in die großen Varietés, wo er ausgezeichnete Artistik und immer ein paar internationale Tanz- oder Soubrettenstars nicht nur zu hören, sondern vor allem zu sehen bekam, die in einem wogenden Geriesel ungeheurer Spitzendessousmengen sehr viel leuchtendes Fleisch sehen ließen, und zwar in Dimensionen, die zu dem international damals anscheinend sehr gefragten Riesenmaß der Leiber solcher Varietésterne durchaus im gegebenen Verhältnis standen.

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(Lustige Blätter 1909.) Chansonette Berlin N.
»Ich laß mich nicht verführen,
Ich könne die Manüren,
Dazu bin ich zu schlau,
Dör Männa ganz k'nau!«

Die Musik, zu der die Tingeltangelsterne der Vorstadt tanzten und sangen, war immerhin schon galant, und wenn man will, sogar erotisch gefärbt – die Texte aber bewegten sich zwischen sentimentaler Verlogenheit:

»O Theodor, mein Troubadour,
Kennst du das Wort l'amour ...?«
oder gereimter Eindeutigkeit:
»Ich laß mich nicht verführen –
Dazu bin ich zu schlau!
Ich kenne die Manüren
Der Männer zu genau –!«

Wobei dieser Refrain im dritten Verse so vorgetragen wurde, daß man ziemlich bestimmt annehmen durfte, daß diese Verführung bereits im vollen Gange sei.

Das Tingeltangel war eine Vorstadtangelegenheit, und zwar eine trostlos üble geblieben und lebte schließlich nur davon, die Typen und das Repertoire der großen Varietébühnen schlecht zu kopieren.

Um diese Zeit begann man aber, zunächst in den Zigeunercafés, zu sprechen und in der Presse davon zu lesen, daß in Paris auf dem Montmartre sich eine stellenweise sehr freche, aber dabei sehr graziöse und witzige dichterische und musikalische Kleinkunst in sogenannten Kabaretts auslebe, wo junge Maler, Musiker und Poeten ihre Dachstubenpoesien politischer, erotischer und grotesker Art in kleinen Montmartrekneipen unter großem Zulauf Abend für Abend am Klavier und zur Laute auf die zahlenden Spießer und auf höchlichst ergötzte Fremde losließen.

Deutsche Schriftsteller, Maler und Musiker, die durch diese Montmartreluft gegangen waren, waren der sehr richtigen Meinung, daß das Münchener Schwabing und die Berliner Ateliers, wo man ja auch mit Hilfe von ein paar alten bunten Decken und papierschnitzelgefüllten Kissen den jeweiligen Göttinnen dieses Ateliers Liebesthrone errichtete, durchaus auch eine Welt seien, in der solche Lieder und Gesänge entstehen müßten, wenn man sich nur Mühe gäbe.

Otto Julius Bierbaum erhob alsbald in seinem humoristischen Roman »Stilpe« den Schrei nach dem literarisch-künstlerischen Varieté, und Ernst von Wolzogen fand den Namen und sogar die Geldgeber dafür und inaugurierte das »Überbrettl«, und zwar im Januar 1901 im Sezessionstheater am Berliner Alexanderplatz, der durchaus nicht Montmartre, sondern eine dem hastenden Berliner bis dahin höchst odiöse Gegend war.

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Zille: Walzertraum in der Elsasser Straße:
»Leise, ganz leise klingt's durch den Raum,
Liebliche Weise, Wa – halzertraum!« (1908)

Dieses »Überbrettl«, um das sich sofort ein ganzer Heerbann werdender Dichter, Maler und Musiker scharte – außer Ernst von Wolzogen selber Hanns Heinz Ewers, Hans Brennert, Artur Pserhofer, Hans Hyan, Hans Ostwald, Edmund Edel, Oskar Straus, Viktor Holländer, James Rothstein, Bogumil Zepler und später Leo Fall – schlug das alte Tingeltangel vollends tot. Es war die Wiege des Berliner Kabaretts. Ernst von Wolzogen hatte nur das eine übersehen – oder aus künstlerischem Ehrgeiz nicht sehen wollen – daß diese neue zehnte Muse vielleicht doch das Milieu des Montmartre lieber in der Weise auch in Berlin erstehen lassen müßte, daß die Gäste an kleinen Tischen wie in Paris gleichzeitig rauchen und kneipen konnten. Ernst von Wolzogen aber wollte ein Kleinkunsttheater von gesellschaftlicher Haltung schaffen, mit gestuften Eintrittspreisen. Trotz einer sensationellen Tournee, die ihn durch ganz Deutschland führte, kamen schon im nächsten Winter die Leute nicht in sein neues, bunt und bizarr erbautes Theater in der Köpenicker Straße.

Die Münchener »Elf Scharfrichter«, die im selben Jahre in der Münchener Türkenstraße ihr Gerüst völlig im Montmartrestil aufgeschlagen hatten, waren so gescheit gewesen, es zugleich eine Künstlerkneipe sein zu lassen. Und der »Hungrige Pegasus«, wo Peter Hille thronte, in der Berliner Markgrafenstraße und später bei Dalbelli unweit der Potsdamer Brücke, stellten sich auch in die Atmosphäre von Tabakrauch und klirrenden Gläsern auf kleinem Tisch – ebenso die »Silberne Punschterrine« von Hans Hyan sowie der »Siebente Himmel« von Georg David Schulz im Colsterschen Weinrestaurant in der Kantstraße, wo Marietta di Rigardo, die spätere Gattin Ludwig Thomas und von Slevogt gemalt, spanische Tänze vollführte. Überall Kabarettstimmung, die um so höher stieg, je kleiner der Raum und je enger die Menschen saßen.

Selbstverständlich wirkten alle diese Anfänge der Berliner Kabarettkunst auch auf das galante Leben. Die lebensfrohe Auffassung und künstlerische Gestaltung aller dieser Ausschnitte aus dem neuen Berlin und seinen verliebten Abenteuern und seinem Zigeunertum wirkte bestimmt nicht gerade sehr vertiefend auf die Besucher und Mitläufer dieser kleinen Künstlerbrettl. Aber sie setzt an die Stelle der rohen und dilettantisch gereimten Berliner Tingeltangelgesänge eine oft witzige und dichterisch und musikalisch immer gekonnte Kleinkunst, deren Philosophie sich selbstverständlich immer mit dem süßen Mädel und der jungen Frau huldigend beschäftigte und nur einen Fehler hatte, nämlich den, auch die Dirne, und zwar die dämonische, die es auf dem Berliner Montmartre gar nicht gab, balladesk zu besingen.

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Edmund Edel:
Plakat fürs erste Überbrettl. 1901.

Die Zeitgenossen jener Tage konnten eines aber deutlich sehen, wie die Kabaretttype und ihr Repertoire in die Salons und in die geselligen Kreise drang, wie sie dort leise den bisherigen spießigen Amüsierstil verwandelte, und wie sich die galanten Beziehungen begannen in dem neuen Kabarettstil auszuleben.

Die Berliner hatten eigentlich einmal auch schon Ansätze zu solchem Kabarett, allerdings auf berlinische Art, gehabt. Wer als echter Berliner noch in den Jahren 1885 bis 1895 ein wenig Bescheid wußte, kannte solche kleinen Kneipgemeinden, deren Teilnehmer sich in höchst gelungenen und zum Teil hochwertigen dichterischen und musikalischen Improvisationen ganz unter sich belustigten, nicht vor geladenem Publikum oder gar mit Damen. Der Deutsche Reimverein, der am Tegeler See in einem Landhause tagte, mit Julius Stinde und Heinrich Seidel und »Hunold Müller von der Havel«, die » Sammetbrüder« in der Jägerstraße, wo einfach alles einmal einkehrte, wo Georg Engels und Otto Erich Hartleben, Wißmann und Albert Niemann sich sehen ließen, die berühmte »Blaue Zwiebel« und der »Verein Tyll Eulenspiegel«, waren harmlose und etwas spießige Ansätze einer Berliner Kabarettkunst, die aber nicht aufgingen, weil sie zwar viel Geist und Witz und Lebenslust atmeten, aber doch den Anschluß an das neue künstlerische Berlin nicht fanden und vor allem die erotische und galante Atmosphäre ausschalteten, die dem neuen Berliner Kabarett zu seinem Erfolge verholfen.

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Einladung zum ersten Musenstallabend

Das 1901 entstandene Überbrettl Wolzogens, das eine reizende Mischung von sanftem Biedermeier und Münchener Faschingslust war und leider vielleicht zu sehr die berlinische Note ausließ, bedeutete zugleich eine Belebung des Stiles der öffentlichen Bälle. Der letzte Erfolg Wolzogens war seine echte Münchener Redoute in seinem neuen Theater, wo die Berliner Damen zum ersten Male die Kußfreiheit erlebten, die allerdings sich noch sehr zurückhielt.

Überhaupt kam durch das Überbrettl ein Schuß Münchener und Wiener Lebenslust in die Berliner. Auch die jungen Schauspieler um Max Reinhardt hatten etwa gleichzeitig mit Wolzogen Brettlabende im Künstlerhause unternommen, die aus dem von Max Reinhardt begründeten Klub »Brille« in der Flensburger Straße unter dem Namen »Schall und Rauch« sich zum Preise von zwanzig Goldmark an die zahlungsfähigeren Leute wandten und nicht nur ausgezeichnete Parodien boten, in denen Max Reinhardt selber als König Philipp mitwirkte, sondern auch in den schönen Räumen des Künstlerhauses tolle Nächte voll Flirt, Zigeunermusik, zärtlicher Leidenschaft und allerlei Herzensirrungen heraufbeschworen, die oft erst endeten, wenn durch die geöffneten Fensterportieren der blaue Tag in den eben noch glühbirnenstrahlenden Saal fiel.

Die jungen Schauspieler Rudolf Bernauer und Paul Meinhard – der letztere auch einst ein »Seher« der Brille – taten sich auf eigene Faust auch zu einer solchen Faschingsgesellschaft mit anderen Kunstgesellen zusammen, ebenfalls im Künstlerhause, und taten solches unter dem Namen »Böse Buben« und verübten allerlei lustige Streiche. Aber sie sprengten den engen Rahmen dieser Künstlerhausabende und taten den »Ball der bösen Buben« in der Philharmonie auf, wo sich alle Gebundenheit der Berliner löste mit einer Ausgelassenheit, wie sie in Berlin auf öffentlichen Bällen der sogenannten besseren Kreise bestimmt noch nicht dagewesen war. Nicht die vielen zum Theater und zur Mode und zur Kunst gehörigen ledigen Frauen waren es ja, die diesen Bällen zuerst das Gepräge gaben, sondern gerade die Emanzipation der Damen vom bisherigen eleganten Ballstil und ihre Hingabe an das tolle Hin und Her, das sich aus dem auch kostümmäßig vorgeschriebenem Auftreten als »kleines Mädel« und aus der strudelnden Enge der überfüllten Logen, Foyers, Nischen, Ecken, halbfinsteren Treppen zum Bockbiertunnel ergab und über die Maskenfreiheit des alten Berliner Karnevals sich ebenso erhob wie über alles, was überhaupt auf Künstlerfesten und selbst freieren Tanzfesten oder gar an öffentlichen Bällen bis dahin in Berlin gewesen war.

Diese aus den Brettlspielen im Künstlerhause erwachsenen Bälle haben zweifellos das galante Leben von Berlin in seiner heutigen Form stark mitbestimmt. Allerdings wurden sie später eine mehr geschäftliche Angelegenheit und verloren sich leider sogar in eine Atmosphäre, die keine gesellschaftliche mehr war.

Die Kabaretts aber, unter denen die von Rudolf Nelson und Schneider-Duncker begründeten »Der Roland von Berlin« und »Schwarzer Kater« alsbald die Führung übernahmen, schossen nach dem Jahre 1902 immer üppiger am Rande des Berliner Asphalts auf. Die Berührung mit Montmartre und Schwabing und diese seltsame künstlerische und bohêmemäßig bestimmte Erotik ging dabei schnell verloren, und es entwickelte sich ein Kabarett, das dafür mehr berlinisch bestimmt und von den Neigungen und Sehnsüchten jener Welt bestimmt war, die zur selben Zeit anfing, sich im Gentstil oder in der Ladylinie zu kleiden, auch wenn man nur ein kleiner Verkäufer am Hausvogteiplatz oder ein Mannequin aus der Kronen- oder Mohrenstraße war.

Das Kabarett hat sich konfektioniert – nicht nur durch seine Besucher, sondern auch für seine Besucher – indem es sich nämlich allmählich eine ganz bestimmte erotische Phantasie und galante Einstellung zulegte, die es in unzähligen textlich oft gut geschliffenen Chansons ausprägte. Alle diese Chansons suchten sich immer wieder dem letzten Tanzmusikstil anzuschmiegen und in seinen Rhythmen sich zu ergehen: ob es der Cakewalk, der Twostep, der Tango, der Milonga, der Fox oder der Shimmy war.

Die galante konfektionierte goldene Jugend tanzt zugleich diesen Kabarettstil und findet sich und führt ihre Liebeskriege und lebt ihre galanten Idylle mit dem letzten zärtlichen Kabarettschlager und dem letzten Chansonreim auf den Lippen aus.

Um 1925 ist der Höchststand in der Zahl dieser Berliner Kabaretts bisher wohl erreicht. Ob es auch ein Höchststand in der Erziehung zur feineren Galanterie ist, steht dahin. Die Dichter und Musiker dieser seltsam erotisch so angeregten Welt scheinen sich ziemlich erschöpft zu haben, soweit das Chanson in Frage kommt. Es ist sowohl der sentimentale Kitsch schon wieder zu hören, wie auch die Zote im Refrain in breiter Front wiedergekehrt ist.

Es hat sich eine richtige dichterische Kabarettkonfektion entwickelt, deren Geschäft lediglich meist auf eine Schlagzeile des Refrains gestellt ist, deren Wortlaut meist dem Jargon des konfektionierten erotischen Verkehrs entnommen ist.

Diese Erzeugnisse haben mit dem Kabarett nur noch insofern etwas zu tun, als sie in intimeren Vortragsräumen vom Brettl herab unter anspruchsvoller Ankündigung vorgetragen werden und sich wiederum nur an den Spießer – und die Spießerin – wenden, die ja auch, und dort besonders reichlich, unter der sogenannten Lebewelt zu finden sind, und man wird nicht viel Unterschied finden zwischen den Ansprüchen dieser Kabarettbesucher und denen der zahlenden Gäste, die vor einem Menschenalter vor den Brettln der Elsasser Straße saßen.

Trotzdem hat Berlin ein künstlerisches Kabarett. Die großen Kabaretts in den Dielen des Weidenhofes, im Nelsontheater, im »Größenwahn«, im »Kabarett der Komiker« und in der »Rakete« sind der Rahmen für oft sehr witzige Darbietungen allererster Künstler und Menschendarsteller und eine Satire, die sich nicht nur mit dem galanten Leben, sondern auch mit politischen und sozialen Dingen kräftig auseinandersetzt.

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Einladung zum ersten Bösen-Buben-Ball

Ohne die galante Atmosphäre sind sie aber in dieser Welt um den Kurfürstendamm zwischen monströsen Kinos und überfüllten Tanzpalästen nicht denkbar. Um neben ihnen, die eine Annäherung zwischen den Geschlechtern ohne die Umstände dichterischer und musikalischer Vorträge vermitteln, im Wettbewerb sich behaupten zu können, beginnen die führenden Kabaretts schon zu kleinen Revuen überzugehen, in denen nicht nur die Tagesereignisse, sondern auch schöne Frauen in ebenso witziger wie durchsichtiger Aufmachung im Bühnenausschnitt erscheinen, während im Zuschauerraum die Sektgläser klingen und die in der Revue gesungenen und getanzten Liebesphilosophien auf ihre Verwendbarkeit für die zwischen den im Parkett und in den Logen bestehenden Beziehungen nachsichtig geprüft werden. Und es ist ein weiteres Zubehör dieses neuen Kabarettstils, daß nach der Vorstellung die Gäste entschlossen zum Tanz übergehen.

Die Tingeltangel vor dreißig und mehr Jahren standen neben Tanzsälen im Norden, wo Studenten oder Handlungsgehilfen oder junge Offiziere mit den Vorstadtfräuleins oder Grisetten tanzten. Das Kabarett von heute steht zwischen Tanzpalästen im Westen, in denen Gesellschaftstänze in mondäner Aufmachung – nicht nur vor der Jeunesse dorée und der Lebewelt – gezeigt werden, und nicht allein die galante Kultur hat feinere Züge bekommen, sondern auch das Brettl – auf der anderen Seite entartet – sucht mit neuen künstlerischen Mitteln und durch neue Formen auf das galante Leben zu wirken.

Dieses galante Leben, das ja in der Hauptsache ein Nachtleben ist, gehört gewiß nicht zu den Lichtseiten einer Stadt, die nicht nur eine Stadt der Arbeit, sondern auch eine Stadt tiefen Elends ist. Aber dieses galante Leben im Westen ist nur in seiner materiellen Qualität verschieden vor dem im ärmeren Osten und Norden, die auch ihre Kabaretts haben.

Die erotische Illusion, hervorgerufen durch singende und tanzende Frauen oder weltmännische und witzige Darsteller im Rahmen einer scheinwerferhellen Bühne, wird immer und überall ihre Erfüllung suchen, besonders in der Weltstadt, wo Hunger und Liebe in Millionen Gestalten nebeneinander hausen.

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Moderne Varieté- und Tanzstätten- Tänzerinnen.
Beispiel für die theatralischen, süßlichen Kabarettdarstellungen, wenig beeinflußt von Körperkultur.


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